Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Kantate, 24. April 2005
Predigt über Matthäus 21, 12-17, verfasst von Jan Hermelink
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Vor der Predigt:
Eingangslied: EG 447, 1–3. 7–8 [Lobet den Herren / mehrstimmig]
Psalm 118 im Wechsel [EG 747]
Lesung I: Römer 8, 18–27
Lied: EG 276, 1.2.5 [mehrstimmig]
Lesung II: Matthäus 11, 25–30
Credolied: EG 183
Predigt

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus
und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Liebe Gemeinde,

nachdem Sie so viel gesungen haben,
sollen Sie nun etwas zu hören bekommen:
das Evangelium.

Geschrieben steht das Evangelium,
das der Predigt heute vorausgeht,
bei Matthäus, im 21. Kapitel.

Der Zusammenhang.
Jesus ist in Jerusalem eingezogen,
kurz vor dem großen Fest, das er nicht mehr erleben wird.
Die Menge jubelt ihm zu:
„Hosianna dem Sohn Davids!
Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!
Hosianna in der Höhe!“

Und im Evangelium des Matthäus heißt es weiter:

[Lesung Mt 21, 12–17]

Wir haben das Evangelium gehört –
Szenen haben sich entfaltet,
Bilder von den Personen, den Räumen, den Bewegungen.

Es ist wie bei einem Hörspiel: wir hören alle den gleichen Text –
und dann entstehen in jeder, in jedem ganz eigene Bilder,
wie es dort im Tempel zugegangen ist.

Für heute möchte ich bei dem bleiben, was da für zu hören ist.
Denn dieses Evangelium gibt außergewöhnlich viel zu hören –
es ist ein Höreignis: ein Ohrenschmaus.
Und es mag sein, dass wir nicht alles gerne hören,
dass uns die Ohren klingen.

Was ist da nicht alles zu hören!

Zunächst Lärm: Getrappel und Gepolter, umstürzende Möbel;
das Klirren von Münzen; eine Peitsche knallt (so bei Johannes).
Holz splittert, Tauben kreischen.
Stimmengewirr, Protestschreie, Lachen und wütende Rufe.

Geräusche des Umsturzes, der Revolution.
Einige hundert Jahre später hätte man vielleicht Schüsse gehört.

Ein Spektakel? Ein Bibliodrama?
„Mein Haus soll ein Bethaus sein –
Ihr aber habt eine Räuberhöhle, eine Spelunke daraus gemacht!“

Ein Spektakel? Oder eine Ouvertüre für das Ende?
Wenige Jahrzehnte später – Matthäus weiß es –
stürzt der Tempel selbst zusammen:
Sein Dach brennt, der Tempelschatz wird geplündert;
die Priester und Leviten fliehen – oder sie kommen um in den Flammen.
Schreckliche Laute, entsetzlicher Lärm.
Kein Stein bleibt auf dem Anderen.

Jesus stürzt die Tische im Tempel um –
waren das die ersten Anklänge vom Ende des Heiligen Raumes?
Ist da schon zu hören, wie – irgendwann –
alle Kirchen zusammenbrechen?
Vielleicht wird es noch schlimmer;
vielleicht wird dann gar nichts mehr zu hören sein,
weder Lärm noch Gebet.
Bleiben die Kirchen einfach leer?
Stumme Zeugen einer Geschichte, die zu Ende ist?
Oder wird es da noch Protestschreie geben?
Wird jemand weinen, wenn das Haus Gottes zusammen fällt?

Im Evangelium hören wir weiter:
Ein Seufzen, ein leises Jammern von vielen Menschen,
die sich durch den Tempel bewegen.
Ab und zu auch lautes Stöhnen, Schmerzensschreie.
Die Mühe, den gelähmten Körper zu bewegen.
Leise Anweisungen, wohin die Blinden sich zu wenden haben,
im Heiligtum.

Der heilige Raum – erfüllt von lautem und leisem Klagen.

„Und sie kamen zu ihm, im Tempel, und er heilte sie.“

Ob das auch zu hören ist?
Überraschte Rufe? Erleichtertes Seufzen?
Gestammelter Dank? Menschen, die weinen vor Glück?
Bleibt es leise? Oder singt da vielleicht auch jemand, erleichtert, befreit?

Der heilige Raum – erfüllt von lauten und leisen Tönen des Glücks.

