Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 21. August 2005
Predigt über Markus 3, 31-35, verfasst von Hans-Hermann Jantzen
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(31) Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen.
(32) Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir.
(33) Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder?
(34) Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!
(35) Denn wer Gotttes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.

Liebe Gemeinde,

Familienzwist im Hause Gottes? Ein gefundenes Fressen für die Boulevardpresse, greift sie doch schon begierig auf, wenn es mal in unseren Pfarrhäusern allzu menschlich zugeht. Wieviel mehr, wenn die Heilige Familie Risse zeigt.

Was ist los? Offenbar wird Mutter Maria (von Josef lesen wir nichts, er scheint gestorben zu sein) mit ihrem Ältesten nicht mehr fertig. Irgendwie ist er aus dem Ruder gelaufen. Statt, wie es sich gehört, die Rolle des Familienoberhauptes zu übernehmen und die Ernährung der Familie sicherzustellen (immerhin hat er vom Vater ein solides Handwerk gelernt), treibt er sich in zwielichtiger Gesellschaft herum, redet merkwürdiges Zeug (mit ihm sei das Reich Gottes angebrochen!), brüskiert die Honoratioren mit seiner Auslegung von Moral und Gesetz und erregt Aufsehen durch spektakuläre Heilungen. Er droht zum öffentlichen Ärgernis zu werden. Die Familienehre steht auf dem Spiel.

Anscheinend haben Jesu Worte und Taten so verstörend gewirkt, dass die Familie beschließt: er muss aus dem Verkehr gezogen werden. „Er ist von Sinnen,“ heißt es bei Markus wenige Verse zuvor. (Nicht viel anders reagieren übrigens die Schriftgelehrten, wenn auch aus anderen Motiven, indem sie Jesus verdächtigen, mit dem Teufel im Bunde zu stehen: „Er treibt die bösen Geister aus durch ihren Obersten!“) Zunächst will die Familie ihn gewaltsam nach Hause holen, und als das nicht gelingt, versuchen sie es mit Überredung. Das ist die Szene unseres Predigtabschnitts. Mit großem Aufgebot tauchen sie vor dem Haus auf, in dem Jesus sich aufhält: die Mutter, die Brüder und sogar von Schwestern ist die Rede. Wegen des Menschenauflaufs kommen sie gar nicht bis zu ihm durch. Andere stoßen ihn an: „Deine Mutter und deine Geschwister sind draußen, die wollen dich sprechen.“ Und dann diese schroffe, verletzende Antwort: „Wer ist das, meine Mutter und meine Geschwister?“ Und Jesus schaut in die Runde, blickt die an, die da vor ihm sitzen und ihm zuhören, und sagt: „Das hier ist meine Familie. Ihr seid für mich Mutter, Schwestern und Brüder.“ „Er ist von Sinnen!“ Ich finde die Reaktion der Familie nur allzu verständlich.

Liebe Gemeinde, diese kleine Szene ist eine der ganz wenigen biografischen Notizen aus dem privaten Lebensumfeld Jesu. Dass sie für überlieferungswert erachtet wurde und nicht, als Jesu Mutter und Brüder (von den Schwestern hören wir später nichts mehr) längst ihren Platz in der nachösterlichen Gemeinde gefunden hatten, unter den Teppich gekehrt wurde, weist darauf hin, dass es eben gerade nicht um einen Familienzwist geht, sondern um eine grundlegende Aussage über die christliche Gemeinde. Wir haben es hier nicht mit einem ethischen, sondern mit einem ekklesiologischen Text zu tun. Er sagt etwas aus über die neue Gemeinschaft der Familie Gottes. Vorausgreifend könnte ich auch sagen: er sagt etwas aus über die Kirche.

Also doch kein Thema für die Bild-Zeitung. Jesus ist nicht zerstritten mit seiner Familie. Er nimmt hier weder zu Tradition noch zu Moral Stellung. Er will auch nicht die Familienstrukturen auflösen. Dazu kennen wir zu viele Äußerungen Jesu, in denen er Ehe und Familie hoch schätzt. Er stellt allerdings klar, welche Bindungen und Beziehungen in der neuen Gottesfamilie Priorität haben. „Und das Volk saß um ihn.“ Wenn Menschen sich um Jesus versammeln; wenn Gemeinde in Jesu Namen zusammenkommt, dann sind weder Familienbande noch Volkszugehörigkeit, weder Rasse noch Klasse ausschlaggebend. Dann entsteht eine ganz neue Gemeinschaft, in der wir uns über alle bisherigen Grenzen hinweg als Schwestern und Brüder wahrnehmen. Und das nicht, weil wir uns alle so lieb hätten oder uns so wohl fühlten, weil es in der Gemeinde so schön kuschelig ist, sondern weil uns die neue Zugehörigkeit von Gott zugesprochen wird. Der, zu dem Gott bei seiner Taufe gesagt hat: „Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen!“ (Markus stellt das ganz bewusst an den Anfang seines Evangeliums), der sagt zu uns: „Ihr seid meine Schwestern und Brüder!“

Spüren Sie, wie es plötzlich anfängt zu knistern? Nicht wir suchen uns aus, wer vielleicht unser Bruder oder unsere Schwester sein könnte; nicht wir bestimmen, wer zur Familia Dei, zur Familie Gottes, zur Gemeinde Jesu Christi dazu gehört und wer besser draußen bleiben sollte. Jesus selber nennt uns Schwestern und Brüder. Sobald wir uns zu ihm als unserm Herrn und Bruder bekennen, ist es unserer Verfügbarkeit entzogen, wen wir als Familienmitglied akzeptieren wollen und wen nicht.

