Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 31. Juli 2005
Predigt über 2. Mose 19,1-6, verfasst von Stefan Knobloch
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„Erfahrungen am Fuße des Berges Sinai“

Es fällt uns schwer und gelingt uns wohl kaum, Texte der Bibel – wie den eben gehörten aus 2. Mose 19,1-6 (oder wie man im Raum der katholischen Kirche eher zu sagen gewohnt ist, aus Ex 19,1-6) – immer sofort in ihrer historischen Ereignisebene zu verstehen. Von dieser sind wir meist zu weit weg. Und obendrein liegen diese geschichtlichen Ereignisebenen meist nicht ganz eindeutig vor. So auch bei 2. Mose 19,1-6 nicht. Nicht nur, daß wir die Zeit des Auszugs aus Ägypten, auf den hier Bezug genommen ist, nicht genau auf einen Termin eingrenzen können. Man gibt etwa den Zeitrahmen der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts vor Christus an. Hinzukommt, daß unser Text zwei grundlegende Erzählelemente der Volkgottesbildung, nämlich die Exodustradition und die Sinaitradition, die ursprünglich selbstständig für sich stehen, zu einem einzigen Erzählstrang zusammenkomponiert hat. Das alles macht es für uns schwer, diesen Text einfach zu verstehen.

Obendrein ist es ja immer so, daß wir Texte mit unseren Ohren, im Rahmen unserer aktuellen Aufmerksamkeiten hören. Gehörtes – wenn es denn überhaupt gehört wird und also überhaupt bei uns aktuelle Assoziationen auslöst – verbindet sich immer mit den aktuellen Bildern unserer Tage. Und die dürften in unserem Fall in diesen Tagen und Wochen geprägt sein von der von der Regierung Scharon beschlossenen und jetzt zu vollziehenden Räumung jüdischer Siedlungen im Gazastreifen. Hier handelt es sich um einen von oben, aus Gründen der Versöhnung mit den Palästinensern von der Regierung beschlossenen „Exodus“, dem sich jüdische Siedler wie Orthodoxe im Lande widersetzen, da sie darin einen Verrat des ihnen von Jahwe übergebenen Landes erblicken. Und da ist nun kein Gottesberg in der Nähe, von dem her Gott die Gemüter besänftigen könnte. Und da bietet Jahwe keine Adlerflügel an, um die Siedler geräuschlos und wohlbehalten durch die Lüfte umzusiedeln.

Jenseits dieser aktuellen Assoziation, die sich gewissermaßen von selbst einstellt, stellt sich für uns die Frage, was uns unser Text sagen will, sagen kann. Er beginnt damit, daß er sagt, „im dritten Monat“ nach dem Auszug aus Ägypten seien sie in der Wüste Sinai angekommen. „Im dritten Monat“ – das hört sich wie nach einer Schwangerschaft an. Denn sonst sprechen wir kaum von Monaten als Zeitangabe. Und so unzutreffend wäre diese Assoziation mit der Schwangerschaft in unserem Fall nicht. Denn unser Text liefert nicht eigentlich eine Zeitangabe, sondern eine Qualitätsangabe. Er kündet an, daß Gott im Umgang mit seinem Volk Großes vorhat, daß er mit etwas schwanger ist, was er an seinem Volk erfüllen will. Er will sich ihnen kund tun, er will sie zu seinem Eigentum nehmen, ihnen seine besondere Nähe und Verläßlichkeit angedeihen lassen. „Bund“ lautet hier der Begriff für dieses Vorhaben.

Wieder dürfte uns beim Begriff „Bund“, „mein Bund“ etwas ganz anderes einschießen. Vor allem denen, die beim „Bund“ gedient haben, aber auch den Angehörigen, die zur Zeit ihre Familienmitglieder in Auslandseinsätzen wissen, im Kosovo, in Afghanistan, auf hoher See vor dem Horn von Afrika oder anderswo. In unserem Text aber hat der „Bund“ eine ganz andere Bedeutung.

„Mir gehört zwar die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk angehören.“ „Ihr werdet unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein.“ Den damals so von Jahwe – über die Vermittlung Moses – Angesprochenen mag das ans Herz gegangen sein. Für sie waren das Worte, die in ihre Situation paßten. Für sie waren das keine leeren Worte, auch keine belastenden Worte, sondern Worte, die ihnen eine Lebensperspektive eröffneten. Sie hörten sie auf dem Hintergrund der erfolgten Rettung aus Ägypten, über die sie nicht genug staunen konnten. Hinter ihnen hatte sich doch die Truppe des Pharao formiert, und vor ihnen hatte das tödliche Schilfmeer gelegen. Eine ausweglose Situation war das. Und irgendwie waren sie davongekommen, waren sie durchgekommen und finden sich jetzt am Fuße des Berges Sinai, des Gottesberges. Sich um Jahwe, um Gott zu scharen, ihn zu verehren, war ja das eigentliche Motiv ihres Auszugs. Mose war vor den Pharao getreten mit der Ansage im Namen Jahwes: „ Laß meinen Sohn ziehen“ – Jahwe spricht hier von Israel als seinem erstgeborenen Sohn – „laß mein Volk ziehen, damit es mich verehren kann“ (2. Mose 4,23). Und der Pharao gab schließlich seine Einwilligung: „Geht, verehrt Jahwe, euren Gott.“ Und Mose hatte geantwortet: „Ja, denn wir feiern ein Jahwefest“ (2. Mose 10,8-9).

