Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

8. Sonntag nach Trinitatis, 17. Juli 2005
Predigt über Jesaja 2, 1-5, verfasst von Reinhard Weber
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Völkerwallfahrt zum Zion und eschatologisches Friedensreich

UT Isaiah 2:1 Dies ist's, was Jesaja, der Sohn des Amoz, geschaut hat über Juda und Jerusalem: 2 Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, 3 und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, laßt uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, daß er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. 4 Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. 5 Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, laßt uns wandeln im Licht des HERRN!

Der Predigttext für diesen Sonntag ist ein locus classicus, ein berühmtes, klassisches Stück Bibel, ein zentrales, bekanntes Segment, in dem sich Grundlinien atl. Theologie konzentriert finden, wie in einem Nucleus kondensiert, und darum wird hier besonders offensichtlich, wie es mit den dort zum Ausdruck gebrachten Theologoumena, diesen Fundamentalaussagen altjüdisch-jesajanischer Gottes- und Weltauffassung, heute in unserem Leben und Glauben als europäische Christen des 21. Jahrhunderts eigentlich steht, also wo wir stehen, wie es um uns und unseren Glauben, unsere Gottes- und Weltauffassung denn steht. Wir können uns in diesen biblischen Zeilen des ersten Jesaja wie in einem Brennglas zusammengefaßt spiegeln.

Zunächst, unser Text hat ein klares Profil: zwei Aspekte oder Hauptaussagen sind in ihm auf eine dritte Kernaussage hin ausgelegt bzw. werden von ihr grundgelegt und bestimmt. Auf ihr ruht das eigentliche Gewicht des Textes, sie bildet seinen Ausgangspunkt.

Üblicherweise wird sie mit dem Stichwort der Zionstheologie benannt. Damit ist gemeint, daß der heilige Berg in Jerusalem, der Zion, den Kulminations- und Verdichtungspunkt eines bestimmten Glaubens, einer bestimmten Hoffnung, einer ganz spezifischen Gottesorientierung bildet. D.h., die ursprl. rein topographische Bezeichnung für die von David eingenommene Jebusiterburg auf der Südhälfte des Osthügels von Jerusalem (2. Sam 5,6ff) hatte bald ihren lediglich geographischen Sinn verloren bzw. hinter sich gelassen und war besonders in prophetischer Zeit zu einer eminenten theologischen Kategorie avanciert, die für die Stadt als ganze stehen konnte und so noch in unserem bekannten Weihnachtslied firmiert ("Tochter Zion"). Unter diesen Voraussetzungen werden nun mit ihr ganz bestimmte Heilshoffnungen verbunden, die in unserem Text sich in die klassische Form der miteinander in Zusammenhang stehenden Erwartungen einerseits der Völkerwallfahrt zum Zion und andererseits des eschatologischen, des endzeitlichen Friedensreiches umgesetzt haben, welche sich mithin auf der Grundlage und unter Voraussetzung der Zionstheologie erheben.

Das also sind - kurz zusammengefaßt - die drei Komponenten, mit denen wir es in dem heutigen Predigttext zu tun haben. Schauen wir nun etwas genauer hin.

Was hat es mit dem Zion und seiner Bedeutung auf sich?

