Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Himmelfahrt, 5. Mai 2005
Predigt über 1. Könige 8, 22-24.26-28, verfasst von Hans-Martin Müller
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Gottes Wohnung

I

Wenn wir ein Buch lesen und eine Stelle finden, die uns besonders anspricht oder aufregt, dann legen wir wohl ein Lesezeichen zwischen die Blätter, damit wir die Stelle wiederfinden können. Wir wollen sie ja später noch einmal nachschlagen und wiederlesen, um sie besser verstehen zu können; oder wir wollen sie einem Freund zeigen und mit ihm darüber sprechen. Und wir ärgern uns, wenn wir vergessen haben, ein solches Lesezeichen einzulegen. Wenn wir doch wenigstens ein Eselsohr in die Seite gekniffen hätten! Dann könnten wir sie wiederfinden - und nun haben wir sie verloren.

Solche „Lesezeichen“ sind auch unsre christlichen Feste. Sie erinnern uns an die wichtigsten Stellen in unserem Christenleben, an das, was wir nicht vergessen dürfen im Lauf der Zeiten, was uns helfen kann, uns zurechtzufinden im Buch des Lebens. Weihnachten: „Der Herr der Welt ein kleines Kind“ - die Kraft Gottes ist in den Schwachen mächtig. Karfreitag: „Der Sohn dem Vater g`horsam ward“ - im Opfer des einen wird den vielen das Leben geschenkt. Ostern: „Christ ist erstanden, des solln wir alle froh sein; Christ will unser Trost sein“ - wir haben eine Hoffnung über dies irdische Leben hinaus. - Pfingsten: „Komm, o komm, du Geist des Lebens, wahrer Gott von Ewigkeit“ - wir dürfen zum Allerhalter und Allumfasser sprechen und ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.

Wie sollten wir uns im Fluß der Jahre zurechtfinden, wenn wenn diese Lesezeichen uns nicht immer wieder auf die Stellen hinwiesen, die die wahren Wegmarken unseres Lebens sind? Wie sollten die Völker im unablässigen Strom der Geschichte ihren Weg finden, wenn da nicht diese Lesezeichen im Buch der Geschichte steckten? Sie zeigen uns das Woher und das Wohin unseres Lebens. Und dann stoßen wir plötzlich auf ein Eselsohr, das wir fast übersehen hätten: Das Himmelfahrtsfest. Beinahe hätten wir’s vergessen.

Das Himmelfahrtsfest ist das unscheinbarste unter den christlichen Hochfesten in unserem Kalender. Die meisten Menschen, auch die Christen, gehen achtlos daran vorbei. Wenn es bei uns kein arbeitsfreier Tag wäre und uns eine willkommene Gelegenheit zu mehr Freizeit böte, wir hätten es längst vergessen. Und selbst die, die diesen Tag zur tieferen Besinnung nutzen, wissen nicht so recht etwas damit anzufangen. Wozu soll es gut sein, auf dem Wege von Ostern nach Pfingsten noch einmal innezuhalten? Hatte nicht der Engel selbst die Jünger gemahnt: „Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr und sehet gen Himmel“? Fast möchte man hinzufügen: Es gibt viel zu tun, steht da nicht lässig herum! Wozu also die Pause auf dem Weg?

Es ist eine notwendige Pause. Sie nötigt uns, darüber nachzudenken, daß wir hier unten auf der Erde sind und unser Herr im Himmel, an einem Ort, da niemand zukommen kann - damit wir nicht achtlos werden, wenn wir beten: Vater unser, der du bist im Himmel. Daß wir Gott „Vater“ rufen dürfen, das hat Jesus uns gelehrt. Daß er aber nicht so aussieht wie unsere irdischen Väter, daß er keine „Vaterfigur“ ist, wie wir heute halb bewundernd, halb abschätzig sagen, das hat er uns auch gesagt: „Niemand kennt den Vater, denn nur der Sohn und wem es der Sohn will offenbaren“. Er ist der Allmächtige, der Schöpfer des Himmels und der Erde, hoch erhaben über alles. Bei ihm ist unser gekreuzigter Herr: „Er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.“ Und wir sind hier unten, wir kommen uns allein gelassen vor und wissen ohne ihn nicht weiter, und sind ratlos und rufen: „Komm, Herr Jesu“. Komm, Herr Jesu, das war der Gebetsruf der allerersten Christen, und wenn wir’s recht bedenken, so können wir heute auch nicht mehr sagen als sie.

