Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 21. August 2005
Predigt über Markus 3, 31-35, verfasst von Jürgen Ziemer
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Liebe Gemeinde!

„Szenen der Familie“ – so könnte man auf den ersten Blick hin diesen Text aus dem Markusevangelium überschreiben. So häufig gibt es Vergleichbares im Neuen Testament nicht. Wenn es um die Familie geht, muss man aufhorchen. Es handelt sich schließlich um ein brandaktuelles Thema.

Die Familie – das ist in der gegenwärtigen Epoche sowohl eine Bastion der Hoffnung wie ein Gegenstand der Sorge. Wo sollen in einer Welt der zunehmenden Ungewissheiten und der raschen Wechsel Stabilität und Verlässlichkeit, Vertrauen und Geborgenheit wachsen wenn nicht in den Familien! Die Sorge um ihren Bestand erfüllt zu Recht viele politische und kirchliche Programme. Die Familie muss geschützt und gefördert werden. Es ist doch am Tage, wie viel soziales Elend und individuelles Leiden dadurch verursacht sind, dass Familien auseinander fallen und den Heranwachsenden keinen inneren und äußeren Halt zu geben vermögen.

Und nun dieser Text! Viele haben ihn schon mal gehört, genau wie ich, aber dann war man doch wieder überrascht. Vergessen? Verdrängt? Sollte Jesus wirklich in dieser Weise gesprochen und gehandelt haben? Die eigene Familie so zu brüskieren! Geübte Bibelleser sinnen auf eine verträgliche Lösung. In früheren Jahrhunderten wurde dieser Text oft so ausgelegt, dass man sagte: es sei gar nicht von der leiblichen Familie die Rede, sondern mit Mutter und Geschwistern sei das Volk Israel, sei die Synagoge gemeint. Das ist eine recht bequeme Lösung, aber welch ein verhängnisvoller Irrweg der Bibelinterpretation. Da wird die Familie, wie uns heute klar ist, zu retten versucht um einen sehr hohen Preis.
Wir müssen schon bei diesem Text bleiben, wie er geschrieben steht, und uns seinen Provokationen stellen:

Das Ende einer Idylle

In der Tat: ein bestimmtes Jesusbild wackelt, wenn wir diese Episode des Evangeliums ernst nehmen. Mancher entsinnt sich gewiss noch der traulichen Lieder und Geschichten vom lieben Jesulein, das seinen Eltern viel Freude bereitete. Jesus mit Vater, Mutter und Geschwistern als Inbegriff des bürgerlichen Familienideals – das war durchaus nach dem Geschmack und der Frömmigkeit vieler Christen. Man muss das gar nicht verächtlich machen. Nur dürfen wir uns nicht den Blick verstellen lassen für die anderen Töne im Evangelium.
Maria und die Brüder Jesu fragen nach Ihm - in manchen Handschriften sind dazu die Schwestern, die natürlich mit gemeint sind, ausdrücklich erwähnt! Sie haben ihn vermisst; und sie waren irritiert durch sein Verhalten. Seine öffentlichen Auftritte erschienen ihnen nicht mehr normal. „Er ist von Sinnen“ (3,21) war ihr Urteil und wohl auch ihre Sorge. Das ging über ihre Verhältnisse, da drohte Ärger. Und doch gehört Er zu ihnen. Wann kommst Du endlich nach Hause!

In gewisser Weise spielt sich hier ab, was in jeder Familie passiert, wo die selbständig werdenden Kinder sich abzulösen beginnen. Da gibt es nicht selten harte Brüche – schmerzhaft für alle Beteiligten und doch oft unbedingt notwendig auf dem Weg nach dem unverwechselbar Eigenen des jungen Menschen.

Freilich die Jesusgeschichte wird durch solche entwicklungspsychologischen Erklärungsversuche nur unzureichend gedeutet. Hier geht es noch um ganz andere Dimensionen.

