Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Jubilate, 17. April 2005
Predigt über Johannes 16, 16-23a, verfasst von Wilhelm v. der Recke
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I. 12 % der Westdeutschen und 24 % der Ostdeutschen wünschen sich die Mauer zurück. So war es vor ein paar Tagen in der Zeitung zu lesen. Ein Buchtitel spricht sogar von der Wiedervereinigung als „Supergau“. – Man traut seinen Augen nicht, wenn man so etwas liest. Die Bilder vom 9. November 1989 stehen noch lebendig vor Augen: Spätabends wurde ganz unerwartet die Mauer geöffnet. Was für ein Freudentaumel! Was für unbeschreibliche Szenen des Wiedersehens und der Verbrüderung. Die ganze Welt verfolgte gebannt am Bildschirm, wie der „Eiserne Vorhang“ niedergerissen wurde. Es war wie der Anbruch des Goldenen Zeitalters, wie Ostern.

15 Jahre später stellen wir fest: Die Mauer ist weg, der tiefe Graben ist geblieben – vor allem im Herzen zwischen „Ossis“ und „Wessis“. Da werden noch große Anstrengungen nötig sein, noch viel Geduld und guter Wille.

Mit Ostern sieht es nicht sehr viel anders aus: Jesus, der sich von allen verraten und verkauft fühlte, selbst von seinem Vater und seinen Freunden verlassen; Jesus, der schmählich am Kreuz endete. - Dieser Jesus ist zu neuem, unvergänglichem Leben erweckt worden.

Das Wunder ist so groß wie unerwartet. Seine Anhänger können es nicht wirklich fassen. Sie sind erleichtert, sie sind hoch erfreut. Und gleichzeitig sind sie zutiefst erschrocken; sie haben Angst, sie zweifeln, sie sind ratlos.

Die Wiedervereinigung ist eine Erfolgsstory – trotz allen Geredes.
Ostern ist eine Erfolgsgeschichte – trotz aller zaghaften und mühsamen Anfänge, die folgen. Und später trotz aller Anfeindungen und Bedrohungen von außen; und trotz aller Streitigkeiten und Richtungskämpfe im Inneren. Als 300 Jahre später das Römische Reich auseinander bricht, ist die junge Kirche die vitalste gesellschaftliche Kraft. Heute ist das Christentum die größte Weltreligion.

Was für den Fall der Mauer gilt, trifft in weit höherem Maße auf Ostern zu: Mit den Folgen sind wir noch lange nicht am Ende.

(Verlesung des Predigttextes)

II. Sieben mal ist die Rede von der „kleinen Weile“: Über Kurzem werdet ihr mich nicht mehr sehen, über Kurzem werdet ihr mich wiedersehen. Was meint Jesus damit? - Meistens denkt man dabei an den Zeitraum Gründonnerstag – Karfreitag – Ostern. Es ist schwer vorstellbar, dass wegen dieser drei Tage so viel Aufhebens gemacht wird – gerade wenn man bedenkt, dass das Johannes-Evangelium erst Jahrzehnte später aufgeschrieben worden ist. Das Fragen und Rätseln der Jünger nimmt eine Situation aus der frühchristlichen Gemeinde voraus. Der Blick geht hier schon über Ostern und Himmelfahrt hinweg bis zu der Wiederkunft Christi – zu dem Tag, an dem Ihr fraglos glücklich sein werdet.

Wenn die Christen nicht von Anfang an das Ende dieser alten Welt ins Auge gefasst hätten, wenn sie nicht mit der Wiederkunft Christi gerechnet hätten, dann wäre ihnen bald die Luft ausgegangen. Niemand kann so viele Anstrengungen, Strapazen und Opfer auf sich nehmen und sogar das eigene Leben auf’s Spiel setzen, - wenn es nicht um mehr gegangen wäre, als um eine neue Religion und eine bessere Lebensphilosophie, - wenn nicht mehr auf dem Spiel gestanden hätte als nur die Frage: Welche Moral ist gut für das Zusammenleben? Welchen Sinn gebe ich meinem Leben?

Genau an dieser Stelle aber liegen heute unsere Schwierigkeiten mit dem christlichen Glauben, besonders für uns im „Alten Europa“. Wir sind dabei, alle Zukunftserwartungen über Bord zu werfen: Angefangen mit der Hoffnung auf die persönliche Auferstehung bis hin zu der Gewissheit, dass Jesus wiederkommen wird, um das Reich Gottes endgültig aufzurichten. „Wir“ – das sind nicht nur die Außenstehenden, die oberflächlichen Christen; dazu gehören inzwischen viele ernsthafte Christen, wenn nicht alles täuscht auch unter den Pastoren.

