Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

6. Sonntag nach Trinitatis, 3. Juli 2005
Predigt über 5. Buch Mose 7, 6-12, verfasst von Elisabet Mester
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5. Mose 7, 6-12 rev. Luthertext
„Du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, auserwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern – sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat er euch hinausgeführt mit mächtiger Hand und hat euch erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten. So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen. So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust. Und wenn ihr diese Rechte hört und sie haltet und danach tut, so wird der HERR, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, wie er deinen Vätern geschworen hat.“

EG 249, 1+2

„Lieber Gott!

Ich weiß, wir sind das auserwählte Volk. Ich bin dir auch dankbar für alles – aber könntest du mir nicht einmal einen Gefallen tun und statt unseres Volkes ein anderes auserwählen?“ So betet ein frommer Jude in einer Geschichte, die der israelische Schriftsteller Ephraim Kishon geschrieben hat. Der so betet, ist Vater von zwei Söhnen. Er weiß nicht, ob er sie wiedersehen wird, denn sie sind beide als Soldaten im Krieg.

Erwählt sein – das ist nicht leicht. Es kann bedeuten, dass man immer wieder angegriffen und verfolgt wird; womöglich, weil andere missgünstig sind. Den Völkern kommt das arrogant vor, dass da ein Volk von sich sagt: wir sind erwählt. Jeden Freitag Abend danken die Kinder Israel Gott mit den Worten: „Du hast uns erwählt und uns von allen Völkern geheiligt und uns deinen heiligen Sabbat in Liebe und Gnade zum Erbe gegeben.“ - „Eingebildete Streber“, denken die anderen vielleicht, und ärgern sich dabei ganz gewaltig, dass nicht sie zu diesen Auserwählten gehören. „Die halten sich wohl für was Besseres“ – so sagen die Neider. Für die jüdischen Menschen sieht das allerdings anders aus. Für sie heißt „erwählt sein“ nicht, dass sie von sich aus besser wären als andere Völker, und erst recht nicht, dass sie es besser hätten als die anderen.

Vorteile haben sie durch ihre Erwählung nicht gehabt. Im Gegenteil. Die anderen sind eifersüchtig auf ihr Privileg, und Gott, so heißt es, verfolgt eifersüchtig die Übertretungen seiner Gebote – bei seinen Erwählten. Israel trägt an seiner Aufgabe mitunter wie an einer Last. Leicht ist das nicht: heilig zu leben, die Gebote der Bibel zu beherzigen und sie am Sabbat ebenso wie im Alltag zu üben. Das Volk der Juden ist dazu auserwählt, Gottes Wort zu halten, und das bedeutet eben: die Liebe Gottes in die Tat umzusetzen, seine Wahrheit zu bezeugen, seine Lehre weiter zu geben an die Welt. Die Juden tun das übrigens nicht, indem sie missionieren. Sie versuchen überhaupt nicht, andere für ihren Glauben zu gewinnen. Sie tun das vielmehr, indem sie versuchen, ein gutes Bild abzugeben. Ein Vor-Bild, hinter dem man mehr vermuten soll. So zu leben, dass man gefragt wird: wie kommst du dazu? Wer bringt dich dahin, so viel Gutes zu tun? Woher nimmst du die Kraft?, das nehmen sie sich vor. Ihr Auserwähltsein hat also nichts mit Dünkel zu tun, sondern vielmehr mit Dienst. Es ist keine Vermessenheit, sondern eine Verpflichtung für sie, wenn sie zu Beginn des Sabbats sagen: „Du hast uns erwählt und uns von allen Völkern geheiligt.“ Es heißt, berufen zu sein zu einer großen und wichtigen Aufgabe. Gottes Liebe weiter sagen, weiter geben. Dazu berufen zu sein ist schwer. Es verlangt viel. Viel Mut und Kraft und Stärke des Herzens.

Gott wird sich wohl überlegt haben, welchem Volk aus allen Völkern seiner Menschheit er diese Aufgabe überträgt. Es gibt ja große und geradezu großartige Völker auf dieser Erde. Manche schaffen es, ihre Denkweise, ihre Lebensart und ihre Sprache überall hin zu tragen, bis in der letzten Winkel eines jeden Kontinents. Jedenfalls für eine Zeitlang. Manche Völker haben eine so atemberaubend schöne und stilvolle Architektur hervorgebracht, dass ihre Bauwerke auch tausend Jahre später noch als „klassisch“ gelten. Manche haben ein so großes und weites Land voller geographischer Besonderheiten, dass man dort einen Nationalpark an den anderen setzen könnte.

