Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 21. August 2005
Predigt über Lukas 10, 23-37, verfasst von Erik Bredmose Simonsen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Man erklärt uns heutzutage fast allzu genau, wer dieser unser Nächster ist, dem wir dem Liebesgebot zufolge Liebe und Barmherzigkeit schulden. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter macht das alles sehr anschaulich für uns, und bekanntlich kann es uns trotzdem große Schwierigkeiten machen – nicht nur, weil unsere Liebe in der Regel nicht recht weit reicht, sondern auch weil es zu Komplikationen verschiedener Art führen kann, wenn wir auch nur im Kleinen versuchen, dem Liebesgebot in unserem Alltag zu entsprechen.

Wir wollen versuchen, ein wenig Licht in die Sache zu bringen, indem wir die durch die Medien so bekannte Angelegenheit des Pastoren einbeziehen, der einen kirchenministeriellen Tadel bekommen hat, weil er einige ausgewiesene serbische Flüchtlinge versteckt hat.

Die Sache ist viel diskutiert worden. Man hat so manches für und gegen die Handlungsweise des Pfarrers gesagt und geschrieben, und dafür und dagegen, ob es angemessen ist, dass er eine dienstliche Rüge erhielt. Es ist dabei allerdings bemerkenswert, dass die meisten von denen, die dem betreffenden Pfarrer kritisch gegenüberstanden, nichts daran auszusetzen hatten, dass er Flüchtlingen half und sie versteckte. Ganz im Gegenteil haben viele zum Ausdruck gebracht, dass es ganz einfach die Pflicht eines Christenmenschen ist, zu helfen und sich eines Menschen, der in Not ist, anzunehmen, wenn man ihm gegenübersteht, und zwar ohne jede Rücksicht auf Hautfarbe oder Religion des notleidenden Menschen. Es ist ausschließlich eine Frage des Gewissens. Wenn also der betreffende Pfarrer Flüchtlingen hilft, die seiner Meinung nach in Lebensgefahr schweben, wenn sie nach Serbien geschickt werden, dann tut er insofern nur seine Pflicht. Er tut, was ein jeder von uns zu tun schuldig ist, wenn es die Situation erfordert.

Das Problem in Sachen dieser Art entsteht dann, wenn man durch seine Handlungsweise mit den Gesetzen des Landes in Konflikt gerät und sich über die Bestimmungen des Parlaments und der öffentlichen Behörden hinwegsetzt. Das darf man natürlich nicht. Zwar gibt es Leute, die meinen, dass man in solchen Fällen Ausnahmen machen müsse, dass das System im Dienste der guten Sache Gnade vor Recht ergehen lassen müsse. Aber wenn man diese Meinung vertreten will, dann beginnen die Probleme, sich zu häufen. Denn wo hätte man dann die Grenze zu ziehen, wann eine Sache so gut ist, dass die Gesetze des Landes außer Kraft gesetzt werden dürften? Wir enden schnell in reiner Willkür, wo jedermann sich seiner besonderen Sache annehmen könnte, die dann über das Gesetz erhaben zu sein hätte.

Das ist natürlich unhaltbar. „Mit dem Gesetz soll man das Land bebauen“, heißt es mit dem berühmten nordischen Rechtssprichwort, und das bedeutet: damit Land und Reich bestehen und das Ganze zusammenhängen kann, müssen wir ein Gesetz haben, das für alle gilt und vor dem wir alle gleich sind.

Und das kann ja sehr grob und streng klingen, aber es gehört zu unserem Verständnis der Rolle des Gesetzes in unserer Gesellschaft, dass es nicht nur streng und buchstäblich angewandt wird, sondern dass es darüberhinaus auch die Möglichkeit der Auslegung in konkreten Fällen umfasst. Darum haben wir nicht nur eine Polizei, die Gesetzesbrecher verhaftet, sondern auch ein Rechtssystem, das alle Gesetzesübertretungen für sich behandelt und die Fakten jedes einzelnen konkreten Falles vor der Urteilsfindung in Betracht zieht.

