Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

15. Sonntag nach Trinitatis, 4. September 2005
Predigt über Lukas 18, 28-30, verfasst von Henning Kiene
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Petrus sprach zu Jesus: "Siehe, wir haben, was wir hatten, verlassen und sind dir nachgefolgt." Er aber sprach zu ihnen: "Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der Haus oder Frau oder Brüder oder Eltern oder Kinder verlässt um des Reiches Gottes willen, der es nicht vielfach wieder empfange in dieser Zeit und in der zukünftigen Welt das ewige Leben."
Lukas 18,28-30

Liebe Gemeinde,

„Ich erinnere den Tag, als ich bei meinen Eltern auszog“, sagt ein Mann im „besten Alter“, „ich höre noch, wie sich die Tür hinter mir leise schloss. Ich spürte Schmerz, ich fühlte aber die Freiheit. Nun lag die Welt und das ganze Leben vor mir. Manchmal gehe ich im Traum noch mal durch die alte Wohnung, sehe meine vor Jahren verstorbenen Eltern, was ist alles geworden seit damals?“ Nachdenklich hebt er die Schultern. „Freiheit ist ein Geschenk, sie bedeutet aber auch Mühe.“ Das habe er damals noch nicht gewusst.

1.
Herrmann Hesse dichtet: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“ Hesse appelliert an die Heiterkeit, aber er kennt auch die Schwere, die in jedem Abschied liegt, und die man nur überwindet, wenn man sie in einen Neuanfang einmünden lässt. Es sind die Stufen, über die das Leben zu seiner Reife gelangt.

Das höre ich aus Jesu Worten: Niemand, der die nächste Stufe nimmt, geht leer aus! Jesus führt von Stufe zu Stufe. Sein Wort weist die Richtung, mehr noch, es gibt die Kraft. Jesus stärkt einem den Mut zu neuen, manchmal auch überraschenden und ungewohnten Schritten, er leiht die Kraft sie dann, wenn die Zeit reif ist, auch wirklich zu nehmen. Ich kann den Zauber eines Anfangs, von dem Hermann Hesse spricht und den ich selber als belebend erlebe, nur spüren, wenn ich die Hoffnung habe, dass Jesu Wort mir die Kraft für die nächste Stufe schenkt. Ohne Gottes Wort blieben die Muskeln genauso wie auch der Wille schlaff hängen.

Trotzdem bleibt die Frage, ob jeder Abschied wirklich ein Neubeginn, ob einem mit jedem Weggehen tatsächlich auch ein neues Ziel verbunden ist, ohne Antwort. Nur bei Jesus hört man ein klares Wort. Der Lohn für den Neuanfang, den Jesus öffnet, wird schon in die Gegenwart hinein ausgezahlt. Jesus gibt Kraft, jetzt. Neulich hat er jemanden nach einer schlaflosen Nacht doch noch einen neuen hellen Morgen geschenkt. Nach erfolglosen Bemühungen ließ er wieder einen satten Fang ins Netz gehen. Nach sieben dürren Jahren verheißt er eine neue, fette Zeit.

Das ganze Lukasevangelium ist voller Lohn. Immer wenn Jesus vom Reich Gottes spricht zahlt er diesen Lohn schon aus. Es wirkt so, als würde das Evangelium nur ein Ziel verfolgen und ausschließlich dem Reich Gottes in die Gegenwart hinein helfen wollen. Es wird mindestens schon greifbar. Und was wird ausgezahlt? Der Zauber den der Glaube in jeden Aufbruch hinein schenkt. Das beginnt mit den Hirten auf dem Felde geht bis zu dem Hirten der dem verlorenen Schaf nachklettert und geht bis zu dem Aufbruch, den die Frauen am Grab erleben. Jesus Christus ist ja selber, mit seinem ganzen Leben der Aufbruch. Er bricht aus der Schöpfung, die für Katastrophen anfällig ist, auf in Dimensionen, die, das ist die letzte Stufe, den Tod mit der vollen Wucht seiner Zerstörungskraft nicht mehr kennen. Doch diese Münze ist schon sehr groß. Gott zahlt selbst die Größten Summen nur in kleinen Münzen aus.