Gott hat sich aber offenbar ganz andere Gedanken gemacht. Er hat sich für seine große Mission ein Volk ausgesucht, das klein und abgerissen war, ausgebeutet von Sklavenhaltern und fast ohne Hoffnung darauf, dass es einmal seine Freiheit wieder gewinnen könnte. Kein großes Volk also für eine so große Sache, wie Gott sie vorhatte. Nicht die Reichen und Erfolgreichen wollte er auf seine Seite ziehen, sondern die Kleinen und Schwachen. Das scheint irgendwie typisch zu sein für Gott, und wer die Bibel liest, wird sagen: es gehört zu seinem Programm. Dieser Gott macht sich selber auch klein, wenn es sein muss. Wenn es ihm darum geht, die Herzen der Menschen zu gewinnen. Dem Mose erscheint er in einem brennenden Busch, und der Dornbusch ist tatsächlich der kleinste aller Bäume, die dort wachsen. Er gibt ihm seine Gebote auf dem Berg Sinai, und das ist wirklich der kleinste der Berge, die dort stehen. Als wollte Gott sagen: „Schau her, ich bin dir nah. Ich bin nicht zu groß für dich oder zu weit entfernt. Ich bin hier. Bei dir. Hab keine Angst.“

Israel hat diese Rede verstanden. Es hat sich von diesem Gott aus der Knechtschaft führen lassen und seine Gebote angenommen. Es war ein kleines Volk, ein stark gebeuteltes dazu. Andere waren wohlhabend und bedeutend, andere waren gebildet und selbstbewusst. Israel aber hat verstanden: Hier kommt ein Gott, der stellt sich auf unsere Seite. Einer, der die Sklaverei nicht duldet und uns frei macht. Der die Gleichgültigkeit nicht erträgt und uns liebt. Der die Mutlosigkeit beseitigt und uns ein Zuhause verspricht.

Ja, Gott hätte wirklich andere Völker auserwählen können, sein Wort in die Welt zu tragen. Hätte er die zehn Gebote an Ägypten gegeben, sie hätten herrlich gestrahlt im Glanz dieser großen Kulturnation. Hätte er sie den Griechen gegeben, sie hätten noch manches Neue aus ihrem reichen Gedankengut hinzugefügt und sie als geniale Philosophie unter die Leute gebracht. Hätte er sie den Römern gegeben, so hätten sie die Einhaltung seiner Gebote auf ihre Weise wirksam durchgesetzt, notfalls mit Soldaten und Waffengewalt.

Gott aber machte zum „Licht der Völker“ (Jes. 49,6) eine kleine Gruppe von Menschen, der er es aus ganz bestimmten Gründen zutraute, der Welt bekannt zu machen, was in seinen Augen gut und was nicht gut ist. Wer weiß, wie es sich anfühlt, für die Herrschenden ihre Pyramiden zu bauen, wird hoffentlich nicht andere versklaven. Wer nicht vergessen hat, dass Gott die Streitwagen der Ägypter im Meer versinken ließ, wird wohl nicht auf Militärmacht setzen. Wer in den Füßen noch spüren kann, dass seine Vorfahren vierzig Jahre durch die Wüste gewandert sind, bis sie das gelobte Land erreichten, wird so leicht die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht aufgeben. Nicht Sklaverei, sondern Freiheit will Gott für seine Menschen; nicht Gewalt, sondern Frieden; nicht Mutlosigkeit, sondern Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben für alle. Um diese Ideen zu verbreiten, wählte er sich Israel als Boten aus.

