Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 12. Juni 2005
Predigt über Lukas 15, 1-7, verfasst von Martina Janßen
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Vom Suchen, Finden und Freuen...

(I)

Liebe Gemeinde!

In meinem Arbeitszimmer gibt einen Stapel ungelesener Krimis, direkt neben der Tür auf dem Boden. Krimis, die ich gekauft habe, weil sie günstig waren, weil sie spannend klangen, weil ich mir eine Freude machen wollte. Ich sammle sie auf diesem Stapel bis ich Zeit finde, einen von ihnen zu lesen. Letztens hatte ich Zeit. Während ich das Teewasser aufsetzte, überlegte ich, was da alles auf diesem Stapel schlummerte. Und plötzlich hatte ich ein bestimmtes Buch vor Augen. Das sollte es sein! Als ich es in meinem Krimi-Stapel suchte, fand ich es nicht. Alle möglichen Bücher waren da; sie klangen nicht weniger spannend. Nur nicht jenes Buch! Ich sah den Stapel durch. Zwei, dreimal. Nichts! Jetzt wollte ich es unbedingt lesen. Ich begann durch mein Zimmer zu laufen. Regale durchzusehen, auszuräumen. Nichts! Leicht hätte ich mir ein anderes Buch aus dem Stapel nehmen können. Nein, ich suchte weiter. Irrte unruhig durch die Wohnung. Fast platzte mir der Kopf. Fieberhafte Überlegungen. Wühlen an den seltsamsten Orten. „Nun hör doch auf, der Aufwand lohnt sich nicht. Die sind doch alle gleich.“ Ich überhörte die genervte Stimme aus dem Wohnzimmer, das Pfeifen des Wasserkessels. Ich suchte weiter. Schließlich fand ich das Buch (ich hatte es damals zusammen mit einem Handtuch gekauft und mit diesem in den Kleiderschrank gelegt).

Ich nehme das Buch mit einem Freudenschrei, umarme meinen Mann und - lese. Ich lese es in einem Zug durch bis in die Nacht hinein. Und als ich die letzte Seite umgeblättert habe – hungrig, erschöpft, mit steifem Nacken - , kommt es mir so vor, als hätte ich nie ein schöneres Buch gelesen ...

(II)

Kennen Sie auch dieses Gefühl? Wenn Sie ganz dringend etwas suchen? Und nichts anderes wollen als das, was sie gerade suchen? Und dann diese Freude, wenn Sie es gefunden haben? Diese große Freude, die man teilen und mitteilen muss? So wie ich Ihnen meine kleine Geschichte vom Suchen, Finden und Freuen erzählen musste...

Auch der Evangelist Lukas erzählt so eine Geschichte vom Suchen, Finden und Freuen.

Es nahten sich Jesus allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: „Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.“ Er sagte ihnen dies Gleichnis und sprach: „Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet? Und wenn er’s gefunden hat, so legt er’s sich auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über den einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.“ (Lk 15, 1-7)

100 Schafe - das ist beachtlich! Eine stattliche Zahl – zumindest für antike Verhältnisse. Und wenn man bedenkt, dass 100 die Vollkommenheit zum Ausdruck bringt, wäre das auch für heutige Verhältnisse eine stattliche Zahl, eine große, vollständige Herde. Aber auch 99 ist immer noch eine gute Zahl, eine Zahl, mit der man sich zufrieden geben kann. Und trotzdem - dieser Hirte, von dem Jesus erzählt, scheut keine Mühe, tröstet sich nicht mit seinen 99 Schafen, sondern lässt alles stehen und liegen und geht dem verlorenen nach. 99:1 – lohnt sich der Aufwand wirklich, das eine Schaf zu suchen? Handelt der Hirt pragmatisch? Geht er sinnvoll mit seinen Energien um? Hat dieser Hirt richtig kalkuliert? Unter uns gefragt: Ist das eine Schaf nicht völlig unerheblich? Verglichen mit den 99? Oder aber - ist das verlorene Schaf vielleicht ein besonderes Schaf? Eines, das wichtiger ist als die anderen, schöner, besser? Davon erzählt Jesus allerdings nichts... Das Schaf ist doch wohl nur ein ganz gewöhnliches Schaf, das sich von den anderen Schafen nur darin unterscheidet, dass es verloren ist. Als der Hirt es gefunden hat, nimmt er es auf seine Schultern und freut sich. Kein Ärger über die verlorene Zeit, kein Klagen über die Anstrengung und Mühe, kein Vorwurf: Warum bist du weggelaufen? Sondern Freude, eine so große Freude, die nicht bei sich bleiben kann, die sich mitteilen muss: „Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.“ (Lk 15,6)

Und das Schaf? Tut es auch etwas? Oder ist es wenigstens peinlich berührt, weil es verloren gegangen ist? Strengt es sich an, seinen Hirten zu suchen? So deutet es zumindest Lukas in seinem moralisierenden Abschlussvers: „So wird auch Freude im Himmel sein über den einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen“ (Lk 15,7). Aber Jesus selbst erzählt nichts von einer Buße, erwähnt keine Umkehrversuche des Schafes. Keine Gegenleistung. Keine Bedingungen. Das einzige, was das Schaf tut, ist gefunden zu werden.

