Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 19. Juni 2005
Predigt über Genesis 50, 15-21, verfasst von Henry von Bose
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Liebe Gemeinde,

eine Geschichte heftiger Gefühle kommt an ihr gutes Ende. Von diesen letzten Szenen aus werden die Blicke zurückgelenkt zu den entscheidenden Höhepunkten der im 1. Buch Mose ausführlich geschilderten Josefsgeschichte. Jetzt laufen die Fäden zusammen und werden miteinander verknüpft. Die noch einmal wachsende Spannung löst sich auf. In ganz wunderbarer Weise wird das Geheimnis der Geschichte von Josef, seinem Vater und seinen Brüdern offenbar. Das Ende ihrer Geschichte prägt ein, wie Vergebung erbeten und gewährt wird.

Der Glaube lebt aus der Kraft der Vergebung. Mit dieser Kraft verbinden Menschen Hoffnung, die sich auch in schlimmer Zeit bewährt. Mit ihr sehen sie die Liebe zu ihren Nächsten geschützt, wenn sie am meisten gefährdet ist. In der Kraft der Vergebung stimmen glaubende Menschen in die grundsätzliche Erfahrung ein: sie sind darauf angewiesen, dass Gott zum Guten wendet, was aus Schuld angerichtet worden ist.

Die Schuld der Brüder an Josef hat ihre Wurzeln in heftigen Gefühlen. Angeben, sich aufspielen, sich entfremden, verspotten, niederträchtig das Böseste anzetteln, verraten, lügen – so äußern sich Überheblichkeit, Missgunst, Neid.

Siebzehn Jahre ist Josef alt, als die Geschichte beginnt. Am Ende steht er in der Reife seines Lebens vor den Betrachtenden. Der weite Bogen des Geschehens ist so farbig geschildert, dass noch jedes jüdisch oder christlich erzogene Kind gebannt zuhört, wenn ihm Kapitel für Kapitel vorgelesen oder erzählt wird. Den Erwachsenen geht es beim Lesen kaum anders. Das ist zu allen Zeiten so gewesen.

Am Anfang können seine Brüder ihm kein freundliches Wort sagen (Gen 37,4), am Ende bitten sie ihn um Vergebung und er redet freundlich mit ihnen (50,21). Aus der lange anhaltenden Verspannung werden sie durch den Schatten des Verbrechens an ihrem Bruder hindurch geläutert in die Freiheit vergebener Schuld geführt.

Was geschieht? Das Verhältnis der großen Brüderschar aus den verschiedenen Ehen des Vaters Jakob zu dem zweitjüngsten Josef ist schwierig. Rahel, Josefs Mutter stirbt bei der Geburt ihres zweiten Sohnes Benjamin; jahrelang kinderlos, hatte sie die Hoffnung auf eine Schwangerschaft beinahe aufgegeben. Der Vater seinerseits hat Josef „lieber als alle seine Söhne, weil er der Sohn seines Alters war“ (37,7). Er zieht ihn den anderen vor. Damit sät er Feindschaft zwischen seinen Söhnen. Josefs eigenes Verhalten verstärkt sie noch. Er spielt sich auf und stößt selbst beim Vater gelegentlich auf Befremden. Er gibt mit seinen Träumen an. Schließlich kommt es zum Äußersten. Die älteren Brüder wollen ihn töten. Ruben, der Älteste, kann die anderen umstimmen. Statt ihn umzubringen, verkaufen sie ihn an eine vorüber ziehende Karawane. Jahre später begegnen sie ihm wieder und erkennen ihn nicht, als er in der Rolle des mächtigsten Mannes nach dem Pharao in Ägypten vor ihnen steht. Sie sind von Kanaan nach Ägypten gekommen, um Getreide zu kaufen.

Der von ihnen verstoßene Bruder muss seit seinem Verkauf an die Karawane die gegensätzlichsten Erfahrungen machen. Durch falsche Anschuldigungen ins Gefängnis gekommen bewährt er hier seine Begabung, Träume zu deuten. Von dieser besonderen Fähigkeit hört der Pharao. Ihn erschrecken Traumbilder, die niemand zu deuten versteht. Josefs Auslegung seiner Träume überzeugen den Herrscher. Der Zeitraum der nächsten vierzehn Jahre verlangt sorgfältige Maßnahmen: Sieben Jahren wirtschaftlichen Überflusses werden ebenso viele Jahre Missernten und Bedrohung durch Hunger folgen.

Gottes Geist hat Josef diesen Blick in die Zukunft ermöglicht: diese Einsicht bewegt den Pharao dazu, Josef mit dem höchsten Staatsamt in seinem Reich zu bekleiden. Über ihm ist nur er, der Pharao selbst. Er lässt vor Josef ausrufen: „Der ist des Landes Vater!“ (41,43) Jetzt ist er dreißig Jahre alt. In seiner Hand liegt nun die Verantwortung, in den guten Jahren die Vorräte für die kargen zu sammeln und sie für das Überleben der Menschen in der Not zu bewirtschaften.

