Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 21. August 2005
Predigt über Markus 3, 31-35, verfasst von Klaus Bäumlin
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Die neue Familie

"Und da kommen seine Mutter und seine Brüder. Sie bleiben draussen stehen, liessen es ihm ausrichten und ihn rufen. Um ihn herum sassen Leute, und man sagt zu ihm: 'Schau, deine Mutter und deine Brüder und Schwestern sind draussen und suchen dich.' Er antwortet ihnen und sagt: 'Wer sind meine Mutter und meine Brüder?' Und ringsum schaut er die an, die im Kreis um ihn herum sitzen, und sagt: 'Da sind sie – meine Mutter und meine Brüder! Wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.'"

Liebe Gemeinde! Das Markusevangelium ist unter den vier im Neuen Testament überlieferten Evangelien das älteste und das bei weitem kürzeste. In der Geschichte der Bibelauslegung stand es während langer Zeit im Schatten des Matthäus- und des Lukasevangeliums. Weshalb diese Vernachlässigung und Geringschätzung? Ein Grund könnte sein, dass Markus die von Lukas und Matthäus überlieferten Geschichten rund um die Geburt Jesu nicht aufgenommen hat – also gerade die Geschichten, die zu den bekanntesten und beliebtesten gehören: die Ankündigung der wunderbaren Geburt Jesu an Maria durch den Engel, die wichtige Rolle der Mutter Jesu, die Weihnachtsgeschichte von der Geburt im Stall von Bethlehem, die Huldigung der Weisen aus dem Morgenland, die Flucht der heiligen Familie nach Ägypten, die Notizen über die Kindheit Jesu in Nazaret. Das alles kommt bei Markus nicht vor. Joseph, den Vater, erwähnt er mit keinem Wort. Alle diese Geschichte, die die Maler und Musiker inspiriert haben – denken Sie nur an Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium – gerade die Geschichten, die sich besonders dazu eignen, im trauten Familienkreis, in festlicher Stimmung unter dem Weihnachtsbaum vorgelesen zu werden – sie fehlen bei Markus.

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Natürlich hat Jesus eine Familie, eine Mutter und leibliche Geschwister gehabt. Die römisch-katholische Lehre, wonach Maria ihr Leben lang jungfräulich geblieben sei, hat in der Bibel nicht den geringsten Anhaltspunkt. Und nun taucht diese Familie auf einmal auf. Aber Markus vermittelt uns alles andere als ein harmonisches Familienbild, sondern eine recht unschöne Szene, einen handfesten Familienkonflikt. Die Angehörigen sind Jesus nachgereist und wollen ihn nun mit Gewalt nach Hause holen. "Er ist ja verrückt geworden", sagen sie (Vers 20).

Man kann das schon verstehen. Die Familie macht sich Sorgen um ihren Ältesten, der so eigene und eigenartige Wege geht und so gar nicht dem entspricht, was Mütter sich für ihre Kinder wünschen. Er folgt einer andern Stimme, einem andern Ruf, nicht dem des Blutes. Jesus hat seine Heimat Nazaret und seine Familie verlassen. Seinen Handwerkerberuf hat er an den Nagel gehängt. Alle Sicherheiten hat er hinter sich gelassen. Statt zu heiraten und selber eine Familie und einen Hausstand zu gründen, zieht er mit einer Handvoll Freunden im Lande herum, ist nirgends zu Hause, hält sich in der Gesellschaft von dubiosen Leuten, Randfiguren, Zöllnern und Sündern auf. Gewiss, er hat grossen Zulauf bei den Leuten. Aber er legt sich mit allem an, was Rang und Namen hat. Das wird noch böse enden.