Und noch etwas anderes ist zu hören:
Wütende Stimmen, ärgerlich, auf höchste gereizt.
Man merkt: Diese Männer sind es gewöhnt zu reden,
und sie sind es gewöhnt, dass man ihnen zuhört:
Stimmen, die eine Kirche füllen können,
oder einen Hörsaal.
Sie sprechen eine elegante, ausgefeilte Sprache, wohlgesetzte Worte –
nicht unbedingt laut, aber sehr eindringlich.
– und nun gereizt, aus der Fassung, überschnappend:

„Hörst Du auch, was diese sagen?“

Da ist man ihnen ins Wort gefallen, man hat sie nicht ausreden lassen.
Der Gottesdienst ist gestört; die Vorlesung wird unterbrochen.

Hört ihr es? Kindergeschrei, nein: ein Ruf, der sich wiederholt,
eine Mischung von Hebräisch und Griechisch:
„Hosianna dem Sohne Davids“

Heute wäre vielleicht eine Mischung von Türkisch und Deutsch zu hören: „Hosianna dem Sohne Davids“
Ziemlich laut, aggressiv, könnte man meinen –
vielleicht aber auch nur begeistert von den eigenen Stimmen,
wie sie im weiten Raum des Tempels widerhallen.

Da ist viel zu hören in diesem Evangelium –
nicht zuletzt die Stimme Jesu.

Es ist die Stimme, die die Heilige Schrift zitiert:
Prophetenworte vom Haus Gottes, das ein Bethaus sein soll,
Psalmenworte vom Lob Gottes aus dem Munde der Säuglinge.

Und als die Anderen fragen: „Hörst du dieses Kindergeschrei?“
Da sagt diese Stimme sagt: „Ja“.

Es ist viel zu hören in diesem Evangelium.
Manches bleibt uns fremd,
aber manche Stimmen erkennen wir auch wieder.

Vielleicht die Geräusche des Umsturzes,
nicht nur draußen, in der Welt, in der Politik, im Lande,
sondern Geräusche des Umsturzes auch da,
wo wir uns sicher fühlen – im vertrauten Raum,
dort, wo wir ganz bei uns sind.

Lauter Lärm, Protest und Wutschreie –
oder vielleicht auch nur ein leises Klagen,
wenn die Schmerzen kaum noch auszuhalten sind.
Vielleicht erkennen wir auch das wieder.

Wir kennen die Verwirrung, den Ärger, wenn man uns unterbricht.
Und wir kennen das Geschrei von Kindern – aus der Schule nebenan,
aus der Nachbarwohnung – und auch aus dem eigenen Leben.

Dieses Hörspiel des Evangelium läuft auf das Geschrei der Kinder zu;
darum möchte ich hier noch ein wenig genauer hinhören.

Man kann dieses Geschrei offenbar sehr verschieden hören:
man kann sich darüber ärgern – wie die Priester und Gelehrten;
man kann sich daran freuen –
wie die Gemeinde, die die Geschichte weitererzählt hat,
weil sie sich selbst als Kleine, als Unmündige erlebten.

Dieses Geschrei kann man ganz verschieden hören – auch deswegen,
weil es in sich selbst mehrstimmig ist.
Hier mischen sich verschiedene Stimmen,
und es klingt ganz anderes je nachdem, welche Stimme hervortritt.

Mindestens vier Stimmen, vier Melodien höre ich im Mund der Kinder.
Und ich bin nicht sicher, ob sie zusammen passen.

(1) Da ist zuerst einfach der Lärm, lautes, durchdringendes Geschrei.
Ein Echo des Lärms der Tempelsäuberung?
Sind die Kinder begeistert, wie viel plötzlich los ist im Heiligen Raum?
Jedenfalls stören sie die Ordnung der Erwachsenen.
Wenn das Evangelium laut wird,
dann verkehrt sich das Verhältnis von Reden und Zuhören.
Dann weiß der Student mehr als die Professorin.
Aber auch umgekehrt:
Dann ist der Emeritus vielleicht engagierter, lebendiger, lauter
als die Studierenden,
die nur noch Feste organisieren und Probeklausuren verteilen.
Das Schreien der Kinder – es zeigt, wie die gute Botschaft Lärm macht,
wie sie in den Ohren klingt.