Natürlich können die Gesetze des Landes als unbillig empfunden werden, aber wenn sie ganz allgemein so empfunden werden, dann können sie auch geändert werden, und das geschieht auch oft. Unsere Gesetzgebung wird ununterbrochen korrigiert, so dass sie zu der Entwicklung der Gesellschaft passt und dem allgemeinen Rechtsempfinden in der Bevölkerung entspricht. Dazu haben wir ja die gesetzgebende Versammlung: das Folketing (unser Parlament).

Aber entscheidend ist natürlich, dass das jeweils geltende Gesetz einzuhalten ist, sonst würde alles in Willkür und Chaos enden.

Und hier spielt es keinerlei Rolle, ob es ein Pfarrer oder meinetwegen auch ein Bischof ist, der sich im Namen des Gewissens veranlasst sieht, die Gesetze des Landes zu brechen, denn niemand von uns ist über das Gesetz erhaben, welche Gründe auch immer vorliegen mögen. Was sollte eine Gesetzesübertretung rechtfertigen können, könnte man fragen; jedenfalls nicht die Erzählung Jesu von heute, wo es sich interessanterweise um einen Priester und einen Leviten handelt, also zwei der religiösen Frontfiguren der damaligen Gesellschaft, die den Notleidenden einfach liegen lassen und an ihm vorbeigehen. Wenn es um die Nächstenliebe und unsere Verantwortung in der Welt geht, gibt es für Jesus keinen Unterschied, ob man weiß oder schwarz, Mann oder Frau, Pastor, Arzt, Bauer oder Hausfrau ist. Wir sind alle gleich vor dem Gesetz – und im Übrigen auch vor Gott.

Wenn wir uns nun all dessen versichert haben, ist doch zu wiederholen und zu betonen, dass wir wie gesagt alle in Lagen kommen können, wo unser Gewissen uns trotzdem gebietet, die Gesetze des Landes zu umgehen, wenn wir einem Menschen in Not gegenüberstehen. Die Not des konkreten Menschen kommt immer zuerst.

Das liegt übrigens auch in Jesu Erzählung, indem der Grund des Priesters und Leviten, den Notleidenden nicht anrühren zu wollen, sehr wohl religiöser Art hat sein kann, weil das jüdische Gesetz Vorstellungen darüber enthielt, dass man unrein wurde, wenn man mit kranken Menschen in Berührung kam.

Der Samariter fasste dies Gesetz großzügig auf und zeigte Barmherzigkeit, als die Situation es so verlangte, und er war als der Nächste des Mannes, der in die Hände von Räubern gefallen war.

Auf diese Weise kann jeder von uns aus Gewissensgründen mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Es kann nicht anders sein. Der einzige gangbare Weg muss daher sein, dass man dem notleidenden Menschen im Geheimen hilft, während man zugleich bereit zu sein hat, für seine Handlungen einzustehen und die Strafe auf sich zu nehmen, die die Übertretung mit sich bringen mag, sofern entdeckt wird, was man getan hat. Das gehört ganz einfach dazu. Und meines Wissens ist der erwähnte Flüchtlingspfarrer denn auch völlig damit einverstanden.

Auf dem Hintergrund dessen, was Jesus über den barmherzigen Samariter erzählt, sowie dessen, was Jesus auch sonst sagte und tat, ist es also die Pflicht eines Christenmenschen, einem Menschen in Not zu helfen, und zwar völlig unabhängig von den Unkosten, ob es dem Gesetz zuwider läuft oder nicht.

Ist man aber soweit gekommen, muss man indessen darauf achten, dass man nicht anfängt, sich selbst seine Nächstenliebe zugute zu halten. Und dies ist wiederum eines der Dinge, die man im Zusammenhang mit der konkreten Sache der versteckten Flüchtlinge diskutiert hat. Und auch hier bin ich nicht der Meinung, dass man den genannten Pfarrer mit Recht tadeln kann, denn das war meines Wissens nie seine Absicht.

