Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

6. Sonntag nach Trinitatis, 3. Juli 2005
Predigt über Matthäus 5, 20-26, verfasst von Hans-Ole Jørgensen (Dänemark)
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(Text der dänischen Perikopenordnung)

In dem Gebet, das ich heute am Anfang des Gottesdienstes vorm Altar gesprochen habe, bekannte ich mit den Worten von Bischof Johs. Johansen aus der autorisierten Beilage zur Agende, dass „wir nicht imstande sind zu leben, wie Gott will“. In der eigentlichen Ausgabe des- selben Gebets in der Agende wird die Sache mit den Worten ausgedrückt, dass wir „verlorene Sünder“ sind, während wir in der alten Formulierung von vor 1992 „arme und elende Sünder sind“.

Die Ausdrücke variieren, aber in ihnen allen klingt es schlimmer, als wir es in modernen Zeiten gern haben möchten. Was wir hören wollen, ist dies, dass wir so, wie wir sind, gut genug sind, und dass es, wenn etwas nicht in Ordnung ist, bestimmt nicht unsere Schuld ist. Dass wir Opfer sind, ja, das mögen wir wohl zugeben, Opfer von irgendwas – aber Schuldner? – das ist von gestern, und das wäre nicht recht für einen modernen Menschen.

Lustig ist das. Denn wenn etwas gut gegangen ist, dann wollen wir ja sehr gern diejenigen sein, an denen es gelegen hat. Ging es aber schlecht, nein, dann waren wir es nicht. Dann laufen wir davon und konnten nichts dazu.

So ganz schlüssig ist das nicht. Ich glaube, es wäre sehr viel besser, zu Kreuze zu kriechen. Die notwendigen Eingeständnisse zu machen und so hineinzufinden in die Befreiung, die es in Wirklichkeit bedeutet, wenn man sich selbst auch als einen Sünder verstehen kann.

Unmittelbar klingt das nicht wie eine Befreiung. Das ist mir klar. Denn wenn wir verurteilt werden und uns unablässig all das Betrübliche angelastet wird, dass wir unrettbar Sünder sind, alle zusammen, dann sind wir doch einem Druck ausgesetzt – einem Druck, der schwer wiegt und von dem wir kaum anders denken können, als dass er uns ein Klotz am Bein sein wird.

Und so ist es auch. Ohne die Schuld, die wir uns unterwegs in unserem Leben aufladen, hätten wir es zweifellos leichter gehabt. Aber diese Wahl gibt es für uns einfach nicht. Denn wir können nicht einfach davonlau­fen.

Die Schuld ist ja nicht etwas, was höflich anfragt, ob wir sie haben mögen oder nicht; sie ist da mit ihrem Druck, auch wenn wir versuchen wegzuschauen und es ablehnen, sie unsere Schuld sein zu lassen.

Die Schuld ist keine Erfindung der ernsthaften Pastoren. Die Schuld ist auch da, wenn alle Kirchen niedergerissen wären und alle Pastoren andere Arbeit gefunden hätten. Denn die Gerichte über uns sind die eigenen Gerichte des Lebens. Und wir lügen, wenn wir vor ihnen davonlaufen.

„Was ich dir heute befehle,“ sagt Moses, „das sind die eigenen Gesetze des Lebens“ – „du kannst den Forderungen nicht entkommen, wie immer du dich drehen und wenden magst.“ „Sie wohnen in deinem eigenen Herzen.“

Und wenn die Forderungen die eigenen Forderungen des Lebens sind, ja, dann sind es die Gerichte auch. Wir entgehen ihnen nicht. Und deshalb gibt es für einen Menschen in dieser Welt keinen Weg zur Befreiung, der um sie herumkäme – Entschuldigungen sind jämmerlich und taugen zu nichts, wenn man schuldig ist – der Weg geht direkt hindurch: du sollst Mut haben, schuldig zu sein, du sollst Mut haben, Mensch zu sein!

Und bei Jesus heute enden wir an demselben Punkt.

Er sagt: „... schon, der, der seinem Bruder zürnt, ist schuldig“ – und also nicht erst der, der tötet, wie es den Alten gesagt war. Schon der, der zürnt... Das wird viele treffen.

„Wenn eure Gerechtigkeit diejenige der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht bei weitem übersteigt,“ sagt er auch, dann ist das noch nicht genug!