(2) Wer genauer hinhört auf das Geschrei der Kinder, der merkt:
Sie wiederholen einen Ruf, den sie kurz zuvor aufgeschnappt haben.
Die Menge, die Jesus voranging, die ihm folgte,
als er in die Stadt einzog,
sie hatte gerufen, sicher laut – sie hatte geschrien, skandiert,
und die Kinder wiederholen nun,
was sie von den Erwachsenen gehört haben.

„Hosianna, dem Sohn Davids“
Das hat im Hebräischen bestimmt einen guten Rhythmus,
das lässt sich gut rufen, schreien,
damit kann man sich gegenseitig anstacheln,
einen Klangraum schaffen.

Im Kindergeschrei ist die Melodie eines begeisterten Empfangs zu hören.
Schreie, Klatschen, und eben auch Rufe,
mit denen der Einzug in die Heilige Stadt begleitet wird.
Ich hatte überlegt, ob wir nicht „Tochter Zion“ singen sollten,
um uns vorzustellen, was hier geschieht:
„Tochter Zion, freue Dich, jauchze laut, Jerusalem ...“
und die zweite Strophe:
„Hosianna, Davids Sohn, sei gesegnet deinem Volk ...“
(übrigens auch mehrstimmig im Gesangbuch!).

Aber das ist, so wie Händel es vertont hat, doch ein anderer Empfang:
eine eher gemessene Begrüßung;
mit Trompeten und Streichorchester –
ein Triumphzug.

Der Einzug Jesu hörte sich, so stelle ich es mir vor, anders an:
ungeordneter, spontaner, begeisterter
mit Rufen, die sich gegenseitig anstacheln,
die man eben auch gut wiederholen kann.

Aber vielleicht ist das auch zu romantisch, zu jugendbewegt gedacht.

Jedenfalls: Was hier im Geschrei der Kinder mitschwingt,
das ist die Melodie einer begeisterten Begrüßung:
eine Stimme voller Erwartung:
„Hosianna, Davids Sohn“.
Die Erwartung ist hier zu hören,
dass nun die Zeit des Heils, die messianische Zeit beginnt.
Dann soll geschehen, was prophezeit wurde –
und es klingt selbst wie ein Lied
(Matthäus hat es im Evangelium zitiert, Kap. 11):

„Dann werden die Augen der Blinden aufgetan,
und die Ohren der Tauben geöffnet werden.
Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch,
und die Zunge der Stummen wird frohlocken.“

Ein Lied, ein Hoffnungslied,
aufgezeichnet im Prophetenbuch des Jesaja (Jes 35, 5f):
Das sind die Töne, die hier mitschwingen,
wenn die Kinder schreien, wie sie es gehört haben:
„Hosianna, Davids Sohn“.

(3) Man kann in diesem Rufen demnach eine dritte Stimme hören,
jedenfalls, wenn man ein wenig schriftgelehrt ist.

Das Geschrei der Kinder ist auch ein Zitat aus der Heiligen Schrift,
etwa aus Psalm 118, den wir vorhin gebetet haben.
Ein Zitat aus der Tempelliturgie, so kann man vermuten:

„Dies ist der Tag, den der Herr macht,
lasst uns freuen und fröhlich an ihm sein!
Hosianna – oh Herr hilf! Oh Herr, lass wohlgelingen!
Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!
Hosianna – oh Herr hilf!
Wir segnen euch, die ihr vom Hause des Herrn seid.“
(Psalm 118, 24–26)

Die Kinder rufen etwas, was sie gar nicht verstehen –
vielleicht ist es das, was die Priester und Gelehrten ärgert.
Da reden Leute, die überhaupt nicht wissen, was sie da im Munde führen ...
da zitiert jemand die heiligen Texte, und merkt gar nicht, was er tut.

Ich finde das allerdings auch tröstlich.
Wir können uns an der Liturgie beteiligen, auch wenn wir nicht wissen, was „Hosianna“ heißt, oder „Kyrie eleison“.
Wir erfassen die Stimmung, den Gestus, auch die Tiefe der Worte –
auch wenn wir sie nicht in ihrer ursprünglichen Bedeutung rekonstruieren können.
Wir singen mit, ein- oder mehrstimmig, und nehmen dabei Worte in den Mund, die wir wohl kaum ganz erfassen, oder gar verantworten würden.
Und sie stimmen trotzdem, oder besser: wir stimmen trotzdem in sie ein.