Noch in der Richterzeit war Jerusalem eine heidnische Stadt gewesen (Ri 19,11f), die die Israeliten bei ihrem Einzug ins "Gelobte Land" nicht hatten erobern können (Ri 1,21); erst dem listigen David erlag ihre Widerstandskraft, der sie forthin zu seiner persönlichen "Stadt Davids" und damit zum politischen Zentrum des unter seiner Königsherrschaft entstehenden und aufblühenden Großreiches machte. Indem er überdies die zuvor in Silo befindliche Bundeslade, das gemeinsame Heiligtum des Zwölfstämmevolkes, nach hier überführte (2. Sam 6), gab er seiner persönlichen Eroberung und Besitzung auch den Charakter der religiösen Kapitale, der noch dadurch befestigt wurde, daß der Prophet Nathan im Namen Gottes ihm die Fortdauer seines Königshauses garantiert (2. Sam 7) und das Wohnen Jahwes im von seinem Sohn zu erbauenden Tempel geweissagt hatte, den Salomo dann auch alsbald realisierte (1. Kön 6-8). Damit ist die besondere, ja einzigartige Stellung Zion-Jerusalems in Israel gesichert und befestigt. In ihm hat das Volk seine politische und religiös-kulturelle Einheit. Dementsprechend wird in der atl. Tradition häufig davon gesprochen, daß sich der Gott Israels als seine irdische Wohnung den Zion und hier den Tempel erwählt hat (Ps 78,68f; ), so paradigmatisch etwa in Ps 132,13-18:

Denn der HERR hat Zion erwählt, und es gefällt ihm, dort zu wohnen. 14 »Dies ist die Stätte meiner Ruhe ewiglich; hier will ich wohnen, denn das gefällt mir. 15 Ich will ihre Speise segnen und ihren Armen Brot genug geben. 16 Ihre Priester will ich mit Heil kleiden, und ihre Heiligen sollen fröhlich sein. 17 Dort soll dem David aufgehen ein mächtiger Sproß, ich habe meinem Gesalbten eine Leuchte zugerichtet; 18 seine Feinde will ich in Schande kleiden, aber über ihm soll blühen seine Krone.«

Da findet sich schon alles zusammen, der Erwählungsgedanke, der sowohl dem Zion als auch den Davididen gilt und in der Messiasverheißung seinen Höhepunkt hat.

Nun, mit Jerusalem und dem Zion wie auch mit den Davididen hat es ja dann im Verlaufe des jahrhundertelangen Geschichtsdramas seine eigene Bewandtnis gehabt, auf deren ersten Teil schon der erste Jesaja zurückblicken kann. Das spätere vielfach katastrophische Geschick konnte er allerdings noch nicht ahnen. Und dennoch schaut er schon weit voraus, weiter im Grunde als alles geschichtliche Geschehen seiner Natur nach je reichen kann. Er schaut in die "letzte Zeit", in die Endzeit, oder genauer noch: in das Ende der Zeit.

Die dauernde Bedrohtheit der Stadt und des Tempels soll dann ein Ende nehmen, in irrealer, die faktische irdischen Zustände überfliegender Vision wird der Zion nicht nur zum Mittelpunkt der Welt, sondern auch zum höchsten Berg überhaupt, der über alles Weltliche erhaben ist, der herausragt, der alles andere überragt. Und zu dieser zentralen Gestalt pilgern nun alle Völker der Erde, um dort die neue Thora Jahwes, des Gottes Israels, zu hören und zu lernen, die auf dem Zion offenbart wird. Er ist der Offenbarungsort der Endzeit für die ganze Menschheit. Und Inhalt und Sinn und Verwirklichungsgestalt dieser neuen, universalen Thora wird schließlich das kosmische Friedensreich sein, in welchem Krieg ein Ungedanke, eine Unwirklichkeit wird, weil selbst die Werkzeuge des Krieges nun zu Friedensmitteln transformiert werden, ausgedrückt in dem berühmten Bild des Umschmiedens von Schwertern zu Pflugscharen. Kriegskunst wird zum Anachronismus, Generalstäbe und Führungsakademien haben ausgedient. Diesen Traum träumt Jesaja mit Blick auf den Zion, und man kann darin erkennen, von welcher überragenden Bedeutung für ihn diese Zionsorientierung ist, daß er ihr noch in den überfliegendsten, geschichtstranszendentesten Bildern Tribut zollt und die israelitische Monolatrie zum universalen Monotheismus hin durchstößt, also den Eingottglauben zum Alleingottglauben überhöht.