Aber wie in aller Welt sollte dás möglich sein? Die Schriftgelehrten überwachten pedantisch jeden einzelnen Schritt, den sie taten. Sie übten sich täglich im Gesetz. Sie peinigten sich selbst damit, gerecht zu sein bis zum Äußersten. Kein Leben war geradliniger als das ihrige. Wie sollten da gewöhnliche Menschen, die anderes zu tun hatten als das Gesetz zu studieren und darüber zu wachen, dass es eingehalten wurde im Großen wie im Kleinen, wie sollten sie gerechter sein können als diese Schriftgelehrten? Das wäre dasselbe, wie wenn man Tylor Hamilten oder Lance Armstrong auf einer Steigung der ersten Kategorie in den Pyrenäen überholen wollte.

Das ist gewöhnlichen Menschen nicht möglich, und sollen diese anspruchsvollen Worte – und alle die anderen dieser Art aus der Bergpredigt Jesu – einen Sinn haben, dann kann es nur der sein, befreiend zu sagen, dass es Menschen unmöglich ist. Wir sind nicht gut genug, nicht fromm genug und nicht liebevoll genug für das, was das Leben von uns verlangt. So steht es mit uns Menschen, das heißt Mensch sein. Und aus diesem Grunde sind wir gezwungen, selbst in den schönsten Sommerliedern von der Erde zu singen, wenn es denn ganz wahr sein soll, dass sie „von einer Tiefe des Glücks träumt, die sie nicht erreichen kann“.

Man kann sehr wohl die Frage stellen, ob die Forderungen, die Jesus stellt, nicht allzu wild und allzu übertrieben sind. Warum muss es denn so anspruchsvoll sein, Mensch zu sein, dass wir es nicht können, mit einem bloß einigermaßen angemessenen Einsatz? Wenigstens die Besten unter uns? Warum könnte die Forderung nicht einfach eine Forderung nach gewisser angemessener und tunlicher äußerer Rücksichtnahme sein, warum muss sie dort ins Herz kommen, wo sie bei Jesus hineinkommt? Dort hinein, wo es selbst mit dem besten Willen nicht möglich ist, den Forderungen nachzukommen?

Aber das muss sie – wiederum – weil wir es selbst so verlangen, weil es dies ist, was in unserem eigenen Herzen wohnt. Denn trotz all des Untunlichen wissen wir sehr wohl, dass wir uns selbst nicht gern mit weniger begnügen. Die Stelle, an der unser Leben gelingt, ist ja nicht dort, wo wir nur das auswendig Schöne und Korrekte antreffen. Wir verlangen Gerechtigkeit, und wir ziehen Grenzen für das, was wir uns gefallen lassen. Aber das Gerechte ist uns nicht genug. Soll das Leben blühen, dann haben wir mehr nötig als das. Wenn es nicht Menschen in unserer Nähe gibt, die sich uns gegenüber warm und gut öffnen und uns von dem geben, was vom Herzen kommt, dann genügt das nicht, um uns am Leben zu halten. Dann bekommen die Blumen welke Farben und einen armen Duft. Wir können nicht leben ohne das, was Jesus verlangt. Wir verlangen es selbst. Das sind keine unfasslichen oder fernen Worte.

Also auf die Forderung zu verzichten, um uns Erleichterung zu verschaffen, würde auch heißen, an dem Ast zu sägen, auf dem wir selbst sitzen. Es würde auch heißen, die unerträgliche Leichtigkeit des Lebens zu legitimieren und hinten herum zu erlangen. Es wären Sommerlieder, mit Träumen zu singen, die wir erreichen könnten, aber es wären kleinere Träume. Und wir würden nicht von ihnen leben können.

Dann lieber das Leben groß sein lassen und mit zur Bande derer gehören, die den Forderungen nicht entsprechen und Sünder zu nennen sind. Dann lieber dort sein, wo die Größe der Forderungen alle bei derselben Stange festhhält, in derselben Gemeinschaft, dich und mich und jeden anderen Menschen, damit wir immer wissen können, dass wir grundsätzlich zur selben Familie gehören. Und dass nichts nur die Schuld der Anderen ist.

Hans Blix – der schwedische Leiter der UN-Waffeninspektionen im Irak – sagte einmal in einem Fernsehinterview: wenn wir doch nur lernen könnten – wir alle etwas mehr –, „das Gesicht zu verlieren“, dann würde das mithelfen können, die Menschheit zu retten. Wenn wir einmal zu dem gemeinsamen Eingeständnis gelangen könnten, dass das Vollkommene von niemandem von uns erreicht werden kann, dann wären wir schon weit gekommen. Und dann würden vielleicht mehr Träume in Erfüllung gehen. Das Gesicht verlieren. Das mögen wir nicht gern. Aber es setzt gutes Leben frei, wenn wir es wagen. Und das würde zweifellos die Zusammenarbeit fördern.

