Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 19. Juni 2005
Predigt über Genesis 50, 15-21, verfasst von Heinz Janssen
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„…aber Gott gedachte es gut zu machen“

Liebe Gemeinde!

„…aber Gott gedachte es gut zu machen“, diese Worte wünsche ich mir als Überschrift über den vierzehn Kapiteln der ganzen biblischen Josefsgeschichte. Weil sie so glücklich ausgeht. Um Gottes willen. Ende gut, alles gut. Glückliches Ende einer langen Familiengeschichte, von Beziehungen mit Höhen und Tiefen. Josef, der die Bosheit seiner Brüder hart zu spüren bekam, macht den ersten Schritt auf seine Geschwister zu. Zwischen ihnen und ihm konnte wieder aufgebaut werden, was zerstört war. "Ihr gedachtet es böse zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen“, Josef nimmt ihnen die Furcht vor einer möglichen Vergeltung, er entlastet sie und verspricht ihnenobendrein noch großzügige Hilfe für ihre Familien. Unerwartet freundlich begegnet Josef seinen Geschwistern, er vergibt ihnen („trägt ihre Schuld weg“, wie es wörtlich im hebräischen Urtext heißt) und gibt ihnen die Chance, die geschwisterlichen Beziehungen neu zu gestalten. Die Josefsgeschichte ist weit mehr als ein historischer Bericht über familiäre Begebenheiten, die Jahrtausende zurückliegen. Sie ist Erzählung, Roman, Exempel. Elementare Lebenserfahrungen und Lebensweisheiten sind darin aufgenommen und verarbeitet. Aber es wird darin nichts festgeschrieben. Sie lässt uns Lesenden und Hörenden einen weiten Raum, um uns in ihrem Spiegel mit unserer eigenen Familien- und Lebensgeschichte auseinanderzusetzen und sie in unsere augenblickliche Lebenssituation gleichsam fortzuschreiben.

I.

Schauen wir auf die Josefsgeschichte zurück. Versuchen wir, uns in die handelnden Personen einzufühlen und sie zu verstehen; vielleicht sind sie uns trotz des zeitlichen Abstands gar nicht so fremd. Die geschwisterlichen Beziehungen werden auf einmal gestört. Josefs Brüder wollen es zuerst vermutlich nicht wahrhaben. Aber es zeigt sich immer deutlicher, Josef, der Kleine, ist Papas Liebling. Auch an seinem „bunten Rock“, einer farbenprächtigen Kleidung mit kunstvoll aufgenähten Verzierungen, sollen alle sehen, wem von den Kindern die besondere Zuneigung gilt. Die Stunde des Neids hat begonnen. Geschwisterneid. Eine geradezu feindliche Gesinnung entsteht, als Josef ihnen von zwei Träumen erzählt. Im ersten Traum richtet sich beim Garbenbinden Josefs Garbe auf, und die Garben der Brüder neigen sich vor ihm. (Einrede der Brüder:) Seht ihn an, unseren kleinen Wichtigtuer, den Gernegroß! – Im zweiten Traum neigen sich Sonne, Mond und elf Sterne vor Josef. (Einrede:) Jetzt ist der Kleine ganz übergeschnappt, der Größenwahn hat ihn gepackt! – Welches sind unsere Träume? Der anfängliche Neid steigert sich. "Lasst uns ihn töten und in eine Grube werfen…"

Gott sei Dank gibt es Widerspruch unter den Geschwistern; Ruben, der Älteste, will, dass Josef nichts passiert. Wie gut, wenn wir uns nicht in eine gedankenlose Mitmachmentalität hineinziehen lassen. Ist nicht auch heute die kritische und dem Leben verpflichtete Fantasie Rubens dringender als je gefragt? Die Grube wird vor dem inneren Auge Rubens zum Schutz für Josef, den er später, wenn die Brüder weitergezogen sind, herausholen will. Juda hat aber plötzlich die Idee, den kleinen Bruder als Sklaven an eine ägyptische Karawane zu verkaufen. Menschenhandel, Menschen werden zur Ware. Ruben konnte es nicht vermeiden, Josef gerät in die Hände Potifars, eines hohen Ministers des Pharao. Im Haus der Potifar erlebt Josef noch von anderer Seite eine Bösartigkeit; die Frau des Potifar will den jungen Mann verführen; als es ihr nicht gelingt, beschuldigt sie Josef, er habe sie sexuell belästigen wollen und erreicht seine Bestrafung mit Gefängnis. Üble Nachrede, unschuldig verurteilte Menschen, wie weh dies tut, Rufmord, wie viele leiden heute darunter. „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“

"Aber Gott war mit ihm...und was er tat, dazu gab Gott ihm Glück." Im Gefängnis deutet Josef die Träume zweier Mitgefangenen. Diese Gabe der Traumdeutung bringt ihn vor den Pharao. Dessen beide Träume von den sieben fetten und den sieben mageren Kühen sowie von den sieben vollen und den sieben dünnen Ähren kann Josef wie kein anderer deuten, mit einem volkstümlichen Sprichwort gesagt: „Spare in der Zeit, so hast du in der Not“. Nehmen wir unsere Träume ernst genug? Der Pharao erkennt Josefs Verstand und Weisheit und macht ihn zum Ernährungsminister, er soll für das stete Wohl des Volkes sorgen.