Zwar fehlen bei ihm noch die später und ansonsten nicht seltenen massiven Bedrohungen und Erniedrigungen, ja auch Vernichtungsorgien gegenüber den herzukommenden Völkern, welche in einer Art letztem heiligen Krieg besiegt, niedergerungen, gedemütigt und teilausgerottet werden, um dann in ihren Resten Israel zu knechtischem Dienst verpflichtet zu werden, aber dennoch wird man auch hier den mindestens latent usurpatorischen Ton, und sei er auch noch so grandios und positiv verbrämt und überhöht, nicht ganz überhören können.

Aber selbst wenn man einmal davon absieht, so wirkt dieses Gesamtbild im Raum des postmodernen Gegenwartsbewußtseins doch wie das geschichtstheologische Relikt einer anderen, fremden, vergangenen Epoche, in welcher man noch utopische Hoffnungen hegte, welche der nachgeschichtliche Mensch souverän-resigniert abgelegt und auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen hat, in die "Zeit der großen Erzählungen", die Kindheitsepoche der Menschheit, als man den Märchen der Priester und Philosophen noch Glauben schenkte und sich von Illusionen einer unbefriedigten Phantasie betören ließ, welche u.a. eben auch dem Traum der Abschaffung des Krieges huldigte. Ja, die Bilder mögen großartig sein, sie sind in der Geschichte der Menschheit ja auch immer wieder hervorgezogen worden, haben das Leitvorstellungen gedient, hier und dort auch ihre eminente, wirklichkeitsverändende Kraft entfaltet, aber heute doch eher in die Sphäre der Randgruppenexistenzen verdrängt, marginalisiert.

Und liebe Zeit, am Zion herrscht heutzutage alles andere als eitel friedlicher Sonnenschein, keine schöne, harmonische Zusammenkunft der Nationen, nein, der Berg ist zutiefst gespalten, ist ein dauernder Streitapfel zwischen den Völkern, von Schwertergeklirr durchdrungen, gesichert von schwer bewaffneten militärischen Posten, von der Einheit und Einzigkeit eines gemeinsam angebeteten Gottes ganz zu schweigen. Wo ist die Zeitansage des frühen Jesaja geblieben, worauf soll man warten?

Handelt es sich bei ihr nicht um ein nie verwirklichtes, ein geschichtlich nimmer zu verwirklichendes utopisches Ideal, aus übergeschichtlichen Träumen geboren?! Nach dem Prinzip des schönen Satzes konstruiert: "Ideale sind wie Sterne, man kann sie nicht auf die Erde holen, aber man kann zu ihnen aufschauen und sich an ihnen orientieren."

Das kann man so sehen: Gott ist im Himmel, und du bist auf Erden.

Entscheidend aber ist wohl der Vers 5, dieses letzte kleine Sätzchen zum Schluß. Es stellt eine Wendung weg von den ideierten Träumen dar, und es kommt ganz trocken und selbstverständlich und nüchtern daher, fast beiläufig, ganz unprophetisch, ganz visionslos, wenig großartig, unprätentiös, zeitlich, nicht endzeitlich:

Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, laßt uns wandeln im Licht des HERRN!