Und im Haus der Kirche ist es jedenfalls dies, was lebt. Hier lassen wir die eingebildeten Lügen über unsere eigene Vollkommenheit hinter uns, hier werden wir befreit zu der Gemeinschaft der Ohnmacht, die die wirkliche ist, und wir bekommen den Mut, der uns christlich gegeben ist, hier zu sein. Den Mut, das zu sein, was wir sind, auch schuldig.

An dieser Stelle ist Befreiung, wenn es sie denn gibt. Der Weg geht nicht außen herum, sondern mitten hindurch.

Das Besondere am Christentum ist ja doch auch nicht – was manche Menschen manchmal meinen – seine Rede von Schuld und Sünde und Gericht. Es spricht davon, ja, aber das könnten wir und alle Welt sehr wohl selbst tun. Das Besondere am Christentum ist das Wort von der Vergebung der Sünden, dort wo er, Jesus, sagt, dass er nicht gekommen ist, um die Gerechten zu rufen, sondern die Sünder.

Manchmal möchten wir glauben, nur wenn der Mensch groß ist und strahlend und gelungen und im Stande, seine Aufgaben zu lösen, nur dann ist er Gegenstand für den guten Willen Gottes. Manchmal glauben wir, zuerst hätten wir selbst uns zusammenzunehmen und größer zu werden, als wir tatsächlich sind; und dann werde Gott sich unserer annehmen.

Aber in einem solchen Denken gibt es keine Befreiung. Das war u.a. Martin Luthers Erfahrung in seinem sogenannten Klosterkampf – der Kampf um einen gnädigen Gott, wie es in seiner Sprache hieß – und so hat er es seitdem sein Leben lang aller Welt zu sagen versucht: den guten Willen Gottes kann man sich nicht verdienen, wir sind, was wir sind und können uns nicht selbst an den Haaren herausziehen, den Sinn des Lebens sammelt man nicht, indem man von Gesetzeseinhaltung zu Gesetzeseinhaltung fortschreitet.

Aber Jesus hatte ihn bei sich, als er kam, jedenfalls zu einem guten Stück. Und das Besondere am Christentum ist noch immer, dass er zu uns gekommen ist, zu uns, wie wir sind, die wir aber den Mut geschenkt bekommen müssen, um die zu sein, die wir sind.

Dieser Mut liegt in dem Wort von derVergebung der Sünden, das nicht bedeutet, dass alles gleichgültig sein kann, sondern dass Gott etwas anderes mit uns will als unsere Schuld und Scham. Das Wort von der Vergebung der Sünden ist dies, dass Gott noch immer seine Kinder liebt und noch immer unser Leben will und die lebhaftesten Träume davon hat.

Der schwedische Schriftsteller Göran Tunström erzählt einmal in seinem Buch über Jesus, dass er auf einer Seereise einige Gefangene in Fesseln bemerkt unten im Lastraum des Schiffes. Jesus wagt sich in die Finsternis hinein, wenn er die Möglichkeit dazu hat, und wechselt einige Worte mit den Unglücklichen. Er hat nicht die Macht, ihr Schicksal zu ändern, aber „er wäscht ihre Gesichter mit Wasser, so dass man sehen kann, dass es Menschen sind,” sagt Tunström.

Und das war es, was Jesus immer an Menschen tat, denen er begegnete. Er handelte in seinen Worten und Taten, so dass man sehen konnte, dass sie alle Menschen waren, auch diejenigen, der sehr schmutzig und an Finsternis irgendeiner Art gefesselt waren. Und das hat seine Bedeutung. Es bedeutet, dass wir noch immer Gott am Herzen liegen, auch hier außerhalb des Paradieses, wo das Vollkommene etwas ist, was wir nur in kurzen und flüchtigen Augenblicken erreichen können.

Und Gottes Fürsorge war nicht mit dem Sündenfall zuende.

Denn Gott ist nicht bloß Leben in allem, was existiert. Gott ist auch ein leidenschaftliches Mitgefühl mit allem, was lebt. Er ist das, was dem Spatz Mut gibt, Spatz zu sein, und dem Baum Mut, Baum zu sein, und was dem Kind Mut gibt, Kind zu sein, und dem Sünder Mut, sich über das Dasein zu freuen.

Es ist der Mut, der jetzt der deinige und der meinige sein wird. Amen.

Pastor Hans-Ole Jørgensen
Hyrdestræde 5
DK-6000 Kolding
Tel.: ++ 45 – 75 52 06 61
E-mail: haoj@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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