Es kommt zu einer unerwarteten Begegnung. Als Ägypten und andere Länder unter einer Hungersnot leiden, ziehen die Brüder Josefs mit Ausnahme des Jüngsten, Benjamin, nach Ägypten, um dort Getreide zu kaufen. Schmerzliches Wiedersehen. Aber Josef gibt sich seinen Geschwistern noch nicht zu erkennen, er braucht Zeit. Erst nach einer zweiten Reise, auf der auch Benjamin, der Jüngste, mitkommt, ist die Zeit für Josef reif, ihnen offen gegenüberzutreten. "Ich bin Josef, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt...Und nun bekümmert euch nicht und denkt nicht, dass ich darum zürne…, denn um eures Lebens willen hat mich Gott vor euch hergesandt". Um eures Lebens willen. Josef redet von einem Gott, der ein Gott des Lebens ist. Was ist Leben? „Was ist der Mensch, dass du, Gott, seiner gedenkst.“ Josef schickt die Brüder nocheinmal in die Heimat zurück. Sie sollen den Vater Jakob mit der ganzen Familie nach Ägypten holen. Es kommt zu der langersehnten Begegnung Josefs mit seinem Vater. Siebenzehn Jahre lang lebt Jakob noch in Ägypten, im fruchtbaren Nildelta, dann stirbt er…

Orgelchoral „Von Gott will ich nicht lassen“ (EG 365,1)

II.

Was hat sich in dieser alten Familiengeschichte an Konflikten, Streitigkeiten, Kränkungen und Verletzungen abgespielt. Erfrischend, wie offen damit im Alten/Ersten Testament umgegangen wird. Nichts wird beschönigt. Aber es wird auch nichts als hoffnungslos hingestellt. Schauen wir auf unsere Lebenswege, unsere Lebens- und Familiengeschichte. Gibt es in unserem Harmoniestreben, gerade auch in unseren kirchlichen Kreisen, nicht immer wieder die Scheu, Konflikte offen anzuschauen und sie gemeinsam in einem fairen Gespräch zu klären? Wird da nicht allzuoft eine heile Welt vorgegaukelt, und wird nicht unter den Teppich gekehrt, was vor den Augen der Betroffenen auf den Tisch kommen und bearbeitet werden muss? Wir müssen überall auf der Welt, in den persönlichen, familiären und öffentlichen Beziehungen, mit Konflikten leben und damit umgehen. Denn bei Konflikten stoßen verschiedene Interessen, auch Gefühle, aufeinander. Es gilt, sie als realistische Faktoren im Lebensalltag wahrzunehmen. Gott mutet uns zu, einander gerecht zu werden und dafür zu arbeiten. Es ist so etwas wie Seelenarbeit erforderlich und ein selbstkritisches Fragen an die eigene Adresse. Wie empfindsam gehen wir miteinander um? Wie einfühlsam begegnen wir dem anderen Menschen ? Nehmen wir ihn an, wie er ist, lassen wir ihn bestehen oder beurteilen und verurteilen wir ihn, aus welchen Gründen auch immer? Haben wir das persönliche Gespräch mit einem Menschen entschieden genug gesucht, wenn uns seine Worte oder sein Verhalten irritierten? Gehen wir aufeinander zu?

III.

Die Wege Josefs und seiner Brüder waren nicht leicht. Es waren schmerzvolle Wege. Sie bleiben so oder so auch uns nicht erspart. Josef hatte den Mut, sie zu gehen. Er brauchte dazu viel Zeit und Kraft.Josef vergibt seinen Brüdern, nicht weil sie ihn kraft der vorgeschobenen Autorität des Vaters darum bitten, sondern aus seinem innigsten Empfinden heraus; er ist bereit, mit ihnen neu anzufangen, dass (wieder) Vertrauen wächst. „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“, heißt es im Wochenspruch. Der Bruder lässt seinen Geschwistern ihre Würde. Josef kann sich ihnen gegenüber zurücknehmen. Welche einladende und ihnen von Herzen zugewandte Demut spricht aus seinen Worten, als er sie ganz kleinlaut und mit schlechtem Gewissen erlebt. "Fürchtet euch nicht!“, ruft Josef ihnen zu. „Stehe ich denn an Gottes Statt?...Gott gedachte es gut zu machen."

Die Josefsgeschichte lehrt uns, in allem, was wir erleben, tiefer zu sehen. Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken. Gott will alles zu einem guten Ende führen. „Befiehl Gott deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen“, redet uns der Psalmist ganz in Josefs Sinn zu Herzen. Damit verlieren die gegenseitigen Schuldzuweisungen ihre ausweglose Bedeutung. Konflikte, Streit, Enttäuschungen, sie kommen in den besten Familien vor. Die Frage ist, wie wir damit umgehen, ob wir vor ihnen davonlaufen oder ihnen standhalten. Es ist auch eine Frage des Vertrauens zu Gott, welche Kraft wir in schwierigen menschlichen Beziehungen und überhaupt in scheinbar hoffnungslos verfahrenen Lebenssituationen aufbringen. Trauen wir Gott zu, dass über lange Zeit getrennte Wege wieder zusammenführen können? Lernen möchte ich von der Lebensgeschichte Josefs und von seinem Gottvertrauen; sein Glaubens- und Lebensweg erinnern mich an ein Bekenntnis Dietrich Bonhoeffers: “Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden als mit unseren vermeintlichen Guttaten...“

Josef vermittelt uns beispielhaft viel Lebensmut. Auf den verschlungensten Wegen und in den schwersten Konflikten verlässt und vergisst uns Gott nicht. Sollte uns dies nicht dazu bewegen, achtsam miteinander zu leben, wie Josef einander zu vergeben und nicht aufzugeben? Gottes Wege unterscheiden sich von unseren Wegen. Alles kann gut werden.

Amen

Heinz Janssen, Pfarrer an der Providenz-Kirche zu Heidelberg
Karl-Ludwig-Str. 8a, 69117 Heidelberg
providenz@aol.com

 


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