Die Israeliten haben also ein starkes Motiv, für die Eigentumserwählung durch Jahwe dankbar zu sein. Denn gerade waren sie wunderbar errettet worden. Was sonst als Durchzug bezeichnet wird, wird hier im Bild der rettenden Adlerflügel Jahwes ausgedrückt. Ein im Alten Testament verbreitetes Bild. Es findet sich unter anderem in 5. Mose 32,11 und in den Psalmen, von denen her dieses Bild auch in das Kirchenlied „Lobe den Herren“ Eingang gefunden hat: „Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret, der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet.“ Das Volk am Fuß des Gottesberges hatte ein entscheidendes Etappenziel seines Auszugs erreicht und war dankbar dafür, daß Gott mit ihm zog und es nicht seinem Schicksal überließ.

Soweit die Situation damals. Aber heute geht es ja um uns. Wie erschließt sich uns dieser Text? Hier könnte sich uns eine Schwierigkeit in den Vordergrund schieben, die uns als erstes beschäftigt, bevor wir auf anderes kommen können. Wir könnten Schwierigkeiten damit haben, daß Gott hier ein Volk besonders erwählte und es damit anderen gewissermaßen vorzog. Bleibt damit, wenn man das zu Ende denkt, nicht die Universalität Gottes für alle Menschen auf der Strecke? Und ist das nicht der mögliche Beginn der Überheblichkeit der einen Religion über andere Religionen? Ja, stehen wir damit nicht zuletzt ganz aktuell bei der Erfahrung der mißlingenden Multikulturalität unserer offenen Gesellschaften? England stellt sich in diesen Tagen eben diese Frage nach den Londoner Terroranschlägen vom 7. Juli. Ist es möglicherweise so, daß nicht nur der von außen geschürte Haß der Al Qaida gegen alles Nichtislamische und Westliche als Ursache solcher Terrorakte zu gelten hat, sondern offenbar auch die nicht gelingende Multikulturalität innerhalb offener Gesellschaften, die zum Ausgangspunkt extremistischer Terrorakte wird? Wahrscheinlich ist unser gedankenloser Umgang mit dem Begriff der Multikulturalität zu wohlfeil, weil wir es nicht geschafft haben, daß er innerhalb der offenen Gesellschaft zu einer wirklich fundierten, sich gegenseitig hochschätzenden, bis in den Alltag spürbaren Anerkennung der Mitbürger anderer Kultur und Religion geführt hätte. Erst dann könnte man beginnen, von gelungener Integration zu sprechen. Hier tun sich ernste Probleme und Aufgaben auf, die vor uns allen liegen.

Von 2. Mose 19,1-6 her dazu nur noch soviel: Die Eigentumserwählung des Volkes durch Jahwe sollten wir in ihrer positiven Aussagerichtung lesen. Sie richtet sich positiv an das Volk am Sinai und ist – auch in ihrer vermeintlichen Exklusivität, und auch wenn das leicht paradox klingt – nicht gegen andere Völker gerichtet. Im Gegenteil: Die Eigentumserwählung des Volkes am Sinai durch Jahwe will im Grund exemplarisch an diesem einen Volk zeigen, wie Gott zu allen Völkern und zu allen Menschen steht.

Aber stellen wir das zurück, um nun endlich auf jene Beobachtung, aber auch schon Deutung, zu kommen, die 2. Mose 19 im Bild der Adlerflügel Gottes festgehalten hat. Sie fühlten sich damals wie auf Adlerflügeln gerettet. Und auch wir singen davon für uns im Lied. Haben wir diese Erfahrung aber für uns selbst schon einmal gemacht? Wenn wir diese Frage so an uns und unser Leben stellen, müssen wir bedenken, daß auch die Leute damals nicht wirklich auf Adlerflügeln gerettet worden waren, sondern sie ihre unerwartete Rettung in diesem Bild deuteten.

Das sollten wir als Frage auch auf uns nehmen, ohne darauf je eine glasklare, andemonstrierbare wasserdichte Antwort zu erhalten: Ob und wo in unserem Leben Ereignisse ihren Lauf nahmen, die gewissermaßen über uns kamen, wie ein Geschenk, wie durch eine Außenleitung, wie durch eine gütige Fügung. Das müssen gar keine dramatischen Dinge sein. Vielleicht waren es unscheinbare, aber doch bedeutsame Vorgänge, in denen wir Gottes schützende und leitende Hand in unserem Leben erkennen dürfen. Vielleicht sind wir auch noch nicht in der Lage, darin und dahinter Gott und seine Hand zu erkennen. Vielleicht deuten wir die Dinge ganz anders. Und selbst in solch anderer Deutung kann es sich in unserem Leben längst in versteckter und von uns noch nicht erkannter Form um eine Erfahrung Gottes handeln.

Es lohnt sich sicher, im eigenen Lebenstext nachzulesen und auf die „Interpunktionen“ aufmerksam zu werden, die uns stolpern lassen und in denen wir Zusammenhänge erfassen, die zeigen, daß unser Leben zuletzt nicht nur in uns, sondern in Gott gründet und verankert ist. Irgendwie leben wir alle am Fuße des Berges Sinai, in den Niederungen unseres Lebens. Und sie sind längst durchwaltet von seiner – von Gottes – leitender Hand.

Prof. Dr. Stefan Knobloch, Mainz
dr.stefan.knobloch@t-online.de

 


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