Ich kann mir auch vorstellen, dass die Angehörigen von Jesus in Nazaret in einer ziemlich unangenehmen Situation sind. Mit ihrem ältesten Sohn hat die Mutter auch einen Teil ihrer Altersvorsorge verloren. Und die Leute, die Nachbarinnen auf dem Markt, haben vielleicht getuschelt: 'Schaut, die Mutter dieses Aussteigers! Was hat der eigentlich für eine Erziehung gehabt? Komische Familienverhältnisse sind das! Warum können die nicht sein wie unsereiner?' Man braucht nicht selber Vater und Mutter zu sein, um Verständnis zu haben für diese Mutter und diese Geschwister, die in grosser Sorge kommen, um ihren verlorenen Sohn zu suchen und heimzuholen.

"Schau, deine Mutter und deine Brüder und Schwestern sind draussen und suchen dich." Und Jesus antwortet, wie aus tiefem Nachdenken heraus, aber schroff und abweisend tönt es: "Wer sind meine Mutter und meine Brüder?" Diese sind es nicht, die ihn wegholen wollen von seinem Weg. Zu ihnen gehört er nicht mehr, und sie gehören nicht zu ihm. "Und ringsum schaut er die an, die im Kreis um ihn herum sitzen, und sagt: 'Da sind sie – meine Mutter und meine Brüder! Wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter."

Jesus relativiert also die Familie ganz gehörig. Sie ist für ihn kein höchster Wert. Wenn ein Vater oder eine Mutter sagt: "Meine Familie ist für mich das einzige, das zählt, der wichtigste Lebensinhalt, ich lebe nur für meine Familie", dann kann er oder sie sich wohl auf geheiligte und oft beschworene Traditionen berufen, aber nicht auf Jesus.

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Weshalb redet und verhält Jesus sich so familienkritisch? Ich denke, ein Grund ist der, dass Jesus sieht und weiss, wie die Menschen dran sind. Er hat es zu tun mit Kranken, mit Aussätzigen, die – der Name sagt es – aus ihren Familien und Dörfern ausgesetzt und vertrieben wurden und irgendwo in einer Höhle ein trostloses Dasein fristen. Er hat es zu tun mit Ausgestossenen, um die man einen weiten Bogen macht, mit Leuten, um die sich niemand kümmert, mit Verlassenen, Vergessenen, Abgeschriebenen.

Jesus legt Einspruch ein gegen eine Welt, in der es auf der einen Seite Menschen gibt, die geborgen und zufrieden in einer Familie leben, ihre ganze Aufmerksamkeit, Zeit und Kraft nur für das eigene Familienleben, das private Familienglück einsetzen. Er legt Einspruch ein gegen eine Welt, in der Eltern nur für ihre eigenen Kinder da sind, ihnen jede Zuwendung schenken, jeden Wunsch erfüllen, jeden Stein aus dem Weg räumen. Und auf der andern Seite sind die, die allein auf der Welt sind, die aus irgendeinem Grund keinen Mann, keine Frau gefunden oder ihren Ehepartner verloren haben, in keiner Familie geborgen sind: Alte, Kranke, Behinderte oder auch Menschen, die mit dem Leben, mit sich selber und den andern nicht zurechtkommen; Leute, die nirgends richtig zu Hause sind, ein Leben lang auf der Suche nach einem Platz, wo sie Wurzeln fassen könnten, auf der Suche nach einem Ort und einer Gemeinschaft, wo sie etwas gelten und dazugehören. Und da sind Kinder ohne Eltern, um deren Zukunft sich niemand sorgt – lauter Dinge, die es braucht, damit ein Mensch in dieser Welt daheim ist.

Gegen diese Aufspaltung legt Jesus Einspruch ein. Ja, er ist selber Gottes Einspruch gegen diese Welt. In ihm ist Gott selber in der Welt gegenwärtig. Deshalb nennt ihn ja Markus am Anfang seines Evangeliums "Sohn Gottes" – nicht Sohn des Joseph und der Maria. Jesus ist gekommen, um die Nähe des Gottesreichs anzukünden, um den Menschen die Liebe des himmlischen Vaters zu bringen. Und diese Liebe gilt nicht nur, sie gilt nicht zuerst denen, die ohnehin schon geliebt und anerkannt sind. Sie gilt zuerst denen, die sonst nirgends dazugehören, den Verlassenen und Übergangenen.