Aber wenn sich, wie es in dieser Sache geschehen ist, die Öffentlichkeit, die Medien und die Politik einmischen, dann ist es wirklich schwer, sich da herauszuhalten. Denn dann läuft man ja gerade Gefahr, als der selbstgerechte Wächter der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit dazustehen, und dann ist man jedenfalls auf dem besten Wege dorthin, wo man in Widerspruch zur Verkündigung Jesu gerät. Jesu Verkündigung wendet sich ja immer genau gegen die, die versuchen, sich selbst im Namen der Liebe oder der Wohltätigkeit in den Vordergrund zu stellen. Jesu Pointe ist, dass in dieser Hinsicht niemand von uns in Wirklichkeit sich etwas vormachen kann, denn verglichen mit der aufopfernden Liebe, die er verkündete und für die er selbst ein lebendiges Beispiel war, ist unsere Liebe unter allen Umständen nur ein blasser Abglanz.

Und darüber hinaus kann man sagen: wenn man direkt anfängt, aus der Barmherzigkeit politische Ideologie und Programm zu machen, dann ist es nicht mehr die konkrete Nächstenliebe, um die es geht, denn dann ist die Frage nach der Nächstenliebe zu einer prinzipiellen Frage geworden. Was etwas ganz Anderes ist als Jesu Verweis auf unseren konkreten Nächsten.

Fängt man die Nächstenliebe in einem System und Programm ein, wird sie zu etwas bloß Prinzipiellem, dann geschieht unweigerlich eine Verflüchtigung unserer konkreten Verantwortung und unserer konkreten Liebe. Dann ist es nur allzu leicht, den konkret in Not Geratenen einfach nur liegen zu lassen um der Idee willen, von deren Realisierung man so besessen ist. Der Notleidende hat ja nicht viel davon, dass er möglicherweise zu hören bekommt, wenn wir unser flottes Programm der Nächstenliebe erst einmal realisiert haben, dann wird es keine Probleme mehr in der Welt geben. Auf diesem Konto sind schon unfassbar viele Menschenleben geopfert worden – und werden auch in Zukunft viele Menschen umkommen. Denn das betreffende Programm lässt sich ganz einfach nicht verwirklichen, – weil es nur Menschen sind, die das zu tun hätten, und so weit reicht unsere Liebe nun einmal nicht.

Natürlich kann man ohne weiteres eine politische Partei stiften, die versucht, die Probleme der Welt zu lösen und die Welt für alle zu einer guten Wohnung zu machen – und welche politische Partei würde nicht sagen, dass das insoweit auch ihre Aufgabe und Zielvorstellung sei, obwohl auch die politischen Parteien sehr verschieden sein können in ihrer Auffassung von den Möglichkeiten der Realisierung dieses Programms. Bloß hätte ein solches Programm nicht richtig mit der Nächstenliebe zu tun, von der Jesus spricht – jedenfalls hätte es das nur äußerst indirekt. Christliche Nächstenliebe kann nur konkret sein. Das ist es, was Jesus uns heute zu sagen hat. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass Jesus hier nicht davon spricht, wer unser Nächster ist, sondern vielmehr davon, für wen wir der Nächste sind. In der Erzählung Jesu liegt das Hauptgewicht darauf, dass für den Notleidenden der Samariter der Nächste war – das geht direkt aus der Gegenfrage Jesu an den Schriftgelehrten hervor: Wer von diesen Dreien ist dem zum Nächsten geworden, der von den Räubern überfallen war?

Vielleicht erzählt Jesus die Geschichte so, weil er sagen will, dass wir gerade nicht anfangen sollen, groß Überlegungen darüber anzustellen, wer unser Nächster ist, weil es ganz einfach nicht darum geht, wem wir unsere Barmherzigkeit angedeihen lassen wollen und wann, sondern ganz im Gegenteil darum, dass wir uns derer annehmen sollen, denen wir auf unserem Weg begegnen oder die bei uns anklopfen. Und es kann einem ja auf ganz andere Weise unbehaglich nahe gehen, wenn man nicht selbst wählen darf, wem man seine Güte schenken will. Amen

Pastor Erik Bredmose Simonsen
Præstebakken 11
DK-8680 Ry
Tel.: ++ 45 - 86 89 14 17
E-mail: ebs@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 

 

 


(zurück zum Seitenanfang)