Die Not bringt auch die Brüder zu ihm. Er, der Regent im Land, verkauft ihnen das in Kanaan fehlende Getreide. Sie erkennen ihn nicht. Aber Josef führt Begegnungen mit ihnen herbei, die es ihm möglich machen, alles das aus der großen Familie zu hören, was er unbedingt wissen möchte. Der alte Vater und der jüngere Bruder, Benjamin – sie vermisst er am meisten. Josef lässt seine Brüder seine Macht spüren. Dabei erfährt er, wie besorgt und liebevoll sie um des Vaters willen mit dem Jüngsten umgehen. Das bewegt ihn, sich ihnen zu erkennen zu geben.

„Ich bin Josef, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt“ (45,4) Er selbst spricht aus, was zwischen ihnen ist. Ihre Tat an ihm bleibt wahr. Ihm hat sich aber über die Jahre mit den Tiefen und Höhen der Glaube erschlossen, dass Gott es so gewollt hat. Deshalb versucht Josef sogleich, seine Brüder zu beruhigen. Sie erschrecken natürlich, weil sie genau wissen, dass er sie in der Hand hat. Aber er begegnet ihnen ganz anders, als sie fürchten müssen.

Sie sollen sich nicht bekümmern. Er zürnt ihnen nicht. Was sie ihm angetan haben, geschah nach Gottes Plan. „Ihr habt mich nicht her gesandt, sondern Gott“ (45,8). Gott hat ihn auch zum Herrscher über Ägypten gemacht, damit sie durch ihn gerettet werden können.

Sie kommen sich nah, ehe er sie zum Vater zurück schickt, um ihn mit allem Hab und Gut holen zu lassen und später hier anzusiedeln. Als sie losziehen, mit Pharaos voller Zustimmung und reichlich ausgestattet, entlässt Josef sie mit einem sehr brüderlichen Segen: “Zanket nicht auf dem Wege!“ (45,24)

Alles fügt sich dann wunderbar. Jakob kommt mit seinem ganzen Haus nach Ägypten: an der großherzigen Aufnahme durch den Pharao wird erneut die hohe Achtung deutlich, die Josef genießt. Später nach Jakobs Tod wird sein Wunsch erfüllt, in Abrahams Erbbegräbnis in Kanaan bestattet zu werden. Die Feierlichkeiten mit den Ältesten Ägyptens gleichen einem Staatsakt.

So kommt die Geschichte von Josef und seinen Brüdern an ihr Ende. Aber zuvor erreicht sie ihren Höhepunkt. Jetzt, nach dem Tod des Vaters, kehren die heftigen Gefühle der Anfangszeit noch einmal wieder. Die Brüder fürchten sich vor Josef. Sie haben Angst vor seiner Vergeltung für alle ihm angetane Bosheit. Dieses Gefühl ist weit stärker als die Gefühle der Erleichterung damals beim Getreidekauf, als Josef sich ihnen zu erkennen gab – der versöhnliche Bruder im Gewand des Herrschers.

Josefs Sorge um den Vater haben sie als Schutz für sich selbst verstanden. Aber was ist nun nach des Vaters Tod? „Denkt nicht, dass ich darum zürne, dass ihr mich hierher verkauft habt“ (45,5). Das waren seine Worte, damals. Gelten sie jetzt noch? Josefs Glaube, Gott habe ihn vor ihnen her gesandt und nichts anderes als Rettung im Sinn, hat ihre Gefühle nicht erreicht. Ihre Angst vor dem mächtigen Bruder ist mit dem Staunen über seinen Großmut nicht endgültig gewichen. Josefs Gesten der Versöhnung sind in ihrer Wirkung auf sie verblasst. Allein der alte Vater war für sie bisher der Garant dafür, vor der Vergeltung ihres Bruders verschont zu werden. An seine Vergebung könne sie nicht glauben.

Deshalb schicken sie einen Boten zu ihm. Sie lassen ihn vorfühlen, wie Josef ihre Bitte um Vergebung aufnehmen werde. Sie berufen sich auf den alten Vater. Er habe sie noch gedrängt, den vor Jahren so misshandelten Bruder um Nachsicht zu bitten. Als sei der Friede unter den Brüdern sein Vermächtnis. Der Gang der Geschichte legt es nahe.

Beides zeigt, wie ernst es ihnen ist: Dass sie zunächst nicht selbst kommen und den Vater mit seiner schützenden Autorität zu ihrem Zeugen machen.

