Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

12. Sonntag nach Trinitatis, 14. August 2005
Predigt über Jesaia 29, 17- 24, verfasst von Reiner Kalmbach (Argentinien)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde: in der Bibel begegnen wir immer wieder der Verheissung einer neuen Welt und eines neuen Himmels. Ja sie ist geradezu wie ein Grundton der ständig mitschwingt, der mal deutlich hörbar wird und dann wieder scheinbar verschwindet.

Nun würde ich Sie gerne fragen: glauben Sie an diese Verheissung?, glauben Sie, dass mehr dahinter steckt, als eine simple “Durchhalteparole”, wie sie von der Kirche jahrhundertelang gepredigt wurde, um das “Volk” zahm und unmündig zu halten? Da werden Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet, da liegen Schafe und Löwen friedlich beeinander, Tränen werden getrocknet (für immer!), es gibt kein foltern und kein morden mehr, Ausbeutung und Unterdrückung gehören in die Vergangenheit…, ja selbst der Tod wirft seinen dunklen Schatten nicht mehr über die Menschheit.

Angesichts des Elendes und der zunehmenden Ungerechtigkeit in der Welt und der mehr als düsteren Zukunftsaussichten, was unseren Planeten anbelangt, wären unsere Zweifel durchaus verständlich.

Auch am heutigen Sonntag will uns ein Wort leiten das von einer anderen, neuen Welt spricht, von einer grossen Wandlung: vom “Jetzt-Zustand” zu einem neuen, so dass unser Heute bereits zur Vergangenheit gehört.

Textlesung

Der erste Gedanke der mir durch den Kopf ging, als ich das Wort des Propheten las, war: Gott liebt seine Welt!

Und dann ist da dieses Erlebnis das mich nicht mehr zur Ruhe kommen lässt: vor einiger Zeit besuchte ich eine kleine Gemeinschaft von Indigenas, wie sie hier im Süden Argentiniens existieren. Sie gehören zum Volk der “Mapuche”. Von der asphaltierten Hauptstrasse führte mich ein steiniger und schmaler Weg hinein in die Bergwelt der Anden. Nach einer Stunde Fahrt tauchten ein paar verwahrloste Hütten auf. Schliesslich hielt ich vor dem “Gemeinschaftshaus”, ein alter Lehmbau mit grossen Löchern im Dach und durch die Ritzen der Mauern pfeifte der eiskalte patagonische Wind. Es ist Winter und die Temperaturen liegen weit unter Null Grad. Im Gemeinschaftshaus stehen die Menschen um einen kleinen Kanonenofen, es sind Mütter mit Säuglingen, kleine Kinder, barfuss und in kurzen Hosen, alte Menschen…, junge Männer stehen etwas abseits in einer düsteren Ecke. Die Situation stimmt mich traurig…

Man hatte mich eingeladen, um über Glaube und Politik zu sprechen. In Argentinien ist Wahljahr und in diesen Zeiten erinnern sich die Politiker plötzlich an die Armen. Da tauchen Lastwagen auf und es werden “Wahlgeschenke” verteilt: Elektrogeräte (obwohl es in der ganzen Gegend keinen Strom gibt), Matrazen, Wellblech, Lebensmittel… es werden Versprechungen gemacht: eine neue Zeit wird anbrechen!, die Armut wird ein Ende haben, ja, ganz bestimmt!, Ihr müsst uns nur Eure Stimmen geben…

“Wie können wir uns vor diesen Lügnern schützen…?”, fragt mich der Dorfälteste. Die Türe öffnet sich und herein tritt der Prediger einer Pfingstkirche der jeden Sonntag um diese Zeit den Mapuche das Evangelium predigt. Er tut diesen Dienst seit zwanzig Jahren. Und so auch jetzt: er erzählt von den Träumen der Menschen die hier leben: sie träumen von einer Schule für ihre Kinder, von einer kleinen Gesundheitsstation, davon, dass eine Stromleitung gelegt wird.., und der Prediger sagt: “es ist gut, wenn man Träume hat…”.

Während er predigt, frage ich mich: was sage ich diesen Menschen? Der Älteste erteilt mir das Wort und ich versuche zu erklären, dass solche Träume nur dazu dienen uns Sand in die Augen zu streuen…”habt Ihr Euch schon einmal gefragt warum Ihr arm seid?”, und: “…eine Schule für Eure Kinder, eine Gesundheitsstation, elektrisches Licht, bessere Wege…, das sind keine Träume, das sind Rechte die Ihr einklagen könnt, ja sogar müsst, wenn Ihr eine bessere Zukunft für Eure Kinder wollt…”. Eine Frau ruft dazwischen: “…aber Herr Pfarrer, es ist doch Gottes Wille, dass es Arme gibt!” Und ich frage mich: welches Evangelium wurde hier zwanzig Jahre lang gepredigt!?