Es sind die unverdienten Sonnentage, die den Regensommer vergessen machen. Auch mit dieser scheinbar kleinen Münze zahlt Gott ewiges Leben an. Mit Sonnentagen gibt Gott eine Portion frischen Optimismus aus. Und: Den Zauber des Anfangs hat vielleicht auch der Mann gespürt, der mitten im größten Hurrikan einen Autofahrer, der im Wasser zu versinken droht, aus dessen Auto zieht und selber in Gefahr gerät. Beide, Retter und Geretteter halten den Lohn der Nächstenliebe in der Hand. Andere fühlen, dass die große Liebe in ihr Leben getreten ist und sprechen von Schmetterlingen im Bauch. Die Liebe zu einem anderen Menschen ist der wagemutigste Aufbruch, den ein Menschenleben kennen lernen kann.

Wieder andere sind einfach erleichtert, wenn sie merken, dass nicht alles im Leben immer nur schwer ist. Ganz andere spüren einen stillen Halt in sich, eine Art geheime Mitte, die ihnen einfach nur geschenkt ist. In jedem Fall zeigt das Lukasevangelium Menschen, die sich von Gottes Reich beeindrucken und mitnehmen lassen. Jesus zahlt das Reich Gottes also in vielen kleinen Beträgen schon an.

Martin Luther sagte „sola gratia“. Gottes Währung heißt Gnade. Martin Luther meinte vielleicht, „du wirst auf allen Ebenen des Lebens nur darum Gewissheit gewinnen, weil Gottes Gnade dich erreicht.“ Sie lässt sich am deutlichsten in der Liebe zwischen Menschen festmachen.

„Ubi caritas et amor, Deus ibi est!" singen in Taizé Tausende junger Menschen, die aus der ganzen Welt zu den Jugendtreffen kommen. „Wo die Liebe zur echten, greifbaren Erfahrung wird, so spürbar ist, dass man den Eindruck gewinnt, hier geschieht etwas, dass dem Leben und nur dem Leben dient, dann ist Gott auf den Plan getreten.“ Das Reich Gottes wird in Münzen und Scheinen ausgezahlt auf denen das Wort Liebe steht. Diese Währung scheint in vielen Gegenden der Welt Mangelware zu sein. Manchmal auch hier, bei uns.
Trotzdem hat Gott den Kurs festgelegt. Den jungen Liebenden bringt er die Sinne ins Schweben und die alten Liebenden wissen, die Tiefe einer Beziehungen wird man nur in immer neuen Stufen ergründen können. Die, die meinen, sie wüssten schon alles über den anderen über das Leben und die Welt, werden sich wundern müssen. Es sind viele Vorurteile über den oder die anderen im Umlauf. Niemand ist fertig, es liegen noch Stufen vor einem, die es zu erklimmen gilt.

Jesus stärkt Sie und mich für die nächste Stufen oder auch für zwei, drei Stufen. Nächstenliebe impft er seinen Menschen ein, nachdem er sie geschenkt hat. Feindesliebe fordert er, die macht den Menschen stark, denkt er. Er überrascht - gerade im Lukasevangelium - damit, dass die besondere Liebe Gottes für die so genannten Kleinen Menschen deutlich zu erkennen ist. „Ubi caritas et amor, Deus ibi est!", „Wo Fürsorge und Liebe ist, da ist auch Gott!“ Den Zauber des neuen Anfangs kann man hier mit beiden Händen greifen.

(Orgel Chor und Gemeinde singen: „Ubi caritas et amor, Deus ibi est!")