Um in die Tiefe dessen zu dringen, worum sie den Bruder in Wahrheit mit der Bitte um Vergebung angehen, hilft ihre eigene Sprache. Im Hebräischen bedeutet „vergeben“: tragen, aufheben. Vergebung geschieht nicht nur dadurch, dass der Vergebende lösende Worte findet. Die Schuldigen tragen an ihrer Missetat. Sie liegt wie eine Last auf ihren Seelen und beschwert sie, solange ihr Gewissen ihnen keine Ruhe lässt.

Der ihre Schuld vergibt, ihr Opfer, hebt diese Last im doppelten Wortsinn auf. Er nimmt sie an sich und trägt sie; damit zugleich kann er sie in dem anderen Sinn aufheben, also die Täter für nicht mehr schuldig erklären, freisprechen.

Das bedeutet aber, dass das Opfer die zweifache Last trägt: Die eigene Erinnerung an das ihm zugemutete Leid und in der Vergebung die Last der Täter. Vor diesem Hintergrund ist deutlich, welche seelische Anstrengung damit verbunden ist zu vergeben. Aber nur auf diese Weise kann Entfremdung zwischen Tätern und Opfern wirklich weichen, können Nähe, tragfähiges Vertrauen entstehen und wieder wachsen. Diejenigen, die sich diese Zusammenhänge in der eigenen Erfahrung erschließen, die wissen sie in die Vater-unser-Bitte aufgenommen: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Sie werden den Abschluss des Gebetes Jesu hier einbeziehen: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit.“ Sie wissen, wie sehr sie auf diese ihnen gegebene Kraft angewiesen sind, um zu vergeben, um den Schuldigen, den Tätern, ihre Schuld abzunehmen, aufzuheben. Sie beten um die Kraft, es tun zu können, wie um den Glauben an die Vergebung der eigenen Schuld durch Gott.

Josef weint, als er die Botschaft seiner Brüder hört. Ihre Not rührt ihn tief an. Die Wahrhaftigkeit seiner Gefühle erschüttert ihn immer wieder in der weiten Geschichte seines wechselvollen Lebens. Dass er sich so zeigen kann - als weinender Mann, nicht nur insgeheim, sondern öffentlich und im höchsten Amt: auch das macht ihn und seine Geschichte so dauerhaft anziehend.

Nachdem ihre Botschaft überbracht und angenommen ist, kommen die Brüder selbst. Sie fallen vor ihm nieder und unterstreichen mit dieser Geste ihre Bitte. Nun wird wahr, was sie ganz am Anfang, vor all den Jahren so empört gegen ihren jüngeren Bruder aufgebracht hat. Ihm hatte geträumt und die Deutung des Traumes: die Brüder verneigen sich vor ihm, verwirklichen sie jetzt. So stimmen sie, noch ohne die Bedeutung wirklich zu erfassen, in Gottes Walten ein.

Sie haben sich in ihrer Botschaft an Josef als Diener des Gottes ihres Vaters bezeichnen lassen. Das ist der Josef und sie verbindende Grund, der für die Vergebung tragfähig ist. Josef tritt ihnen entgegen: „Fürchtet euch nicht! Steh´ ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.“(50,19+20)

Josef kann seine Brüder vollkommen entlasten. Gott hat das, was sie mit Josefs Verkauf angerichtet haben, längst zum Guten gewendet. Gott hat ihnen vergeben, er hat ihre Missetat in seinen Plan einbezogen. Gott ist der wahre Verfasser der Lebensgeschichte Josefs und seiner Brüder.

Damals beim Getreidekauf in den Hungerjahren haben sie nicht verstanden, womit Josef sie beruhigen wollte: „Um eures Lebens willen hat mich Gott vor euch her gesandt“ (45,5). Jetzt wiederholt er es: Gott hat ihr böses Tun zu dem Guten gewendet, ein großes Volk am Leben zu erhalten. Damit tröstet Josef seine Brüder und deutet zugleich die nicht endende Verheißung für Israel an.

Liebe Gemeinde, der 4. Sonntag nach Trinitatis heute steht unter dem Leitbild: „Gemeinde der Sünder.“ Das gute Ende der Josefsgeschichte bringt heftige Gefühle zum Frieden. In ihrem weiten Spannungsbogen wird deutlich, warum der Vergebung zu glauben ist. Die Josefsgeschichte kann auch heute den Glauben an die Vergebung stärken. Dieser Glaube hat für uns sein Sinnbild im Kreuz Jesu Christi. Hier wird für alle Zeit sichtbar, was es bedeutet, Schuld aufzuheben, sie für die anderen zu erleiden. Christus trägt die Schuld der Menschen und tilgt sie. Die Menschen seiner Gemeinde gehen ihren Weg in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, seiner Geschwister.

Amen.

Henry von Bose, Kirchenrat
Mitglied des Vorstands des Diakonischen Werks Württemberg
E-Mail c/o Jaud.C@diakonie-wuerttemberg.de


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