Woran liegt das? An unserem aufgeklärtem Weltbild, an den naturwissenschaftlichen Erklärungen, die wir für alles haben? Als Antwort reicht das nicht. Warum sonst sehen die Verhältnisse in den USA ganz anders aus? Warum findet man unter hochgebildeten Physikern, Chemikern und Astronomen nicht weniger glaubende Christen als in der übrigen Bevölkerung?

Wahrscheinlich liegt es weniger am Weltbild, als an unserem Zeitgefühl, dem „Zeitgeist“: Irgendwie passen solche Zukunfts-Erwartungen nicht in unsere Zeit. Sie sind nicht mehr einleuchtend, sind nicht plausibel. Sie sagen uns nichts - sie beunruhigen uns so wenig wie sie uns beflügeln.

Wir haben resigniert. Wir finden uns ab mit einem begrenztem Lebenshorizont. Dafür versuchen wir aus den 70, 80, 90 Jahren so viel zu holen, wie irgend möglich ist. Mehr erwarten wir nicht. – Dieses Zeitgefühl steckt uns allen in den Gliedern, auch wenn wir uns dagegen wehren, wenn wir uns nicht damit abfinden.

Wie konnte es zu dieser Kraftlosigkeit des Glaubens kommen? – Ich nenne einen Grund, und es gibt wahrscheinlich noch andere Gründe: Wir sind aufgewachsen mit bestimmten Bildern vom göttlichen Heilsgeschehen, angefangen mit Adam und Eva im Paradies bis hin zum verheißenen Himmlischen Jerusalem. Die Bilder stammen aus Kinderbibeln, aus der mittelalterlichen Malerei in Kirchen und Museen, aus den Sprachbildern der alten Kirchenlieder.

Diese Bilder haben sich im Kopf festgesetzt - etwa die Vorstellung, wie die persönliche Auferstehung aussehen könnte, oder der Zusammenbruch der gegenwärtigen Welt, oder die Wiederkunft des Herren, oder das Endgericht. Mit diesen sehr anschaulichen Bildern können wir heute wenig anfangen. Sie sprechen uns nicht an. Sie lösen weder Freude noch Schrecken aus, weder Hoffnung noch Furcht aus. Sie kommen uns kindlich, museal, vergangen vor.

Das ist die eine Seite – die andere Seite aber ist: Wenn wir nichts mehr von der Zukunft erwarten, so wie Jesus sie verheißen hat; wenn wir nicht mehr darauf hoffen, individuell auferweckt zu werden; wenn wir nicht mehr daran glauben, dass der wiederkommende Herr eines Tages einen neuen Himmel und eine neue Erde errichten wird, in denen Gerechtigkeit wohnt, - dann geben wir nicht nur irgendeine eher nebensächliche christliche Lehre auf. Dann verzichten wir nicht auf einen x-beliebigen Baustein aus dem Gebäude des Glaubens. Nein, dann lösen wir den Schlussstein heraus, der das Gewölbe zusammenhält. Dann bricht unweigerlich alles in sich zusammen. Dann verfällt das Gebäude, dann werden Wind und Wetter es abtragen. Dann starren wir nur noch in den leeren Himmel.

Christlicher Glaube, der nicht mehr an die Zukunft glaubt, hat keine Zukunft. Ein Glaube, der von Gott nicht noch ganz große Dinge erwartet, hat weder Antrieb noch Kraft noch Ausdauer. Er meint, das Wesentliche sei ja passiert. Wozu muss man sich dann noch anstrengen?

Wenn etwas typisch ist für den biblischen, den christlichen Glauben, dann ist es die ungeheuere, vorwärtsdrängende Dynamik. Wir glauben eben nicht an die ewige Wiederkehr des immer Gleichen, wie es in vielen östlichen Religionen geschieht. Wir setzen auf die Veränderung, die Erneuerung der Welt und eine bessere Zukunft. Am Ende wird Gott tatsächlich alles gut machen!

III. Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen. Und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen. In dem Bibelabschnitt, über den wir hier nachdenken, sagt Jesus noch mehr zu dem, was auf die Jünger und auf uns Christen zukommt. Er spricht über die lange Zeit des Wartens. Und er spricht darüber, was uns danach erwartet; genauer gesagt: w e r uns erwartet. Was er sagt, klingt gar nicht so fremd. Er knüpft an Erfahrungen an, die wir kennen und die uns den Glauben an seine Wiederkunft leichter machen.