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Ein Schriftgelehrter, so erzählt es das Lukasevangelium (10,25-37), kommt zu Jesus und fragt ihn, was er tun müsse, um das ewige Leben zu gewinnen. Jesus antwortet ihm mit der Gegenfrage: "Was steht im Gesetz?" Der Schriftgelehrte antwortet ganz korrekt: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Und als Jesus ihm bestätigt: "Du hast richtig geantwortet; handle so, und du wirst leben", versucht sich der Schriftgelehrte herauszureden und fragt: "Und wer ist mein Nächster?"

Und darauf hat ihm Jesus nun eben nicht zur Antwort gegeben: "Natürlich deine Frau und deine Kinder, deine Mutter und dein Vater", sondern er hat die Geschichte vom Samaritaner erzählt, der auf einen wildfremden Menschen trifft, der von Räubern überfallen wurde und halbtot am Wegrand liegt. Der Samaritaner hat sich um den Verlassenen gekümmert und für ihn gesorgt. Er ist ihm zum Nächsten geworden.

So sprengt Jesus unsere engen Familienbegriffe und zeigt uns, dass die Nächsten nicht einfach die sind, die wir uns selber auswählen und die ohnehin zu uns gehören. Wir können sie uns nicht selber auslesen. Auf einmal stehen sie vor unserer Tür oder liegen auf unserm Weg, wie wenn Gott sie uns hingelegt hätte. Es sind gerade die, die uns brauchen, die unsere Aufmerksamkeit und Anteilnahme, unsere Zeit und Kraft nötig haben. Und wir sind gefragt, wem wir der Nächste sind.

Einen ganz neuen Familienbegriff führt Jesus ein. Zu seiner Familie gehören nicht die, die einem durch Blut und Herkunft verwandt sind, nicht die mit dem gleichen Stammbaum, Heimatort und Pass. Jesus öffnet das Haus, macht Türen und Fenster weit auf, ruft uns heraus aus unserem privaten Familienglück oder unserer Familienenge – in eine offene Wohn- und Lebensgemeinschaft.

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Aber, so fragen Sie sich jetzt vielleicht, liebe Gemeinde: Haben wir das nötig, diese Relativierung der Familie, diese familienkritische Haltung Jesu? Müsste man heute nicht viel eher für den Wert der Familie eintreten – gerade in unserer Zeit, in der bald jede zweite Ehe geschieden wird, wo es immer mehr unvollständige Familien, alleinerziehende Mütter und Väter, alleingelassene Kinder ohne Geborgenheit, Nestwärme und Lebensorientierung gibt? Müsste da die Kirche nicht alles daran setzen, die Familie als gesunde Grundlage und Keimzelle einer gesunden Gesellschaft hochzuhalten und zu verteidigen?

Ich frage zurück: Ist nicht die Art, wie Jesus unser herkömmliches Familienbild relativiert und aufsprengt, eine grosse Befreiung – eine Befreiung gerade für die Familien? Leidet und zerbricht nicht manche Ehe und Familie gerade daran, dass sie zu hohen Ansprüchen ausgesetzt ist, die sich gar nicht einlösen lassen? Da steht einem ein Wunschbild von Harmonie, das Bild einer heilen Familie vor Augen, das dann mit den Realitäten nie übereinstimmt. Mit den hochgesetzten Erwartungen überfordert man sich gegenseitig: Männer und Frauen in ihrer Ehe und Partnerschaft, Eltern ihre Kinder und Kinder ihre Eltern. Und dabei wird es dann dem einen oder andern auf einmal zu eng. Er oder sie steigt aus, bricht aus, geht eigene Wege. Und die andern sind ratlos und sagen: 'Wir haben es doch nur gut gemeint.'