Auf dem Hintergrund dieses Erlebnisses weiss ich nur so viel: Das Jesaiawort ist kein leeres Versprechen, es vertröstet nicht auf das Jenseits, es findet sich nicht mit der Ungerechtigkeit ab, und vor allem: Gott ist nicht bereit eine solche Situation zu akzeptieren! Es ist richtig: die biblische Botschaft von einer neuen Welt will unseren Blick in die Zukunft lenken. Aber gerade darum geht es: nur wer diese Zukunft “sieht” wird verstehen, dass sie bereits begonnen hat. Die Zukunft erleuchtet unser Jetzt.

Gott liebt seine Welt! Hätte er seinen Sohn geschickt wenn dem nicht so wäre? Gott hat in Jesus dieseWandlung, von der Jesaia spricht, eingeleitet: Jesu Weg ist Gottes Weg. Und Gott will eine heile Welt! Wo Jesus auftauchte, heilte er, richtete auf. Wer von ihm angesprochen wurde, kann von einem “vorher und nachher” reden, nichts blieb wie es war.

Als Kind hörte ich mit Begeisterung zu, wenn meine Grossmutter biblische Geschichten erzählte. Sie meinte Jesus und sagte immer “Heiland”. Dieses Bild hat sich mir tief eingeprägt: Gott ist Mensch geworden, um Heil zu bringen. Und indem er Heil gibt, will er die Heilung. Als Christen wissen wir, dass die ganze Schöpfung auf Heilung ausgerichtet ist. Die Welt dient Gott nicht als “Kulisse”, sondern er sieht seine Schöpfung als Ganzes. Gott will, dass dort, wo heute Dürre herrscht, morgen fruchtbares Land entsteht. Der “Garten Eden” , in dem es an nichts fehlte, ist nicht nur ein Bild, es weisst auf die wahre Absicht Gottes: er will das Heil!

Und der Mensch?, was will er? Vielleicht sollten wir besser fragen: was wollen wir Christen? Wir Christen lieben diese Welt, weil Gott sie liebt. Diesen Satz nachzu- sprechen kann nicht ohne Konsequenzen bleiben: wenn wir für eine “heilere” Welt kämpfen, wenn wir uns für das Leben in allen seinen Formen einsetzen, dann ist Gott mit dabei, Sein Heilswirken in und durch uns. Dabei sind wir uns darüber im Klaren, dass all unser bemühen, unser “gegen den Strom schwimmen” nur vorläufigen Charakter haben kann: am Tode kommt niemand vorbei, nicht die Welt, auch nicht wir Christen, die wir Teil dieser Welt sind. Aber wir gehören mitsamt der ganzen Welt dem Gott, der – als Feind und Besieger des Todes – mit seinem Heil auf uns zukommt,- ja seit Christus schon unter uns ist! Die Geschichte der Menschheit ist seit Jesus Christus irreversibel – nicht mehr rückgängig zu machen -, es gibt ein vorher und ein nachher! Wo immer für den Menschen gekämpft und gelitten wird, für seine Freiheit, seine Würde, für sein Recht, für ein friedlicheres Zusammenleben, da hat das mit diesem Heil zu tun, da “mischt” Gott mit!

Gott liebt seine Welt! würden die Propheten so nachdrücklich und konkret von Freiheit und Gerechtigkeit reden, wenn dem nicht so wäre!?

Heil ist nicht nur materiell und physich gemeint, sondern beinhaltet auch die Veränderung der Lebenssituation und der Umstände.

Wie könnte das konkret aussehen? Armut und Unterdrückung kann viele Formen annehmen. Sie existiert gut sichtbar und manchmal versteckt unter uns, und schlimmer als je zuvor in vielen Teilen der Welt. Es geht darum die tieferen Ursachen des Elends und der Ungerechtigkeit aufzudecken: wenn wir ernsthaft und ehrlich nach dem “warum?” fragen, dann werden wir vielleicht sogar unsere eigene Verantwortung, unsere eigene, wenn auch ungewollte, “Verstrickung” entdecken. Und das wiederum wird uns in Bewegung setzen: an Jesus Christus glauben heisst mit ihm auf dem Weg sein. Glauben heisst dann eben nicht von einer anderen, besseren Welt”träumen”, wie es jener Pfingstprediger den Mapuche “glauben machen” will, Glauben heisst nach dem “warum” fragen, den Dingen auf den Grund gehen, und, wenn möglich, Wege zur Änderung finden. Und wir können uns darauf verlassen: diese Wege werden sich finden lassen. Schliesslich leuchtet die neue, andere Welt, die zukünftige Welt in unser Jetzt hell herein.

Es liegt an Gottes Art, dass er immer wieder für diejenigen Partei ergreift, die in ihrem Leben am meisten gestossen, geschüttelt, beraubt und verachtet werden. Ich kenne keine Stelle in der Bibel, weder im Alten, noch im Neuen Testament, in der sich Gott, angesichts einer Situation der Ungerechtigkeit, “neutral” verhält. Wenn wir dagegen die Kirchengeschichte betrachten, oder das Verhalten vieler Christen, dann werden wir feststellen, dass Begriffe wie “Ausgewogenheit” und “Neutralverhalten” unsere Ethik nach wie vor bestimmen.