Auf die Suche seiner Familie reagiert Jesus nicht direkt. Er begibt sich nicht zu den Seinen, redet gar nicht mit ihnen. Stattdessen stellt er eine Frage, die verletzen muss: „Wer ist meine Mutter…?“. Das war hart. Martin Luther hat in einer Predigt zu diesem Text auf seine drastische Art gefragt, warum Jesus wohl „seine lieben Mutter“ so „über die Schnauze… schlägt“. Das ist deutlich. Warum nur reagiert Jesus so befremdlich?
Vielleicht verschafft uns diese kleine Szene mehr Ahnung von der sozialen und emotionalen „Temperatur“ der ursprünglichen Jesusbewegung als mancher andere Text. Es geht um historische Zäsur, um einen unerhörten prophetischen Aufbruch. Die neue Gottesbotschaft fordert neue Formen des religiösen und gesellschaftlichen Lebens; da geht es auch um Infragestellung der traditionellen Bindungen. Jesus lehnt die Familie nicht ab, er ist im Gegenteil davon weit entfernt. Aber er ordnet die Prioritäten neu. Und wenn die Familie zwischen ihn und seine göttliche Mission zu treten droht, dann ist eindeutig, was Vorrang hat:

Die wahren Schwestern und Brüder Jesu

„Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder. Denn wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“

Die Szene hat etwas Revolutionäres. Was Generationen hindurch galt, wird durch Jesus in Frage gestellt. Nicht die klar definierten Merkmale der Zugehörigkeit sind in letzter Instanz entscheidend: weder Blut, noch Stammbaum, noch Volkstum, noch Kultur, noch Sprache. An die Stelle der äußeren, beurkundbaren Kriterien treten innere, geistige, ethische Kriterien, die Jesus auf den Punkt bringt durch den kleinen Halbsatz: „wer den Willen Gottes tut“

Wer gehört zu Jesus, wer ist Christ? Das ist eine ziemlich aktuelle Frage. Hinweise auf die äußeren Kriterien genügen nicht: wer zur Kirche gehört, wer getauft ist, wer seine Beiträge bezahlt, wer den Gottesdienst besucht usw.
Man muss es schon ernst nehmen, wenn heute nicht wenige Zeitgenossen in Distanz zur Kirchen treten mit der Begründung: mir ist die Kirche nicht wichtig, aber ich versuche als Christ im Alltag zu leben. Manche tun es wirklich! Natürlich können solche Aussagen auch als Selbstrechtfertigung der eigenen Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit daher kommen. Aber vielleicht würden uns Kirchenchristen die Augen übergehen, wenn Er heute zeigen würde, wer seine Brüder und seine Schwestern sind. Vielleicht wären wir ähnlich schockiert wie seine Familie aus Nazareth.

„Gottes Willen tun“ – das ist das einzige Maß, auf das es Jesus ankommt – damals wie heute. Aber was heißt denn das? Wenn ich an die anderen Texte dieses Sonntages denke, dann legt sich mir die Antwort nahe: Gottes Willen tun heißt dem Leben dienen, heißt die Unantastbarkeit menschlichen Lebens respektieren, heißt dafür Sorge tragen, dass gefährdetes Leben geschützt wird. Kain und der Barmherzige Samariter – wir haben beide Texte vorhin in den Lesungen gehört - sind die konträren Symbolträger für dieses Maß. Bemerkenswert ist, dass in der Geschichte vom Brudermord (1. Mose 4, 1-16) die Verachtung des Gottes und seines Willens deutlich angesprochen wird. Kain nimmt weder Gottes Warnung noch seine Frage nach Abel ernst. Im Samaritergleichnis (Lk 10, 30-37) dagegen wird Gott gar nicht erwähnt, die Rettung des Lebens genügt. Da ist Gott, da geschieht sein Wille. Der Samariter ist einer, der „eigentlich“ nicht dazu gehört, und der doch jetzt genau gemeint ist, wenn Jesus sagt: „Wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder …“
Der Wochenspruch aus dem Gleichnis vom großen Weltgericht konkretisiert noch einmal diese Familienlogik Jesu, die Logik der Liebe: „Was ihr getan habt einem unter meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40) So kommt es dann zu der höchst ungewöhnlichen Zusammensetzung der „Familie Jesu“: unter anderen ein Samariter, ein Zöllner, eine Frau mit zweifelhaftem Ruf. „Siehe das ist meine Mutter und meine Brüder.“ Da sind die einen, auf die niemand gekommen wäre, und da fehlen andere, von denen es mit Sicherheit erwartet worden wäre.

