Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

5. Sonntag nach Trinitatis, 26. Juni 2005
Predigt über Johannes 1, 35-50, verfasst von Wolfgang Petrak
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„Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen werde“. Das Sein beginnt mit dem Werden. Die Augen öffnen sich, das Begreifen beginnt. Ihm folgt das Verstehen, irgendwann.

Im Anfang war das Wort. Es wird zur Sprache. Zeichen werden die Wahrheit deuten. Im Anfang war das Wort, das Gott ist. Gott bleibt nicht bei sich stehen, er wird. Menschen werden. Johannis, der Mensch: er sieht und spricht. Er versteht, dass er nicht das Zeichen ist. Er weist auf einen anderen. Und er gibt seine Jünger frei, damit sie dem nachfolgen, der in Bewegung ist. Und der Menschen in Bewegung bringt. Sie wissen um die Zeit, bleiben nur kurz, um dann weiter zu sagen und weiter zu suchen, der eine findet den anderen, Andreas den Simon und Philippus den Nathanael. Skeptisch der letztere; übrigens verfügt dieser sogar um eine Bleibe unter einem Feigenbaum: Idylle nach heißem Arbeitstag mag man vermuten, oder Ruhe vor dem Sturm?

Doch: wir erfahren nichts. Nichts über die Arbeit, nichts über die Gedanken, schon gar nichts über ihre Gefühle, schon gar nichts über ihr Suchen im Glauben und das Zweifeln, das jenen eigen ist, die wissen, dass sie aufbrechen müssen. Wir hören nur von Menschen in ihren Tageszeiten, registrieren vielleicht kurz die verschiedenen Ortsnamen: Bethanien, Bethsaida, Nazareth und die ganze galiläische Richtung, doch wohin geht es eigentlich? Wir hören auch die Namen derer, die angesprochen und bewegt sind- wie hießen sie doch gleich? Ach ja, Andreas und Natanael und Phillippus, Petrus natürlich. War da noch ein Johannesjünger? Menschen in offensichtlicher Bewegung, und doch sind sie vergessen. Selbst Kephas, der Fels, von dem Paulus soviel wankelmütiges und die Evangelien soviel beeindruckendes und abgründig-menschliches zu berichten wissen: selbst er ist , was sein Lebensende anbelangt, vom kulturellen Gedächtnis ausgegrenzt. Trotzdem gibt es die Worte, die wir immer hören. Trotzdem gibt es Menschen, die sich bewegen. Trotzdem steht das Werden vor Augen. Was also bleibt?

„Hier kannst du bleiben“, denke ich und setze mich in eines dieser runden Drahtgeflechtsessel, die auf den Bahnsteigen der Bahn Bequemlichkeit ( aber nicht zu lange!) verheißen. Ich war rechtzeitig zum Bahnhof gekommen, hatte am Eingang am neuen Olivenstand vorbeigesehen, dessen Besitzer ich noch aus alten Zeiten kenne, war dann in die Halle des Bahnhofes hineingegangen und hatte die für mich beruhigende Verspätung meines Zuges vernommen, war dann durch den Tunnel , der zu den Bahnsteigen führt, geschlendert: lachende junge Frauen waren mir entgegengekommen, mit hohen Rucksäcken und Handgepäck, Studentinnen offensichtlich- ach ja , dachte ich, wie war es doch früher, als ich im ersten Semester hier angekommen war, mit einem Koffer und einem Röhrenradio unter dem Arm: diese Zeit des Aufbruchs: so unvergesslich schön. Am Anfang war eine Philosophievorlesung über Plotin, nichts verstand ich, aber trotzdem. Der Weg der Gedenken in alte Zeiten zurück ist wie ein Tunnel mit dunklen Rändern, die den Blick verengen, umso deutlicher aber vergangene Richtungen beschreiben. Wenn es dann die Treppe zum Bahnsteig heraufgeht, weitet sich der Blick. Alles ist auf Ankunft und Abfahrt, auf Bewegung eingestellt. Der eingefahrene Gegenzug auf der anderen Seite des Bahnsteiges entlässt Menschen, sie mischen sich mit den Wartenden, Einsteigende laufen dem Strom entgegen. Liebende umarmen sich so, als lägen Jahre zwischen ihrem letzten Sehen. Eine Mutter versucht, ihr Kind im Kinderwagen sicher aus dem ICE zu bugsieren; das Kind schreit; der Mann, der offensichtlich zu den beiden gehört, steigt hinter der Mutter aus und schleudert seine Worte auf den Bahnsteig. Ein älteres Ehepaar, sie mit einer Gehhilfe, eilt der geöffneten Zugtür entgegen, während der Lautsprecher , der neuerdings auch englisch sprechen muss, die Abfahrt ankündigt: die Zugbegleiterin gibt den beiden ein beruhigendes Handzeichen. Der Zug fährt ab, meiner wird kommen. Neben mir steht eine Familie, mit Oma. Sie haben prall gefüllte Plastiktüten in der Hand. Der Mann, glänzende Nappa-Lederjacke, Jeans und Addidas-Turnschuhe, sieht mich mit seinen hellen Augen an, kommt auf mich zu und fragt mit rollendem R, ob es hier richtig ist, nach Bebra. Ich zucke mit den Achseln, deute auf den gegenüberliegen Bahnsteig: „Gleis 6. Oder 7. Sehen wir doch mal bei Abfahrt nach“. Ich stehe auf. Es ist Gleis 5. „Ich heiße Karl“, sagt er. „Und das ist Svetlana, meine Frau“. „Ich heiße Wolfgang“. Sie haben noch Zeit. Mein Zug jedoch kommt.