Es gibt keine langen Zeiten des Wartens ohne Schmerzen. Jesus nimmt als Vergleich die Geburtswehen einer Frau. Ohne solche Wehen erblickt kein Mensch das Licht der Welt.

Ehe Jesus selbst zu Ostern vom Tode erweckt worden ist, musste er die Wehen des Karfreitags durchleiden. Am schmerzhaftesten hallt sein Ruf in den Ohren: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.

Im Blick auf die Wiederkunft Christi und die neue Welt, die er heraufführt, wird im Neuen Testament mehrfach von den „Wehen der Endzeit“ gesprochen; von unerträglichen Schrecken und Leiden, durch die die ganze Schöpfung hindurch muss.

Das gilt auch für das Leben eines jeden Menschen und jeden Christen:
Der französische Schriftsteller André Gide spricht davon, dass Krankheiten geheime Tore seien zu Erfahrungen, die wir sonst nicht machen könnten. Nicht wenige Menschen haben Schlimmes erlebt – Schicksalsschläge, Krankheiten, Trennungen. Was aber für den Außenstehenden schwer nachvollziehbar ist: Sie möchten es vielleicht nicht noch einmal erleben, aber sie sind im Nachherein dankbar dafür. Sie sind dadurch innerlich gewachsen und gereift. Ihr Leben hat unter dem Leiden eine sonst kaum vorstellbare Qualität gewonnen.

Diese Erfahrung muss der Glaube auch machen. Luther sagt, dass man ohne Anfechtungen keine tiefen geistlichen Erfahrungen machen kann. Aber Anfechtung ist ja gerade die schmerzliche Erfahrung, dass unser Glaube enttäuscht wird, dass er schwankt und schwindet. Und genau dieses kann heilsam sein, weil es wehe tut, weil es Kraft und Geduld kostet. Manchmal kann man nicht anders, als blind am Glauben festzuhalten, als sich an Gott zu klammern und mit ihm zu ringen, so wie Jakob am Jabbok mit Gott gerungen hat. Am Ende hinkt er zwar, aber er hat Gott nicht losgelassen. Er hat sich den göttlichen Segen geradezu ertrotzt: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!

Durch Anfechtungen muss jeder Christ für sich hindurch, aber nicht selten auch ganze Kirchen und Gemeinden, das heißt alle zusammen. Keiner muss sich deshalb schlechte Zeiten wünschen. Sie kommen von ganz alleine. Aber wenn sie eintreffen, dürfen wir darauf vertrauen: Gerade auf diesem Weg können wir etwas von der Gegenwart Gottes zu spüren bekommen.

Die Gegenwart Gottes hat mit der Person Jesu zu tun. In den Abschiedsreden bei Johannes, aus dem unser Predigttext stammt, vermeidet Jesus allzu bildhafte Vorstellungen von dem, was uns die Zukunft bringt. Er malt eben nicht aus, wie es sich im Einzelnen mit der Auferstehung verhält; wie sich seine Wiederkunft ereignen wird; wie das Himmlische Jerusalem aussehen wird. Alles das, was uns heute Schwierigkeiten bereitet, sagt er eben nicht; das was wir uns schwer vorstellen können; was vielfach bespöttelt und karikiert wird – etwa mit dem berühmten „Münchner im Himmel“.

Jesus spricht nicht von bestimmten Z u s t ä n d e n , die uns erwarten – er vergleicht den Himmel nicht mit einer Trauminsel in der Südsee oder einem Festgelage aus Tausendundeine Nacht. Er spricht nicht von Zuständen, er gibt keine materiellen Beschreibungen; er sagt es p e r s ö n l i c h : Ihr werdet mich wiedersehen. Und am Schluss: Ich will euch wiedersehen.

Diese persönliche Redeweise liegt uns näher. Wir können sie leichter nachvollziehen. Denn auf Erden gibt es keinen Schmerz, der so groß ist wie der Schmerz beim Abschied von einem geliebten Menschen. Und es gibt keine Freude, die größer wäre, als die Wiedersehensfreude.

Der Gipfel aller Hoffnung in der Bibel ist die Zusage, dass wir die Herrlichkeit Gottes sehen werden im Angesicht Jesu Christi (2.Kor 4,6). Und im berühmten Hohen Lied der Liebe heißt es dazu: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in ein dunkles Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin (1.Kor 13,12).

Dann wird alles gut sein. Bei diesem großen Wiedersehen wird es uns wie Schuppen von den Augen fallen: An dem Tag werdet ihr mich nichts mehr fragen.

Wilhelm v. der Recke
Strichweg 40 a, 27472 Cuxhaven
EMail: Wilhelm.v.der.Recke@ t-online.de

 

 


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