Darum also die Pause auf dem Weg von Ostern nach Pfingsten. Wir müssen innehalten und uns besinnen, daß wir nicht in die falsche Richtung rennen und den Weg der Nachfolge unseres Herrn verlieren. Darum rufen wir nach ihm und lauschen auf eine Antwort.

II

Zu allen Zeiten haben die Völker nach Gott gerufen. Vor allem in Zeiten der Not. Wenn man nicht mehr weiter weiß, weil man Gott aus den Augen verloren hat, dann ruft man nach Hilfe; und wenn kein Mensch mehr helfen kann oder will, dann ruft man nach Gott., den man in guten Zeiten vergessen oder verleugnet hatte, weil man meinte, man brauche ihn nicht. Nur wenige Menschen rufen in guten Zeiten nach ihm, um ihm zu danken oder um Bewahrung zu bitten. Ein solcher Mensch war König David. (Siehe 2. Samuel 7). Gott hatte ihm nach gefahrvollen Zeiten gutes Gelingen gegeben. Die Feinde Israels lagen darnieder, man konnte in Ruhe und Frieden leben, Wohlstand war eingekehrt. Und der König konnte sich ein prächtiges Haus bauen. Da besann er sich und sprach zu dem Propheten Nathan: „Sieh doch, ich wohne in einem prächtigen Zedernhaus, und die Lade Gottes, die uns in bösen Tagen begleitet hat, wohnt immer noch unter schlichten Zeltplanen.“ Und der König beschloß, Gott ein Haus zu bauen, wo er in seinem Volk wohnen sollte. Aber der HErr sprach zum Propheten in der Nacht: „Gehe hin und sage dem König: „Solltest du mir ein Haus bauen, darin ich wohnen soll? Ich habe nie in einem Haus gewohnt, seit ich das Volk aus Ägypten führte, ich bin bei euch gewesen überall und bin mit euch in einem Zelt umhergezogen und habe nie ein Zedernhaus von euch gefordert.“

Es will den Menschen schwer in den Kopf, daß Gott bei ihnen ist überall, aber daß man ihn an keinem Ort festmachen kann. So haben sie Tempel gebaut und Altäre aufgerichtet und heilige Orte geweiht, wohin man gehen konnte, um Gott zu finden, den man sonst nicht sehen und fassen konnte. So war es auch den Alten gar nicht recht, was der Prophet Nathan dem König David gesagt hatte, und die, die seine Worte aufgeschrieben haben, haben noch ein tröstliches Wort der Absage des Propheten hinzugefügt: Wenn du, König David, Gott kein Haus bauen sollst, so soll doch dein Sohn Salomo es tun und Gott wird seinen Thron bestätigen ewiglich.
(2. Samuel 7, 13).

Und so geschah es. Salomo, Davids Sohn, baute auf dem Zionsberg in Jerusalem dem Herrn einen prächtigen Tempel und sprach zu dem Volk: „Meinem Vater David hat der Herr gesagt: ‚Nie habe ich einen Ort erwählt, wo ich wohnen wollte.‘ Aber jetzt hat er Jerusalem erwählt, daß sein Name da wäre. Und so habe ich eine Stätte zugerichtet der Lade, in der die Tafeln des Bundes sind, den er geschlossen hat mit unsern Vätern.“ (nach 1. Könige 8, 15 ff.). - Salomo war ein weiser Mann. Er wußte, daß man den Herrn der Welt nicht an einen Ort bannen und festhalten kann. Und so besinnt er sich: „Sollte Gott wirklich auf Erden wohnen?“ und Salomo ruft zum Herrn: „Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen - wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe? Darum wende du dich zum Gebet deines Knechts und zu seinem Flehen, HErr mein Gott, ....... Du wollest hören das Gebet, das dein Knecht an dieser Stätte betet, und wollest erhören das Flehen deines Knechts und deines Volkes Israel, wenn sie hier bitten werden an dieser Stätte ; und wenn du es hörst in deiner Wohnung im Himmel.“
(1. Könige 8, 28 - 30). Ein Bethaus soll der Tempel sein, kein Wohnhaus Gottes, keine Wohnung, wo der Herr des Himmels sich einschließen ließe von seinen Verehrern.