Menschen in Bewegung. Alle haben ihr eigenes Ziel. Nichts wissen wir von einander, flüchtig nur begegnen sich die Blicke, vergessen ist bald der Ausdruck der Gesichter. Wenn ich mehr erfahren wollte, müsste ich rechtzeitig aufgestanden sein, einfach hingehen und sehen. Aber das macht man ja nicht einfach so. Außerdem müsste man dazu eingeladen sein. Habe ich bei Karl etwas verpasst? Bei dem Olivenhändler am Eingang würde es übrigens gehen, vielleicht später. „ Komm und sieh“, könnte er sagen, „ich habe gerade Zeit“. Ich würde ihn nach seiner Mutter fragen, und er würde mir strahlend antworten, , dass es ihr gut gehe, aber sie hätten sich so lange nicht gesehen, es sei so schwierig mit der Politik im Iran. Und dann würde er mich fragen, ob es unserem Sohn gut ginge und ob es in der Kirche immer noch Stress gebe. Wir würden über vieles reden, miteinander lachen, würden die Politik nicht ausklammern (die deutschen Interessen im Iran und seine Erfahrungen im Widerstand gegen Chomeni), ich würde aber von mir aus zwei Themen nicht ansprechen: die Religion und die Ehe. Es gibt Ziele, die zum eigenen Lebensentwurf gehören und die durch unseren Respekt geschützt sein müssen. Doch sie dürfen uns nicht gleichgültig sein, weil sie es sind, die den Bewegungen des Lebens Richtung verleihen. Wenn ich nicht sitzen bleiben will, muss ich aufstehen und suchen, oft genug auch mit neuen Augen suchen, um die richtige Richtung auszumachen. Gut ist es, dabei nicht allein zu sein und das eigene Suchen des anderen in seinem Grund zu verstehen. Denn: Jeder sucht.

„Was sucht ihr“? Es ist der erste Satz, den Jesus im Johannesevangelium sagt. Weil er um diese Grundeinstellung menschlicher Existenz weiß, sie auch nicht anhält, sondern zulässt: „Komm und sieh“. Es wird übrigens offen gelassen, ob die Suchenden auch gefunden haben oder ob sie deshalb in Bewegung sind, weil das Ziel selbst noch nicht erreicht ist. „ Wo bleibst Du?“ fragen die Jünger ihren Herrn; Luther übersetzt mit: „Wo ist deine Herberge“, und hat Recht damit, , denn man kann nur da bleiben, wo man zu Haus ist, sich geborgen weiß und sich nichts ändert. Doch wo ist das? Die einladende Antwort Jesu, zu kommen und zu sehen, verrät nichts über den Ort des Bleibens. Kein Ort. Nirgends?

Namen werden genannt. Wie Schemen vielleicht. Nichts ist fassbar. Aber: sie sind ansprechbar, die Menschen in Bewegung. Bei der ersten Begegnung mit dem Bruder des Andreas spricht Jesus mit dem Namen an, ohne dass dieser sich vorstellen muss. Bei Gott muss man sich auch nicht vorstellen, braucht nicht darstellen, was man ist und so. Der kleinbürgerliche Dorfschulze des 18. Jahrhunderts pflegte den Wanderer zu fragen: „Wie heißt du, was kannst du, woher kommst du, wohin gehst du“ und stellte so die Frage nach dem Namen in den Zusammenhang der Kontrolle. Bei Gott ist jedoch alles klar. Deshalb gibt es für ihn nur die Anrede. Sie bringt den Menschen anders auf den Weg. Frei, wie fröhliches Reisen. „Mache dich auf in ein Land, dass ich dir zeigen werde“.

Damit wird nicht verstummen, werden uns für die Weg-Zeit uns seine Namen genannt: „Siehe, das ist Gottes Lamm. Der Messias; Josephs Sohn, aus Nazareth; Rabbi; Gottes Sohn; König von Israel; der Menschensohn“: sieben Namen also, die das Licht der Welt jeweils von einer ganz verschiedenen Seite bezeichnen und in ihrer zeichenhaften Vielgestalt zugleich Ausdruck einer Einheit sind, die sich nicht in Worte fassen lässt. Zugleich aber erinnern sie an die sieben Tage der Woche, an die Zeit der Schöpfung und was am Anfang war, aber vor allem das: über jeden Tag, über jeden Augenblick unserer Wege steht sein Name, so verschieden die Richtungen auch sind. Und wenn der iranische Olivenhändler das Thema Religion ausklammert, so steht doch das Ziel der Gerechtigkeit des Höchsten vor Augen; und wenn die Familie von Karl und Svetlana in Bebra endlich angekommen sind, so sollen sie wissen, dass sie bleiben und sicher wohnen können und auch genug haben. Und wenn der schreiende Vater nicht mehr tragen kann, so soll er wissen, dass es einen gibt, der tragen will, auch die Schuld. Und wenn die Liebenden sich loslassen müssen, so sollen sie wissen, das es ein Bleiben gibt. In seiner Liebe. Und wenn wir, so verschieden wir sind, uns auf die Wege unseres Lebens machen: bestimmt, irgendwann werden wir sehen und schmecken, wie freundlich der Herr ist. Das ist dann, wenn Gott geworden ist, zum wahren Menschen und zum wahren Gott. Wenn Himmel und Erde sich berühren und wir eins sind in ihm und er in uns.

P. Wolfgang Petrak
Schlagenweg 8a
37077 Göttingen
w.petrak@gmx.de


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