Im Licht des Herrn, auch angesichts der Nachtseite der Geschichte, die ja in der Kreuzesnacht Jesu auch als Nachtseite Gottes erkennbar geworden ist, als sein ungründiger Grund, der sich in den dunklen Schatten der Menschengeschichte spiegelt. Ja, es ist ein furchtbares Wissen um das Zwielicht, welches die Gottheit in ihren geschichtlichen Erscheinungsformen umspielt, und um die Abgründe des Menschen, die sich dem zweiten Blick eröffnen! Die Postmoderne weiß das, und sie hat ihre Konsequenzen daraus gezogen, sie hat ja so viel hinter sich, und sie weiß mit Walter Benjamin auch: daß es immer so weitergeht, ist die eigentliche Katastrophe. Insofern ist ihr resignatives anything goes, ihre geschichtlose Immanenz, ihr spielerisches Durchprobieren von Allem und Jedem, ihr Unernst, ihre Funbetontheit ein wortloser Schrei, der auf seine Weise den Schrei Jesu aus der Gottverlassenheit des Kreuzes heraus nach dem verlassenden Gott artikuliert und wiederholt und damit deutlich macht, das dies der Schrei ist, der seither durch die Geschichte gellt und noch in seinen unsichtigsten Verpuppungen die Zukunft offen hält, denn er ist noch nicht beantwortet. Es ist noch unklar, was aus ihm werden wird. In ihm steckt der zukünftige Gott, der sich als solcher noch erweisen muß, der noch wird, der weder mit dem Menschen noch mit sich schon zuende ist. Dieser Schrei öffnet die Geschichte, die Menschengeschichte im Blick auf die Geschichte Gottes mit ihr. Er zeigt die prophetische Dimension der Geschichte an, indem er die Frage stellt, ob diese Welt endgültig von Gott verlassen ist? Was aus ihm, was aus ihr werden wird, steht noch dahin. Schon der erste Jesaja hat die darin liegende Frage gestellt und sie visionär beantwortet. Die Geschichte ist weiter und über ihn hinweg gegangen, und dennoch kommt sie auch immer wieder bei ihm an.

An uns ist es nur, die Frage offenzuhalten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und wir als Christen können das, indem wir seinem letzten kleinen Sätzchen Folge leisten, dieser unscheinbaren Aufforderung:

Kommt nun, laßt uns wandeln im Licht des HERRN!

Denn die für den geschichtlich begrenzten Blick des Menschen undurchdringliche und unhintergehbare Verborgenheit Gottes im Weltgeschehen und die damit einhergehende Erfahrung der Distanz der faktischen Geschichte von ihrem utopischen Ziel wie von ihrem theologischen Grund, und für beides steht der Zion, hat für den Glauben des Christen der Gott Jesu, der sich im irdischen Geschick seines Mandatars an die Welt entäußert hat und selbst unter das Schicksal der Welt als Welt, und d.h. in die Gottverlassenheit ohnmächtiger Liebe getreten ist, auf sich genommen. Damit aber verweisen beide, indem sie als Handeln und Erleiden Gottes identifizierbar werden, auf eben nichts anderes als auf ihn selbst, will heißen auf die endliche Durchsetzung seiner Gottheit. Denn seine Selbstentäußerung im Geschick Jesu von Nazareth als Verlassen des Sohnes hat ja die Form der Selbstverlassenheit. Darum weist sein Wirken in Jesus und eben auch noch in dessen Kreuz in der Weise der Verborgenheit auf ihn selbst zurück.

Das Kreuz ist die Signatur der geschichtlichen Welt, aber es ist auch das Signal Gottes für sein Dabeisein und sein Zuvor- und Danachsein, damit aber ist es Licht, Licht, in dem man wandeln kann, ohne zu sehen, nämlich ohne schon zu sehen, wie Gott entäußerungslos in unverstellter, unverhüllter Klarheit auf die Welt wartet, einer Klarheit, die sein großer Vorbehalt ist gegenüber der Schöpfung von ihrem Beginn an. Es ist dieser Vorbehalt Gottes, der uns zurückverweist aus der Zukünftigkeit dieser endzeitlichen Offenbarung Gottes in sein weltlich verhülltes Handeln, dem wir durch die Form des Glaubens als Gestalt der göttlichen Verheißungsgeschichte mit uns zu entsprechen haben, der Verheißung nämlich, daß Gott einst seinen seit der Schöpfung geltenden Vorbehalt, ihn selber in seiner ganzen unverstellten Gottheit zu schauen, aufheben wird.

Bis dahin aber gilt:
Kommt nun, laßt uns wandeln im Licht des HERRN!

Amen!

Priv.-Doz. Dr. Reinhard Weber
weber@esg-marburg.de


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