Salomo war ein weiser Mann, der wußte, daß allein der Beter den Allgewaltigen fassen und erreichen kann. Die vielen, die bei ihm waren und nach ihm kamen, wußten es nicht mehr. Sie machten eine Opferstätte daraus, wo man für ein paar Silberlinge die Opfertiere erstehen konnte, mit denen man sich die Gunst Gottes erkaufen wollte, wie die andern Völker es auch taten. Wir wissen, was daraus geworden ist: Salomos Tempel wurde von den Babyloniern in Schutt und Asche gelegt. Die aus dem Exil Heimgekehrten bauten ihn neu und schöner wieder auf. Wiederum wurde er durch Kriege schwer heimgesucht. Aber König Herodes wollte Salomo übertreffen und errichtete einen Neubau, prächtiger als alles, was man bis dahin sehen konnte. Selbst Jesu Jünger waren über die Maßen beeindruckt und mußten von Jesus zurechtgewiesen werden. Wenige Jahre später eroberten die Römer das aufständische Jerusalem und hinterließen einen Schutthaufen, der nicht wiederaufgebaut wurde. Was wir heute auf dem Tempelberg sehen können, ist der Felsendom, die prächtige Moschee des Sultans Süleiman, in der von den islamischen Gläubigen der Felsen bewundert werden kann mit dem Hufabdruck des Streitrosses, auf dem Mohammed seine Himmelfahrt antrat. Dem jüdischen Volk blieb die Klagemauer und die Hoffnung auf den Messias, der bei seinem Kommen den Tempel wieder aufrichten soll. Der Zionsberg, auf dem Salomo betete, ist heute ein von den Völkern und Religionen eifersüchtig beanspruchter, von Soldaten bewachter Platz, wo man sich gegenseitig das Recht des Betens streitig macht.

III.

Was Salomo erahnte, daß der Herr des Himmels und der Erde sich nicht in ein von Menschen gebautes Haus bannen läßt, hat die Geschichte wahr gemacht, aber die Menschen haben wenig daraus gelernt. Auch die Christen mußten immer wieder daran erinnert werden, daß Gott nicht an Gedenkstätten wohnt und daß unser Herr Jesus Christus nicht mehr an den Stätten seines irdischen Wirkens zu finden ist. In einer alten Kirche im Neckartal stieß ich einst auf ein jahrhundertealtes Fresko, das Christi Himmelfahrt darstellen sollte. Man sieht darauf eine Wolke, aus der nur die Füße des Heilandes herausragen und unten auf dem Boden, wo er gestanden hatte, sind zwei Fußtapfen zu sehen. Seine Fußtapfen - das ist der Ort, an dem wir ihm noch heute begegnen. Seine Fußtapfen, das sind seine Worte und Taten, die die Apostel aufgezeichnet haben; seine Fußtapfen, das sind die Malzeichen, die sein Geist in die Herzen der Seinen eingegraben hat, der Geist der Liebe und der Freiheit der Kinder Gottes.

Als seine Jünger Jesus einst den Tempel des Herodes bewundernd zeigten, sprach er: „Nicht ein Stein wird auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen würde.“ (Mt. 24 2) Und als er im Tempel die Geldwechsler und Taubenkrämer sah, trieb er sie hinaus mit den Worten des Propheten Jesaja: „Mein Haus soll ein Bethaus heißen für alle Völker.“ Und als die Frommen ihn darüber zur Rede stellten, sprach er: „Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn aufrichten.“ Und der Evangelist Johannes fügt hinzu: „Er aber redete von dem Tempel seines Leibes.“ (Joh. 2, 19) - Sein Leib, das sind alle Menschen, die er zu sich ruft und die an ihn glauben. Da können wir ihn sehen und hören noch heute. Da ist er mitten unter uns. Und wo er ist, da ist unser Vater im Himmel. Amen.

Prof. Dr. Hans-Martin Müller
muellerhm@gmx.de


(zurück zum Seitenanfang)