Und je mehr man in der Familie den höchsten Wert sieht, nur noch für die eigene Familie da ist, desto mehr fallen alle, die ohne Familie sind, die Einsamen und Alten, die Behinderten, die Fremden aus der Gemeinschaft, aus einem erfüllten gemeinsamen Leben heraus, sind und bleiben draussen, gehören nirgends dazu, fallen durch alle Maschen des sozialen Netzes.

Und das wiederum spüren viele junge Menschen. Sie spüren die Widersprüche in unseren Verhältnissen, die Widersprüche zwischen Idealen und Realitäten. Sie spüren das Elend, die Not, die Verlassenheit und Kälte in unserer Welt und halten die Nestwärme der eigenen Familie nicht mehr aus. Es wird ihnen in der gemütlichen Privatwelt ihrer Familie zu eng. Sie steigen aus, und manchmal so radikal, dass sie dabei tief abstürzen.

Deshalb finde ich die Art, wie Jesus unsere Familienbilder relativiert und in einen grösseren Horizont hineinstellt, so befreiend. Er verkündet das Reich Gottes, er zeigt uns den Anfang einer neuen Welt, in welcher der Graben zwischen denen, die alles haben, und denen, denen alles fehlt, überwunden wird. Er zeigt uns, dass wir nicht den ganzen Lebenssinn, die ganze Lebenserfüllung in der eigenen Familie suchen und realisieren müssen. Jesus öffnet uns die Augen für die grosse Familie Gottes. Er lässt uns Mütter und Väter, Schwestern und Brüder entdecken, die mit uns nicht verwandt sind – es sei denn, dass sie Kinder Gottes sind wie wir.

Wer sich von ihm anstecken lässt und anfängt, aus der Bequemlichkeit, Behaglichkeit und Sicherheit – und aus der Enge – des eigenen Nestes herauszukommen, Augen, Ohren und eine offene Türe hat für die, die in dieser Welt ohne Geborgenheit sind – gerade er findet unerwartet den Weg zu einem erfüllten Leben. Das entlastet und befreit die Familie. Unsere eigene Familie mit allem, was schön und gut an ihr ist, und mit allem, was nicht aufgeht – sie kommt in den weiten Horizont einer neuen Welt, in der niemand zu kurz kommt, weil Gottes Liebe jeden Mangel ausfüllt. Diese Welt ist schon im Kommen. Wir können sie entdecken, ihr auf der Spur sein, jeden Tag.

Gebet

Du, Gott, zeigst uns den Weg zur Freiheit, zum wahren Leben. Komm uns zu Hilfe mit Deinem Geist, damit wir ihn gehen können: den Weg, den Jesus uns voran gegangen ist.

Wir bitten Dich für unsere Familien: Bewahre sie vor engem Familienegoismus. Für die Eltern bitten wir Dich: dass sie ihre Macht über ihre Kinder nicht missbrauchen zur Erfüllung ihrer eigenen Wünsche. Für unsere Kinder bitten wir dich und für ihre Zukunft, aber nicht nur für unsere eigenen, sondern für alle Kinder dieser Erde, besonders die verlassenen, die ohne Liebe und Zuwendung aufwachsen müssen. Für unsere Jugendlichen bitten wir Dich, die es immer schwerer haben, sich in dieser verrückten Welt zu orientieren. Für die Alten und Kranken bitten wir Dich, für die Einsamen und Lebensmüden, die Zweifelnden und Verzweifelten.

Gott, lass uns nicht verkümmern in der eigenen kleinen Welt, die wir uns zurechtgemacht haben. Öffne uns die Augen, die Ohren, das Herz für die, die Du uns als Schwestern und Brüder anvertraust. Lass uns mit ihnen zusammen unterwegs sein zu Deinem Reich, wo Deine Liebe alles neu macht und allen Jammer stillt.

Im Namen Jesu bitten wir Dich: Vater unser im Himmel ...

Pfarrer i.R. Klaus Bäumlin
Liebeggweg 19
CH-3006 Bern
klaus.baeumlin@bluewin.ch

 


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