Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 21. August 2005
Predigt über Markus 3, 21.31-35, verfasst von Rudolf Rengstorf
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Krach in der "Heiligen Familie." Wenn davon erzählt wird, dann ist das mehr als der beschwichtigende Hinweis: Konflikte kommen in den besten Familien vor. An diesem Streit hier - so meine ich - können wir lernen, die eigenen familiären Konflikte besser zu durchschauen und uns nicht aufzehren zu lassen von ihnen, in dem wir dem Heiligen Raum geben..

Die meisten Geschichten der Evangelien erleben wir aus der Sicht Jesu. Er kommt auch hier ins Bild, aber erst später. Zunächst geht es darum, wie Jesus von anderen gesehen wird, nämlich von seinen nächsten Angehörigen, von seiner Mutter und seinen Geschwistern. Von Vater Josef ist keine Rede. Man wird annehmen müssen, dass er gestorben ist. Und deshalb ist es umso notwendiger, dass der Älteste die Leitung der Familie übernimmt, sich darum kümmert, dass es weiter geht mit dem Handwerksbetrieb, und dafür Sorge trägt, dass die Mutter weiterhin ihr Auskommen hat.

Doch der Älteste - Jesus - hat sein Vaterhaus und seine Heimatstadt schon lange verlassen. Nicht etwa - was jeder verstanden hätte -, weil er anderswo bessere Möglichkeiten hatte, sich eine eigene Existenz aufzubauen und eine Familie zu gründen. Von wegen! Anstatt sich Arbeit zu suchen, war er diesem komischen Heiligen Johannes nachgelaufen. Einem Mann, der völlig unzivilisiert da unten am Jordan hauste. Man stelle sich das vor: nur mit einem Kamelfell bekleidet war er und nährte sich von Honig und Heuschrecken! Den zivilisierten Menschen drohte er das Strafgericht Gottes an, und die von solchen Predigten Beeindruckten tauchte er ins Wasser und wusch damit - wie es hieß- ihre Sünden ab.

Zu diesem wilden Kerl hatte es Jesus hingezogen. Und dann war dieser offenbar auf die Idee gekommen, das könne er auch, Menschen anziehen und Aufsehen erregen. Und so zog er nun durch Galiläa und predigte, obwohl er doch gar nicht zur Zunft der Schriftgelehrten gehörte, sondern aus einem Handwerker-Haushalt kam. Entsprechend argwöhnisch verfolgten die Berufstheologen, was der Amateur da unters Volk brachte. Das kann nicht gut gehen, hörte man sie immer wieder sagen. Über die heiligen Ordnungen - wie etwa den Sabbat setzt der sich in provozierender Weise hinweg, und notorischen Sündern gegenüber hält er nicht auf Abstand, sondern umgibt sich mit ihnen wie mit einem Hofstaat. Wie peinlich! - Es war höchste Zeit, den wieder nach Hause zu holen und ihn an ein Leben mit täglichen Pflichten nach bewährten Ordnungen zu gewöhnen.

Also machte die Familie sich auf den Weg und fanden auch den Ort und das Haus, wo er sich gerade aufhielt. War ja nicht schwer, weil er in aller Munde war. und überall Leute unterwegs waren zu ihm. Doch als sie das umlagerte Haus, in dem Jesus sich aufhielt, erreichten, nahm keiner Notiz von ihnen. Keiner dachte daran, die Türen aufzumachen, sie hineinzubitten. Nein, sie, die eben noch meinten, sie könnten den Ausreißen wieder hineinholen in den Kreis, in den er gehörte, sie erleben: Wir sind hier die Außenstehenden, und keiner legt Wert darauf, uns reinzuholen.

Eine Erfahrung, die keiner Mutter und keinem Vater im Umgang mit Heranwachsenden erspart bleibt. Ich erinnere nur daran, wie das ist, wenn man nachts vor der Disco auftaucht, um - wie verabredet - die Tochter abzuholen. Mein Kind, das aus meiner Welt stammt, verkehrt in Kreisen, die mir fremd sind und die mir deutlich signalisieren, dass ich nicht erwünscht bin.. Das ist eine Erfahrung, die Jesus seiner Familie auch schon zugemutet hat. Und das in einer Zeit, in der die Menschen in der Regel in der Umgebung blieben, in der sie aufgewachsen waren.