2.
„Siehe, wir haben, was wir hatten, verlassen und sind dir nachgefolgt.“ Ob Petrus den Fischernetzen nachtrauert? Er hat jeden Morgen die Stunde genossen, wenn die Boote nach durchfischter Nacht das Ufer wieder erreichten. Da glitzerten die fetten Fischleiber silbrig im Morgenlicht. Er wusste schon, mittags werden sie ihre Käuferinnen gefunden haben. Und ein Mahl blieb auch für ihn übrig, wenn er dann müde am Tisch Platz nahm. Er weiß noch heute, was er hinter sich gelassen hat, als er mit Jesus aufbrach. Und Jakobus und Johannes wissen es auch. Manchmal sprechen die drei über die Zeit am See, über die Nächte auf dem Wasser, sie fachsimpeln über die Fänge und manchmal sehnen sie sich auch zurück. „Siehe, wir haben, was wir hatten, verlassen und sind dir nachgefolgt.“ Weiß Jesus von der Sehnsucht, die sie in die Vergangenheit führt? Der Zauber des Anfangs, den Jesus geschaffen hatte, so wirkt es gelegentlich, ist wie verflogen. Dann wollen sie am an den See zurückkehren und die Netze wieder auswerfen, und den frischen Fang ans Seeufer bringen.

Auch das ist wahr, da ist eine Sehnsucht in vielen Menschen die zurück will. „Ach, manchmal wünsche ich, dass es noch mal so wäre, wie damals!“, das sagt auch der Mann, der sich an das leise Geräusch erinnert, als die Tür ins Schloss fiel und er die elterliche Wohnung für immer verlassen hatte. Er weiß, es wird so nie wieder werden. Es gibt nur ganz selten ein echtes Zurück in die Vergangenheit. Das erleben die Menschen in New Orleans so, jetzt beginnt die Rückkehr der Evakuierten. Doch es ist keine Rückkehr. Die Menschen stehen vor einem gewaltigen Aufbruch. Selbst wenn der Staat hilft und Versicherungen bezahlen, es sind die Menschen an den Küsten, die immer wieder neue Aufgaben lösen müssen. Hoffentlich ist es nun auch Zeit, die nächste Stufe im Klimaschutz zu nehmen. Da braucht es offenbar gewaltige Aufbrüche. Nicht nur die Bewohnerinnen und Bewohner in den Flutgebieten stehet vor einem Aufbruch. Das geht viele von uns auch so. Oft, manchmal täglich stehen wir vor der nächsten Stufe. Kein Tag bleibt ohne Aufgabe, es ist keine Zeit zurück zu blicken, es ist Zeit in die Zukunft zu sehen.

Es braucht Entscheidungen und wir brauchen Orientierung mit Zuversicht. Ich suche den Zauber. Gewinnt die Sehnsucht nach einem Rückweg die Oberhand, oder der Blick nach vorne, der auf den nächsten Anfang gerichtet ist und dessen Zauber endlich kennen lernen will? Der Zauber ist verlockender. Er lässt spüren, wie Gott mitmischt. Und ganz am Ende wird der Zauber eines jeden Anfangs hoffentlich mit einem ganz großen Fest aufwarten.

Jesus sagt: „Es ist niemand, der Haus oder Frau oder Brüder oder Eltern oder Kinder verlässt um des Reiches Gottes willen, der es nicht vielfach wieder empfange in dieser Zeit und in der zukünftigen Welt das ewige Leben.“ Das Wort gilt, es stützt die, die auf dem Weg sind. Auch wenn vieles vage zu sein scheint und die Perspektive nicht weit reichen sollten, eine Stufe zurück in die Vergangenheit schaffe ich nicht mehr. Aber ein Schritt in die Zukunft, für den gewinne ich Kraft. Und die Währung, mit der Jesus rechnet, trägt die Aufschrift „Liebe“. Liebe schenkt Willensstärke und Muskelkraft, sie belebt die Phantasie und sorgt für den Zauber eines Neuanfangs. Diese Währung braucht dauernde Vermehrung, damit ihr Wert erhalten bleibt. Amen

(Orgel Chor und Gemeinde singen: „Ubi caritas et amor, Deus ibi est!")

Referenztext:

Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse


Henning Kiene, Propst im Kirchenkreis Süderdithmarschen
Kampstraße 8a
D-25704 Meldorf
propst.kiene.kksd@kirnet.de


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