Werde ich, wird jede und jeder von uns, die wir diesen Gottesdienst miteinander feiern, unter die „Schwestern und Brüder“ Jesu gerechnet werden?
Grundsätzlich schon; denn wir sind nun ja heute hier in dieser Kirche diejenigen, „die um ihn im Kreise sitzen“ und auf die Jesus zeigt, wenn er von seinen wahren Verwandten spricht. Zu viel Sicherheit allerdings wäre fehl am Platze, die Kirche bietet keine Heilsgarantie. Der Text will uns geradezu davor warnen, festlegen zu wollen: der gehört dazu und die nicht. Das endgültige Wort sagt Jesus; es ist noch nicht gesprochen. Glauben heißt darauf vertrauen, dass es auch zu einem jeden und zu einer jeden von uns gesprochen wird: Du meine Schwester, Du mein Bruder!
In manchen christlichen Gruppen und Gemeinden ist es deshalb üblich, dass die einzelnen Mitglieder sich als Bruder und Schwester anreden. Das kann peinlich, gelegentlich auch verlogen wirken. Aber es kann auch gläubige Vorwegnahme des erhofften Zuspruchs Christi sein, Feier der Familie Jesu: Du meine Schwester, du mein Bruder.
Ich möchte keine neue Anredekultur in unseren Gemeinden propagieren, aber es wäre doch etwas, sich einfach einmal dem Impuls auszusetzen: was bedeutet es eigentlich für mich, dass neben mir auf der Kirchenbank, am Abendmahlstisch, im Bibelgespräch meine Schwestern und Brüder in Christus gegenwärtig sind!

Und die leibliche Familie heute?


Ist sie erledigt? Ist sie überflüssig geworden angesichts der neuen Familie Jesu? Mitnichten.
Der Text ist entgegen allem Anschein auch Gute Nachricht für die leibliche Familie.

Erledigt ist nicht die Familie, sondern eine bestimmte Familienideologie. Gegen sie setzt sich Jesus symbolisch zur Wehr. Die Familie ist nicht Alles, kann nicht Alles sein. Wenn sie zum obersten Wert wird und damit zu einer Art von Religionsersatz, dann gefährdet sie sich selbst, dann bleibt in ihr der Wille Gottes auf der Strecke, dann dient sie nicht wirklich dem Leben derer, die ihr anvertraut sind.
Ich denke an Familien, die sich als geschlossene Systeme verstehen, als „feste Burg“ nach dem Motto: drinnen ist alles gut, draußen lauert die Gefahr. Kein Wunder, wenn Heranwachsende dann an der Tür rütteln und ihren eigenen Weg nur in der radikalen Alternative zu ihrer Familie sehen.
Und ich denke aber auch an Familien, in denen Verantwortungslosigkeit und Gleichgültigkeit regieren, in denen jeder nur noch mit den eigenen Problemen beschäftigt ist und die Schutzbedürftigen aus dem Blick geraten. Kein Wunder, wenn die Heranwachsenden dann leicht nur allzu durchsichtigen Verlockungen erliegen.
Wir brauchen lebensfähige, Freiheit und Orientierung gebende Familien. Jesus will sie auch.

Den Willen Gottes tun heißt auch: neu nach der Zukunft der Familie heute fragen und sich für ihr Gedeihen einzusetzen. Familien sind sie nicht Hindernisse, sondern vielmehr Gelegenheiten für das Tun des Gotteswillens. Wo wenn nicht in den Familien – welche Form auch immer sie haben mögen kann die Verantwortung für die Weitergabe und das Gedeihen des Lebens, die Gott will, authentischer wahrgenommen werden! Und wer, wenn nicht die „Schwestern und Brüder Jesu“ wären dazu berufen, dem Leben zu dienen und dafür Sorge zu tragen, dass in unserer Gesellschaft wieder ein Klima entsteht, das Familien gedeihen lässt.

Blicken wir noch einmal auf unseren Text zurück: eine eindrückliche und dramatische „Szene der Familie“. Jesus zeigt, worauf es ankommt. Wir könnten das Bild vervollständigen, wenn wir eine andere bekannte „Szene der Familie“ aus dem Evangelium hinzufügten. Da ist die Situation anders, da weist Jesus nicht falsche Ansprüche zurück, sondern nimmt berechtigte Ansprüche auf und lädt zu sich ein: „Lasset die Kinder zu mir kommen…“ (Mk 10, 14). Beides gehört in das Evangelium: die neue Familie Jesus und die Einladung an die Mütter und ihre Kinder. Sein Segen stärkt die Familie – als Hort für die, die nach Gottes willen leben sollen und die darum aller Liebe wert sind. Amen

Prof. Dr. Jürgen Ziemer
Bernhard-Göring-Str. 14
04107 Leipzig
ziemer@rz.uni-leipzig.de


 


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