Nun kann man natürlich einwenden: Mit dieser besonderen Situation, in der Jesus sich damals befand, kann man doch nicht die frühen, für viele Eltern so besorgniserregenden Emanzipationsbestrebungen von Heranwachsenden heute in Verbindung bringen. Zugegeben, die Situation war damals ziemlich einmalig. Doch macht Jesus durch das, was er dann sagt, sein Verhalten sehr wohl zur Regel für alle, die sich zu ihm halten wollen. Denn als man ihm drinnen schließlich mitteilt, dass draußen seine Familie auf ihn wartet, sagt er nicht etwa: "Liebe Gemeinde! Ihr müsst jetzt erst mal ohne mich weiter machen. Ich will und muss mich um meine Familie kümmern. Denn Familie muss immer Vorrang haben." Nein, diese Priorität gibt es für Jesus nicht, er widerspricht ihr sogar ausdrücklich. Das hat er - wie Lukas in seiner bekannten Geschichte erzählt - schon als Heranwachsender, als Zwölfjähriger, getan. Und hier als Erwachsener lässt er keinen Zweifel daran, dass Familie sich für ihn nicht von selbst versteht. Denn er fragt: "Wer ist meine Mutter und meine Brüder?" Und dann blickte er auf die Menschen, die um ihm im Kreise saßen und sagte: "Seht, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!"

Und wieder könnte man einwenden und sagen: "Wenn Jesus seine natürliche Familie ersetzt durch die Menschen, die sich auf Grund seiner Tätigkeit zu ihm gehalten haben, dann ist das seine Sache. Für uns kann das nicht gelten, weil wir nicht solche Gefolgschaft haben". Als hätte Jesus diesen Einwand gehört, macht er mit seinem nächsten Satz deutlich: Für Christen gibt es ein allgemein gültiges Kriterium für das, was eine höhere Verbindlichkeit hat als die natürliche Familie: "Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter!"

"Wer Gottes Willen tut" - wer ist das? Eine Antwort auf diese Frage heißt: das ist die Kirche. Und daher kommt es, dass Menschen, die zum Gottesdienst oder anderen kirchlichen Veranstaltungen kommen, erleben, dass sie unversehens als Brüder und Schwestern angesprochen werden. Doch da das ja oft nichts als Zufallsbegegnungen sind, werden solche Anreden schnell zur unverbindlichen Floskel.

Ein Beispiel für die, die Gottes Willen tun, stellt Jesus uns ja vor Augen: die Menschen, die um ihn versammelt sind. Kaum Leute, die dafür bekannt waren, dass sie ein vorbildliches, Gott wohlgefälliges Leben führten. Eher schon waren sie Menschen, die mit dem Leben über Kreuz lagen und von ihrer Umwelt abgeschrieben waren. Eines aber taten sie: Sie hörten Jesus zu und ließen sich von ihm in Gottes heilsame Nähe ziehen.

Was heißt das alles für den Umgang mit Familienkonflikten?

Zum einen höre ich aus dieser Geschichte: Die Familie hat für Jesus keinen besonderen religiösen Rang. Sie hat ihr Recht und ihre Zeit. Aber sie hat kein Recht darauf, einen Menschen in ihren Gewohnheiten, Erwartungen und Normen festzuhalten. Denn man soll Gott mehr gehorchen als der Familie.

Und zum anderen höre ich: Der die Familienbande sprengende Wille Gottes ist nicht als eine feste, für alle verbindliche Norm vorgegeben. Gottes Wille hat etwas mit Jesus zu tun und mit der Art, in der er sich Menschen zugewandt hat. Und ganz gewiss ist nicht jeder Versuch von Halbwüchsigen oder Erwachsenen, aus der Familie auszubrechen, mit dem Tun des Willens Gottes gleichzusetzen. Doch Voraussetzung dafür, dass ein Mensch empfänglich wird für den Willen Gottes, ist dies: er muss sich frei gemacht hat von menschlicher Bevormundung - so schmerzlich dieser Prozess für alle Beteiligten auch sein mag. Und dann Gott zutrauen und ihn darum bitten, dass er dem ins Freie Gehenden zeigt, wo er ihn haben will. Amen.

Rudolf Rengstorf
Superintendent in Stade
Wilhadikirchhof 11
21682 Stade
e-mail: Rudolf.Rengstorf@evlka.de

 

 


(zurück zum Seitenanfang)