Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

16. Sonntag nach Trinitatis, 11. September 2005
Predigt über Klagelieder 3, 22-26.31-32 , verfasst von Christoph Dinkel
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"Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen. Denn der HERR verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte."

Liebe Gemeinde!

(1) Das klingt erst einmal nach einem ziemlich schwachen Trost: „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind.“ Mit anderen Worten: Es hätte noch schlimmer kommen können. Auch die totale Vernichtung wäre möglich gewesen. Immerhin die habe nicht stattgefunden und das liege an der Güte Gottes, so der Prophet. Na toll! denkt man. Da ist man völlig am Ende, hat eine Katastrophe mit knapper Mühe überlebt und dann soll das ein Zeichen für Gottes Güte sein!? „Der Herr verstößt nicht ewig“ – heißt es weiter beim Propheten. Das bedeutet dann wohl aber auch, dass es ganz schön lange dauern kann, bis der Herr einen nicht mehr verstößt. Deshalb spricht der Prophet auch von „harren“, „geduldig sein“ und „hoffen“. Kraftvoller Trost und aufmunternde Zuversicht klingen irgendwie anders.

Der Verfasser unseres Predigttextes ist wahrlich kein Optimist. Das hat seinen Grund. Jeremia hat die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier im Jahr 587 vor Christus zwar überlebt. Aber sein Volk ist ins Exil deportiert. Das Land ist, wie die Unmenschen unserer Tage sagen würden, ethnisch gesäubert. Jerusalem und der Tempel sind zerstört. In dieser Lage geht dem Propheten der Sinn für großartige Verheißungen und glanzvolle Visionen ab. Im Gegenteil. Ganz mühsam muss er sich dazu zwingen, die ganz kleinen Zeichen der Güte Gottes wahrzunehmen: Gottes Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sie ist alle Morgen neu, auch wenn die Nacht der Gottesfinsternis schon viel zu lange dauert. Der anbrechende Morgen, die Wiederkehr des Lichtes wird für den Propheten zum Zeichen göttlicher Barmherzigkeit. Ein sichtlich bemühter, ein zutiefst erschütterter Glaube wird in den Worten Jeremias sichtbar. Jeremia will glauben, obwohl er es angesichts der Lage, in der er sich befindet, kaum kann. Gottes Treue ist groß – sagt er beschwörend zu sich selbst – und würde es so gerne wirklich glauben.

Jeremias mühsamer Glaube ist einem in diesen Tagen durchaus nahe. New Orleans, die Stadt der Leichtigkeit und des Jazz, ist in den Fluten versunken. Verwesende Leichen treiben durch die Straßen. Die mächtigste Nation der Welt hat bei der Organisation von Hilfe im eigenen Land schrecklich versagt. Wie sollte man da optimistisch sein? Heute vor vier Jahren erfolgte der terroristische Angriff auf das World Trade Center in New York. Im Sommer diesen Jahres gab es die tödlichen Anschläge in London. Der islamisch-fundamentalistische Terrorismus hängt wie eine dunkle Wolke über der Welt. Niemand weiß, wann er wieder zuschlägt und wie ihm beizukommen ist. Die Weltsicht hat sich seit 9/11 deutlich eingetrübt. Leichtigkeit und Optimismus fallen schwer. Auch die Lage unseres Landes erscheint vielen als ziemlich deprimierend. Die Plage „Arbeitslosigkeit“ ist für fast fünf Millionen Menschen eine schwere Bürde. Nicht gebraucht zu werden, die Zeit totschlagen zu müssen, irgendeinen Sinn im täglichen Nichtstun suchen zu müssen – auch angesichts der Not der Arbeitslosen vergeht einem der Sinn für Leichtigkeit.

(2) „Nun aber mal halt“, könnte Jeremia einwenden, wenn er uns so reden und nachdenken hörte. „Euch geht es doch verdammt gut!“ würde er vielleicht sagen, wenn er unter uns wäre. „Das ist doch kein Vergleich mit meiner Situation und mit der Situation meines Volkes nach der Zerstörung Jerusalems. Als ich meine Worte aufschrieb, da war unser Land vom Krieg zerstört, es herrschte Hunger, rohe Gewalt und nackte Angst vor der Zukunft. Ihr hingegen, ihr lebt doch im Wohlstand. Bei Euch muss niemand verhungern, Ihr habt ein hervorragendes Gesundheitssystem und seid gegen Risiken jeder Art versichert. OK, einige von Euch haben es wirklich schwer, das will ich gar nicht bestreiten. Aber die meisten von Euch haben doch nur Luxus- und Reichtumsprobleme. Ihr hier fragt Euch doch vor allem, wie Ihr Euer Geld gut anlegt, welche Diät Euch schlanker macht und was gegen Cellulitis und das Altwerden hilft. Zu meiner Zeit lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei etwa 35 Jahren, bei Euch liegt sie bei über 80 Jahren. Ihr macht Euch Sorgen wegen der Überalterung der Gesellschaft! Na, Eure Probleme hätten wir gerne gehabt.“

So könnte der Prophet reden, wenn er hier zugegen wäre. Und was könnten wir antworten oder einwenden? „Lieber Prophet“, könnten wir sagen, „es ist keinesfalls so, dass Wohlstand und soziale Sicherheit die Menschen glücklicher machen. Im Gegenteil: weil man weniger Energie fürs Überleben aufwenden muss, hat man mehr Zeit, sich mit anderen und ihrer Situation zu vergleichen. Und der Vergleich erzeugt Neid und Mangelgefühle im Übermaß. Die phantastischen Auswahlmöglichkeiten, die uns überall präsentiert werden, machen unzufrieden, weil einem das Eigene im Vergleich dazu eher dürftig oder höchstens durchschnittlich erscheint.