So ist das auch, wenn wir die Schrift zitieren:
Wir geraten da in eine Bewegung –
„Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn –
wir segnen euch, die ihr vom Hause des Herrn seid“ –
wir geraten in eine große, weiträumige, vielstimmige Bewegung,
die sich immer schon vollzieht,
der wir uns überlassen können, ohne sie ganz zu verstehen.
Wir können, sollen unsere eigene Stimme hinzufügen,
wenn wir die Schrift zitieren –
aber das bleibt doch oft Kindergeschrei, ziemlich unverständig –
und darunter bleibt – zum Glück – eine vorgegebene Melodie hörbar,
in die wir bloß einstimmen müssen.

(4) Hören wir noch genauer auf die Stimme der Schrift,
die die Kinder hier zitieren:
„Hosianna: Herr Hilf, Herr lass wohl gelingen!“
Da mischen sich noch einmal mehrere Stimmen:
die Stimme des Lobes, der Begeisterung, der Doxologie –
und die Stimme der Klage, des Hilferufes.
Hosianna, das heißt auch: „Herr, hilf doch!“
So hatten die beiden Bettler gerufen,
die am Wege Jesu nach Jerusalem saßen (Mt 20, 29ff):
Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich unser!
Ach Herr, hilf uns!

Und die Menge fuhr sie an, sie sollten schweigen.
So wie die Menge wohl auch die Mütter und Väter anfuhren,
die Kinder zu Jesus brachten (Mt 19, 13f).
Die Kinder, die Blinden, die Lahmen –
das sind die Hilflosen, die an den Rand Gedrängten,
die Ausgeschlossenen.
Sie müssen sehr laut rufen, müssen – vielleicht sehr peinlich, unangenehm – stören, um auf sich aufmerksam zu machen:
Kyrie eleison / Herr erbarme dich, oder eben:
Hosianna / Herr hilf!

Hinter dem Lärm, hinter der Begeisterung, hinter den Schriftzitaten:
da sind Hilferufe zu hören, verzweifelte Schreie – oder leise Klagen,
die man nur bei genauem Hinhören vernimmt:
Herr hilf!
Das Seufzen der Schöpfung, sagt Paulus (Röm 8, 22f) –
und auch wir seufzen und sehnen uns danach, Kinder Gottes zu sein.

„Herr hilf“: Es gibt Zeiten im Leben,
durch die man nur mit solchen Rufen durchkommt –
die man sich jeden Morgen selbst vorsagt – „Herr hilf“ –
und wo man hofft, dass ein Anderer sie doch hört,
sie einfach nur hört –
und vielleicht „Ja“ sagt: Ich habe Dich gehört.

Das ist das Evangelium: Hosianna – als Klage und als Lob.
Entfaltet wird es im Evangelium dieses Sonntags, wie wir es vorhin gehört haben:

„Ich preise dich, Vater des Himmels und der Erde,
weil du dies den Weisen und Klugen verborgen hast,
und hast es den Unmündigen, den Kindern offenbart:
... Kommt zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid“.

Das Evangelium macht uns zu Kindern:
zu Hilfesuchenden, zu Unvollkommenen, zu Klagenden,
zu Menschen, die noch nicht fertig sind, denen etwas fehlt,
denen vielleicht fast alles fehlt.

Ja, sagt Jesus.
Ja, ich kenne diese Stimmen der Klage, der Sehnsucht.
Ja, ich sehne mich selbst danach, dass es wahr wird: Gott hilft.

Hosianna / Herr hilf: Das ist auch die Stimme Jesu.
Die Stimme des Sohnes, der selbst auf den Vater hofft.

Wir können zu ihm kommen – als Große und als Kleine,
erwachsen, mündig – und zugleich hilflos, vielleicht verzweifelt.

Wir können zu ihm kommen, wir können einstimmen
in das Geschrei der Kinder, in die Worte Jesu, in die Worte des Psalms:
Oh Herr hilf! Oh Herr, lass wohl gelingen.

Dann stürzt Einiges um, bricht Einiges zusammen.
Und dann sagt einer: Ja.
So sei es.
Amen.

Prof. Dr. Jan Hermelink, Göttingen,
jan.hermelink@theologie.uni-goettingen.de

 


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