Da gerät unsere volkskirchliche Durchschnittsreligiosität ganz schön ins Wanken. „Religion muss sein, aber sie darf die Normalität nicht stören.“ Wie oft kann man das so oder ähnlich unter uns hören. Und das ist dann nicht weit weg davon, wie die Familie Jesu und die Schriftgelehrten reagieren. Jesus antwortet darum so schroff und nimmt auch die Kränkung seiner Mutter und Geschwister in Kauf, weil er anders gegen die dicken Bretter vor den Köpfen nicht ankommt. Er will das Kommende, das unerhört Neue deutlich machen. Wo das Reich Gottes am Horizont aufleuchtet, da kann es zu Brüchen und Scheidungen kommen, so seine unmissverständliche Botschaft. Aber es gibt reichlich Entschädigung durch die neu entstehende Geschwisterschaft. Gott sammelt die Seinen als eine neue, nicht in der Blutsverwandtschaft und nicht in der Rechtsgemeinschaft, sondern im Geist Jesu Christi gegründete Gemeinde.

In der christlichen Gemeinde ist also Offenheit gefragt; offene Türen und Herzen für jene, die uns nicht gleich als erste einfallen, wenn wir an eine Gemeinschaft denke, in der wir uns zu Hause fühlen. Die da um Jesus herumsaßen, waren ein sehr gemischter Haufen. Überwiegend werden es die Mühseligen und Beladenen gewesen sein; diejenigen, die es schwer haben, ihren Platz in der Gesellschaft zu behaupten. „Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder“: Jesus befreit aus alten Bindungen, die uns den Blick für Gottes rettende Liebe verstellen. Er überspringt Grenzen, um die Außenseiter und Versager, die in den Augen der Gesellschaft keine Chance haben, wieder in die Geschichte Gottes mit den Menschen hereinzuholen.

Die Kirche hat sich von Anfang an schwer damit getan. Grenzüberschreitungen lösen immer auch Ängste aus. Und so ist die Kirchengeschichte immer ambivalent geblieben, durchwachsen mit ängstlichen Abgrenzungen und mutigen Öffnungen. „Er ist von Sinnen!“ ist genau so aktuell geblieben wie die Erfahrung der neuen Gemeinschaft. Aber die gibt es eben auch, und ihre befreiende und versöhnende Kraft bricht immer wieder durch und bewirkt erstaunliche Veränderungen. So waren Christenmenschen z.B. maßgeblich beteiligt in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung (Martin Luther King) oder bei der Überwindung der Apartheid in Südafrika (Bischof Tutu). Oder hier bei uns im konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung spielen Kirchengemeinden eine wichtige Rolle. Dass da nicht nur Menschen mitmachen, die Jesus kennen und in seinem Namen handeln, braucht uns nicht zu irritieren. Schließlich ist der Barmherzige Samariter (Evangelium!) ein prominentes Beispiel dafür, dass auch Menschen, die nichts von Jesus wissen, etwas von der neuen Gemeinschaft aus Schwestern und Brüdern ahnen können.

„Das ist meine Mutter; das sind meine Brüder und Schwestern.“ Eine große Zusage und eine starke Verpflichtung für uns als Gemeinde. Wie können wir sie einlösen? „Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“ So schließt unser Predigtabschnitt, eine Zusammenfassung der nachösterlichen Gemeinde. Wir würden wir den Sinn dieses Verses auf den Kopf stellen, wollten wir versuchen, durch unsern Lebenswandel die Glaubwürdigkeit des Evangeliums zu erweisen. Hier wird nicht unser Tun unter der Hand zur Voraussetzung dafür gemacht, wer zur Gottesfamilie gehört. Das bleibt zuvorkommender Zuspruch. Rechtfertigung allein aus Gnade. Aber wer diesen Zuspruch hört; wer sich ansprechen lässt von dem, der unser Herr und Bruder sein will; wer sich in die Familie Gottes als Bruder oder Schwester hineinnehmen lässt, dessen Herz wird sich auch für die anderen öffnen und er wird sie als Geschwister erkennen und annehmen.

So ist unsere erste und beste Antwort, dass wir „bei Jesus bleiben“, uns mit anderen in seinem Namen versammeln und auf sein Wort hören. Alles Weitere erwächst daraus. Weil Jesus die, die in seinem Namen zusammenkommen, als seine Familie bezeichnet, können wir auch hier und da zur Familie werden, zu einer neuen Gemeinschaft, in der auch jene zu Hause sind, die anderswo schief angesehen werden. Ich will das nicht idealisieren. Ich weiß, wie sehr wir in unseren alten Bindungen verhaftet bleiben. Aber es ist gut, wenn wir uns an die befreiende Kraft des Evangeliums erinnern und uns immer wieder Augen, Herzen und Hände öffnen lassen.

Als ich an einem predigtfreien Sonntag jetzt in den Sommerferien in einer anderen Gemeinde den Gottesdienst besuchte, saß hinten ein etwas auffälliger Mann. Er bewegte sich unruhig hin und her und murmelte ständig vor sich hin. Zu meiner Überraschung störte sich offenbar niemand daran. Wie ich hinterher erfuhr, kannten ihn die meisten von früher und wussten auch um seine Krankheit. Er gehörte einfach dazu. Und das tat ihm gut.

Mich hat dieses kleine Erlebnis berührt und ich habe darin etwas wiedergefunden von dem, was Jesus meinte: „Das ist meine Mutter; das sind meine Brüder.“ Gott schenke uns offene Herzen für die Gemeinschaft, die er uns schenken will.

Amen.

Hans-Hermann Jantzen
Landessuperintendent für den Sprengel Lüneburg
Hasenburger Weg 67, 21335 Lüneburg
Tel. 04131-401025
Email: hans-hermann.jantzen@evlka.de

 


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