Tatsächlich wurden diese Ideale zur Grundlage dessen, was wir heute „Zivilisation“ nennen. Demokratie und Menschenrechte, sie sind durch das Volk Israel sozusagen „zur Welt gebracht“ worden, und das, obwohl die Juden immer eine kleine Gruppe innerhalb der großen Menschheit darstellten. Dass wir einen arbeitsfreien Tag in der Woche haben, dass es überhaupt die Woche aus sieben aufeinander folgenden Tagen gibt, dass wir lernen, aufeinander Rücksicht zu nehmen und zusammen zu halten, dass wir die Schwachen schützen und die Armen schonen sollen, all dies sind Lehren, die sich durch das Volk Israel verbreitet haben. Dass die Kinder möglichst früh das Lesen beigebracht bekommen, und zwar die Mädchen ebenso wie Jungen, dass es wichtig ist zu lesen und sich sein Teil auch dazu zu denken, das haben die Völker der Welt sich von den Juden abgeguckt. Dass wir nicht Rache üben sollen, wenn jemand uns etwas angetan hat, sondern dass der Schaden ersetzt werden muss, notfalls eben mit Schmerzensgeld, das haben wir aus dem zweiten Buch Mose (Ex 21, 24) übernommen. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“: das heißt nicht, dass etwa Augen ausgestochen und Zähne ausgeschlagen werden sollten. Es heißt zunächst einmal: Mache nicht aus Rache die Verletzung, die du deinem Gegner zufügst, größer als den Schaden, den du selbst davon getragen hast. Mehr als den Wert eines Zahns kannst du nicht von dem verlangen, durch dessen Schuld du einen Zahn eingebüßt hast. Das bedeutete seit jeher, dass auf zivilrechtlichem Wege ein finanzieller Ausgleich gesucht wurde. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ heißt also, dass das alte Gesetz der Rache abgelöst wird durch das neue Gesetz der Wiedergutmachung im Schadensfall. Es bedeutet Rechtstaaltichkeit und Klarheit. Man muss sich das einmal vorstellen in einer Welt, in der die Rache so geläufig war wie bei uns der Wechsel der Jahreszeiten. Wenn einer einem anderen etwas angetan hatte, musste das zwangsläufig gerächt werden. Alle Familienmitglieder eines Geschädigten waren sogar dazu verpflichtet, sich daran zu beteiligen. Und „rächen“ bedeutete, dass man auf jeden Fall den Gegnern etwas Schlimmeres zufügte als das, was man in der eigenen Familie erlitten hatte. Damit man nicht am Ende selbst als der Dumme dastehen würde, der am meisten eingesteckt und am wenigsten ausgeteilt hätte. Eine nicht enden wollende Spirale der Gewalt von Stehlen und Zurückklauen, von Schlechtreden und Wieder-Verleumden, von Schlagen und Zurückhauen war also im Gange, bis ein Volk dem Wort Gottes folgte und ganz grundsätzlich damit aufhörte. Ein ordentliches Gericht hatte jetzt zu regeln, wie groß der erlittene Verlust war, und wie hoch dementsprechend die Entschädigung auszufallen hatte. Andere Wege waren nicht mehr erlaubt, Selbstjustiz und Willkür verboten. Heute gilt das auch bei uns, hoch im Norden von Europa, wo seinerzeit die Bären hausten und unter den Menschen nur das Recht des Stärkeren galt. Es gilt auch bei uns als selbstverständlich, dass Verfolgte Asyl genießen, dass Kriegsgefangene menschlich behandelt werden müssen, dass man Gottes Kreaturen nicht schinden darf - für uns ist das heute alles völlig normal. Den wenigsten von uns ist bewusst, dass wir dies übernommen haben von dem kleinen Volk, das Gottes Erwählung angenommen und seine Botschaft in die Welt getragen hat.

Nun ist die Botschaft von der Menschenliebe Gottes zu uns ja noch auf anderem Weg gedrungen als nur über den einer sich zum Bessern hin entwickelnden, fortschreitend menschlicher werdenden Kultur. Wir halten uns an Jesus von Nazareth, den Nachkommen Davids, in dem sich Gottes Liebe für uns verkörperte. Dieser Menschensohn, der eigentlich geschickt war zu den verlorenen Schafen Israels (Mt. 15,24), hat uns erreicht mit seiner Botschaft. Manche Kirchenleute haben daraus geschlossen, dass jetzt wir das „wahre Israel“ seien, dass Gottes Berufung fortan nur uns, den Christen, gelte. Das ist falsch, Gott sei Dank. Denn Gott ist treu. Er verwirft nicht die, die er erwählt hat. Weh uns, wenn er das täte! Dann hätten wir wohl keine Möglichkeit mehr, uns zu ihm und seinem Volk zu zählen. Nein, Gott verlässt sein Volk nicht, und gerade dafür loben ihn alle Völker. „Laudate omnes gentes“, „Lobsingt und preist, ihr Völker“, haben wir zu Beginn des Gottesdiensts miteinander gesungen. Aus dem 117. Psalm kommt dieser Satz, und der ganze Psalm besteht überhaupt nur aus zwei Sätzen. Im zweiten Vers wird hier erklärt, wofür die Völker der Welt Gott lobsingen und preisen sollen: „ Denn seine Gnade und Wahrheit waltet über uns in Ewigkeit. Halleluja!“ „Uns“ steht hier nicht für uns. Es steht für Israel. Dass Gott seine Gnade und Wahrheit über seinem erwählten Volk walten lässt, das ist also der Grund für das Lob, das alle Heiden ihm spenden können. Wo kämen wir auch hin, wenn Gott seine Erwählung rückgängig machte? Nein, dass wir erwählt sind und dass für uns, einen jeden von uns, ein Platz im Himmel reserviert ist, das liegt an Gottes Gnade und Treue allein. Und an seiner großen Liebe zu uns. Denn aus Liebe hat er uns Menschen geschaffen nach seinem Bilde, aus Liebe hat er Israel berufen zu einem Licht der Völker, aus Liebe hat er seinen Sohn Jesus Christus in die Welt geschickt, um uns zu zeigen, wie gut er es mit uns meint.

Amen.

EG 294, 1+3

Elisabet Mester
mester@annastift.de


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