Gott ergreift Partei, er ist niemals neutral. Menschen die unter der Ungerechtigkeit leiden, die ausgebeutet, oder unmündig gehalten werden, erleben diesen Gott als “Befreier”: “…denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle die auf Frevel lauern.”, verkündet Jesaia. Wie müssen sich die Tausende gefühlt haben, die im Frühjahr 1945 die Konzentrationslager verlassen konnten?! Nun wurden sie nicht mehr “beschämt”, ihrer Menschenwürde beraubt und geschändet, so dass sie “blass” wurden…Tyrannen und Spötter gedeihen besonders gut in einem Klima des Unrechts: die Weltgeschichte ist leider voll von grausigen Beispielen. Aber auch das: die Wahrheit, d.h. die Gerechtigkeit, kommt früher oder später immer ans Licht! Gott setzt den Menschenverächtern ein Ende. Pinochet, Videla & Co, einstige Herren über Leben und Tod so vieler Menschen: heute sind sie entmachtet, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie verbringen ihre letzten Tage in ihren Häusern, oder in Gefängnissen, verachtet, selbst von den einstigen Gefolgsleuten.

Gott will das Heil für diese Welt. Aber es kann kein Heil ohne Gerechtigkeit geben! Jesaia sagt das an anderer Stelle und mit anderen Worten: die Frucht der Gerechtigkeit ist der Friede. Wo das Recht “verdreht” wird, und das ist eine der grössten Ungerechtigkeiten in Argentinien, wo das Recht nicht mehr “über” den Menschen steht, so dass Starke und Schwache ihm gleichermassen unterworfen sind, wo das Recht zum Instrument in der Hand der Mächtigen verkommt, da wird Gott schliesslich dafür sorgen, dass sich seine Gerechtigkeit durchsetzt. Das ist eine Wahrheit die sich in der Geschichte der Menschheit immer wieder offenbart.

Gott liebt seine Welt! würde er sein Wort an uns richten, wenn dem nicht so wäre?! So wichtig es ist für Veränderungen zu arbeiten, Misstände aufzudecken und für eine “bessere” Welt zu kämpfen, so kann das für einen Christen nur geschehen, wenn Gott in ihm selbst, in seinem Denken und Tun, zu seinem Recht kommt. Die besten Absichten und Aktionen “verkommen” zur Ideologie, wenn wir meinen die Welt ohne Gott verändern zu können. Ideologie heisst aber “dogmatisieren”, ausgrenzen; das wiederum eine Form der Ungerechtigkeit darstellt. Aber gerade darin solten wir als Christen unsere “Stärke” sehen: wir können auf den Anderen zugehen, weil wir in ihm zuerst den von Gott geschaffenen und geliebten Menschen sehen. Jesus hat das tagtäglich vorgelebt: die Herzen der Menschen öffneten sich, weil sie der Liebe Gottes begegneten. Die Berührung mit dieser Liebe macht Verwandlung möglich, ja sie ist ihre logische Konsequenz.

Die Tauben bekommen ihr Gehör, um “die Worte des Buches” zu vernehmen: Gott wird den Geheilten vernehmbar, sie verstehen ihn. Und wer Sein Wort hört, wer es versteht, der kann nicht anders, als sich freuen! Denn er erkennt plötzlich, dass dieser Gott in der Geschichte der Menschheit, und damit in seiner eigenen kleinen Geschichte anwesend ist, dass das Unrecht, die Zerstörung, die Lebensverachtung, der Hass und all das was uns oft genug zur Resignation treiben will, nicht das letzte Wort in unserer Wirklichkeit haben, sondern Seine Gerechtigkeit und Sein Heilswillen!

Die Geheilten nehmen ihn war! Wenn Paulus und Luther recht haben, wenn wir also aus Glauben gerechtfertigt sind, dann gehören wir zu den Geheilten, dann können, dann dürfen wir Ihn in seinem Wort wahrnehmen. Dann kommt Gott in uns zu seinem Recht, d.h. Gott wird uns wieder Gott!

Heile Welt ohne Gott? Wer Gott einmal entdeckt hat, weiss, warum das Eigentliche fehlen würde. Denn wenn es wahr ist, dass Gott uns zu seinen Partnern geschaffen hat, dann wird unser Leben im vollen Sinne nur dann “heil” sein, wenn wir dies – nicht nur nach unserer Bestimmung, sondern auch in unserem Denken und Handeln – wirklich sind.

Zwanzig Jahre lang hat man den Mapuche das Evangelium gepredigt – und es hat sich nichts verändert: es ist kein Heil entstanden, weil die Ungerechtigkeit nicht beseitigt wurde. Deshalb habe ich unter diesen Menschen kein Anzeichen von Freude entdeckt, sondern eigentlich nur Resignation und eine tiefe Traurigkeit.

Glauben Sie, glaube ich an die Verheissung einer neuen Erde und eines neuen Himmels? Wenn wir das mit einem aufrichtigen und freudigen “Ja” beantworten können, dann sollten wir uns unverzüglich auf den Weg machen: Sie zu Ihrem Nachbarn und ich zu den Mapuche; (und) Jesus wird uns begleiten!

Amen.

Reiner Kalmbach
reikal@neunet.com.ar


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