Das Schaf und der Hirte sind in der Bibel keine Unbekannten. „Der Herr ist mein Hirte!“ – so betet der Beter des 23.Psalms. Der Herr weidet sein Volk. Da gibt es fromme Schafe und solche, die verloren gehen. Lukas lässt Jesus diese Geschichte erzählen, weil die Frommen sich ärgern, die 99. Warum isst er auch mit den Sündern? Gibt es keine bessere Tischgesellschaft? Wo hier so viele Fromme sind, mit denen es sich besser speisen ließe, kultivierter feiern, gewählter Konversation treiben? Da lohnt es sich doch nicht, mit den Sündern zu essen! Und Jesus antwortet ihnen: Und wie es sich lohnt, dieses Essen mit den Verlorenen! Mehr als mit allen Frommen; groß ist die Freude über das Wiederfinden derer, die verloren waren.

III

Liebe Gemeinde,

wie groß ist diese Freude nach der Unruhe des Suchens, wie schön ist die Erleichterung! Wir alle kennen wohl dieses Gefühl. Selbst bei Dingen, die eigentlich ersetzbar sind wie ein Buch. Meine Geschichte, die ich Ihnen erzählt habe, ist eine leichte, heitere Geschichte vom Suchen, Finden und Freuen. Es gibt auch ernste Geschichten. Geschichten, in denen es um mehr geht als um ein Buch. Manchmal suchen wir auch Menschen. Dann geht es um Leben und Tod. Dann geben wir alles für die Menschen, die wir suchen. Nicht weil sie die schönsten, klügsten, reichsten sind, sondern einzig aus einem Grund: weil wir sie lieben, weil sie zu uns gehören. Wenn ein geliebter Menschen uns verloren geht, dann wird er in diesem Moment wichtiger als alle anderen Menschen um uns herum. Wir verzeihen ihm seine Fehler, vermissen sogar seine Macken, seine Ecken und Kanten werden zu Kostbarkeiten. Wir freuen uns, jubeln über ihn – so wie er ist. Dass er wieder da ist.

Vielleicht haben einige von Ihnen ja auch so eine Geschichte zu erzählen. Wie Sie sich gesucht und wiedergefunden haben - nach dem Krieg, nach der Flucht, nach Gefangenschaft, nach der Vertreibung. Und vielleicht erzählen Sie ja auch diese Geschichte weiter, selbst nach Jahrzehnten. Erzählen von dieser Freude. Immer wieder...

IV

Auch Lukas erzählt seine Geschichte vom Suchen, Finden und Freuen immer wieder. Immer wieder neu. Vom Zöllner Levi (Lk 5,27-32). Von der Frau, die nach dem Groschen sucht (Lk 15,8-10). Vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32). Vom Oberzöllner Zachäus (Lk 19,1-10). Vom „Menschensohn, der gekommen ist, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ (Lk 19, 10). Fast könnte man sie eine Lieblingsgeschichte von Lukas nennen, diese Geschichte vom Suchen, Finden und Freuen. Und es sollte auch eine von unseren Lieblingsgeschichten sein, Es ist die Geschichte Gottes mit uns. Von Anfang an und immer wieder.

V

„Wo bist du?“ Das erste Buch Mose erzählt, wie der Mensch das erste Mal verloren geht. Und wie er seine Unschuld ein für alle mal verliert. Wie er sich verliert. Wie er Gott verliert. Und Gott? Er sucht den Menschen. In dem Moment, in dem ein Riss durch das Paradies geht, macht sich Gott auf die Suche. „Adam, wo bist du?“ (Gen 3,9) Gott lässt den Menschen nicht in der Verlorenheit zurück, sondern sucht ihn. Sucht einen neuen Anfang. Immer wieder. Immer, wenn ein Riss durch die Geschichte Gottes mit den Menschen zu gehen droht, macht er sich auf die Suche „wie ein Hirt seine Schafe sucht.“ (Ez 34,11-16). Davon erzählt das Alte Testament. Das verheißen die Propheten: „Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen...“(Jes 40,11).

„Wo bist du?“ Denken wir nur an unsere Unruhe, wenn wir etwas suchen, unsere Hartnäckigkeit, bis wir gefunden haben, was wir suchen! Um wie viel mehr sucht Gott seine verirrten Schafe! Um wie viel mehr sucht Gott mich! Und - er findet mich! Irgendwann in meiner Geschichte hätte ich das Suchen aufgeben, wäre ein wenig traurig, ein wenig verärgert gewesen, aber ich hätte aufgegeben. Manchmal sind unsere Geschichten vom Suchen auch Geschichten vom vergeblichen Suchen, vom Verloren-Sein und Verloren-Haben für immer. Anders unsere Geschichte mit Gott. Gott gibt den Menschen nicht auf. Gott gibt alles. Zuletzt gibt Gott in seinem Sohn sich selbst. Gott gibt sich und findet uns, weil er sich bei uns als Mensch eingefunden hat. Er erträgt unsere Verlorenheit, er trägt unsere Schuld. Er sucht unseren Tod, damit wir das Leben finden. Mit ihm. Durch ihn. In ihm. Der gute Hirte gibt sein Leben für die Schafe (Joh 10,11). Getragen von unserem Hirten leben wir. Davon erzählt das Neue Testament. Daran glauben wir.

VI

„Und wenn er’s gefunden hat, so legt er’s sich auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.“ (Lk 15,5f)

Amen

Dr. Martina Janßen
martina.janssen@theologie.uni-goettingen.de


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