Und vor allem, lieber Prophet, bleibt auch auf einem höheren Wohlstandsniveau die Unsicherheit im Blick auf das Leben und die Zukunft ein drängendes Problem. Sorgen um die Gesundheit, um die eigene oder um die der Kinder, Eltern oder Freunde, sind immer bedrängend, egal wie gut die medizinische Versorgung ist. Und eine Angst habt Ihr früher wohl viel weniger gekannt als wir heute: die Angst vor Einsamkeit. Wir modernen Menschen leben zwar viel freier als Ihr, wir sind viel mobiler als Menschen früherer Zeiten, aber deshalb leben wir umgekehrt auch mit viel weniger Bindungen und vor allem mit viel weniger engen Bindungen. Wenn heute jemand keine Arbeit hat oder alt und krank ist, dann fehlt häufig das familiäre Netz, das ihn trägt und hält. Das Leben ist auch in unserer Zeit riskant und bedroht. Und die Ängste und Sorgen, die wir haben, sind für uns genauso real wie die Euren für Euch waren.“

So könnten wir auf die Einwürfe des Propheten antworten, wenn er uns denn hier gegenüberstünde. Ob ihn unsere Argumente überzeugen würden? – Aber wenn wir nur das erreicht hätten, dass wir dem Propheten unsere heutigen Sorgen verständlich gemacht hätten, dann hätte die Begegnung zu wenig gebracht. Denn Jeremia kann uns mehr lehren als nur die Wahrnehmung unserer Sorgen und Ängste.

(3) Mitten in seiner großen Traurigkeit und seinen gut begründeten Ängsten schafft es der Prophet nämlich, aufmerksam zu werden auf die Zeichen für die Güte und Barmherzigkeit Gottes. Er zwingt sich dazu, vom eigenen Unglück und dem Leid seines Volkes abzusehen. Er diszipliniert sich und lässt sich nicht hängen. Deshalb schaut der Prophet auf den Anbruch des Morgens und macht sich klar, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, den Beginn des nächsten Tages zu erleben. Der Anbruch des Tages wird ihm zum Zeichen der Barmherzigkeit, der Treue und Zuverlässigkeit Gottes. Die Sonne geht auf, das Licht wird neu, Leben ist möglich, neue Chancen tun sich auf, man kann etwas tun. „Die Güte des HERRN ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.“

Machen wir es doch dem Propheten nach! Zwingen wir uns, abzusehen von unseren Sorgen und Ängsten. Lassen wir uns nicht hängen, sondern werden wir aufmerksam auf die vielen Zeichen von Gottes Barmherzigkeit und Gnade, die uns umgeben. Und da ist ja nicht nur das Aufgehen der Sonne an diesem Morgen. Da sind auch die Kinder hier in diesem Gottesdienst mit ihrer ganzen Lebendigkeit, da ist N.N., der heute getauft wurde. Ein Kind des Lichts soll er sein, so ist es ihm verheißen.

Aber noch mehr können wir wahrnehmen, was wir mit Fug und Recht als Zeichen der Barmherzigkeit Gottes ansehen könne: dass wir seit 60 Jahren in diesem Land in Frieden leben – wer hätte das gedacht nach zwei Weltkriegen und dem entsetzlichen Morden, das vom deutschen Boden ausging? Wir leben in einem Rechtsstaat, in dem Willkür, Korruption und Gewalt nur Randphänomene sind. Wir leben in einem Land mit einer funktionierenden Verwaltung und vielen leistungsfähigen Unternehmen. Wir haben ein Gesundheitswesen, um das uns der allergrößte Teil der Welt beneidet. Das soziale Netz in unserem Land ist zwar dünner geworden, aber es muss niemand hungern und frieren in diesem Land. Und auch wer arbeitslos ist – und das ist gewiss schwer – bekommt jedenfalls so viel, dass es zum Leben reicht. Im Übrigen haben die allermeisten Menschen in unserem Land Arbeit und viele haben an ihrer Arbeit sogar große Freude und finden darin Erfüllung und Befriedigung.

All das, was wir tagtäglich in Anspruch nehmen und gebrauchen, ist keinesfalls selbstverständlich. Der Vergleich mit der Situation des Propheten Jeremias, der Vergleich mit anderen Ländern dieser Welt, der Vergleich mit dem Deutschland von vor 60 Jahren macht das überdeutlich. Wir leben inmitten einer Fülle von Zeichen der Güte und Barmherzigkeit Gottes. Wir sollten sie wahrnehmen und aufhören zu klagen. Dem Propheten fällt es schwer, an Gottes Güte und Barmherzigkeit zu glauben. Er hat dafür gute Gründe. Er ist nur knapp einer Katastrophe entronnen und wird tagtäglich mit ihren Folgen konfrontiert. Und dennoch zwingt sich der Prophet dazu, auch die kleinen Zeichen der Güte Gottes wahrzunehmen und sagt sich: „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind.“ – Im Vergleich mit dem Propheten, im Vergleich mit den Generationen vor uns und im Vergleich mit den meisten Menschen dieser Erde lebt die Mehrzahl von uns inmitten einer Fülle von Zeichen der Gnade und der Barmherzigkeit Gottes. Uns sollte es deshalb nicht gar so schwer fallen, auf Gottes Gnade und Barmherzigkeit zu vertrauen. Und – ist es so?

Predigtlied : EG 440,1-4, All Morgen ist ganz frisch und neu (Vertonung des Predigttextes)

Prof. Dr. Christoph Dinkel
Pfarrer
Gänsheidestraße 29
70184 Stuttgart
E-Mail: christoph.dinkel@arcor.de
Internet: http://www.uni-kiel.de/fak/theol/personen/dinkel.shtml

 

 


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