Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

16. Sonntag nach Trinitatis, 11. September 2005
Predigt über Klagelieder 3, 22-26.31-32 , verfasst von Bert Hitzegrad
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Bilder brennen sich unauslöschlich ein in unsere Seelen, Ereignisse hinterlassen tiefe Spuren in unserem Leben. Die Bilder von der Hurrikane-Katastrophe in New Orleans sind noch ganz frisch. Menschen, die auf Dächern verzweifelt nach Hilfe schreien, das Massenquartier im Superdome voller verängstigter und verschreckter Menschen, Leichen, die durch die Straßen der einstigen Jazz-Metropole treiben. Dazu Überlebende, die von den entsetzlichen Szenen berichten, die sich abgespielt haben unter den Zurückgebliebenen: Plünderungen, Morde, Vergewaltigungen ...

Bilder, die sich neben anderen Bildern einbrennen. Das Bild der beiden brennenden Zwillingstürme des Worldtrade-Centers in New York. Heute (11.9.) genau vor vier Jahren: Terroristen entführen Flugzeuge mit Passagieren und lassen sie in die Türme rasen. Menschen verbrennen, springen in den Tod, werden unter den Trümmern begraben ... Tausende sterben durch diesen Angriff auf die Symbole des westlichen Fortschritts und den Reichtum der ersten Welt. „Ground zero” wird zur Stunde null einer neuen Angst vor Terror und Übergriffen, von Rache und Gewalt. Bilder, die sich eingebrannt haben, ein Datum, das in den USA niemand mehr vergisst. So wie die Eltern das Datum des Tages nicht mehr vergessen werden, an dem ihr 26-jähriger Sohn mit seinem Motorrad in den Tod raste. Bei strahlendem Sommerschein will er an seinem letzten Urlaubstag noch einmal die Freiheit auf seiner Maschine genießen - bis eine ältere Frau ihm die Vorfahrt nimmt. Er ist sofort tot. Die Polizei überbringt die Todesbotschaft, der Pastor kommt kurz danach. Bilder, die die Familie nie vergessen wird. Genauso das Photo, das am nächsten Tag in der Lokalzeitung vom Unfall zu sehen ist: Der junge Motorradfahrer leblos am Boden, mit einer Decke zugedeckt, aus der nur die verdrehten Beine herausschauen, daneben seine zerquetschte Maschine, Rettungswagen und Sanitäter, die sich um die schwer verletzte ältere Frau kümmern. Der letzte Blick der Eltern auf ihren Sohn, ein Foto, das sie nie mehr loslassen wird. Am Tag darauf die Todesanzeige - „Warum?”

Jeder von uns kennt solche Bilder, jeder von uns kennt diese Frage.

Katastrophen in unserem Leben, Katastrophen auf dieser Welt. Zeiten der Unmenschlichkeit, der Gewalt, des Terrors. Hilflosigkeit angesichts zerstörerischer Menschen und Mächte, vermischt mit den Zweifeln des Glaubens: „ Gibt es Gottes Güte und Barmherzigkeit denn noch? Warum lässt er die Schatten des Bösen zu und die schrecklichen Bilder in unseren Seelen?”

In genau diese Fragen hinein muss unser heutiger Predigttext entstanden sein, mitten hinein in die Erfahrung von Gewalt und Zerstörung. Es sind Verse aus den Klageliedern Jeremias, Verse voller Hoffnung und Zuversicht, die kaum erahnen lassen, in welcher Situation sie entstanden sind:

22 Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende,
23 sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.
24 Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen.
25 Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.
26 Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen.
31 Denn der HERR verstößt nicht ewig;
32 sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.

Ein Wort voller Hoffnung und Zuversicht, Bilder die Mut machen. „Dass wir nicht gar aus sind” - wer vermutet dahinter Tote, Gefangene, Deportierte? „Der HERR betrübt wohl” - manche Traurigkeit und manches schreckliche Bild der Seele lässt sich erahnen. „Der Herr verstößt nicht ewig” - doch das, was Menschen in dieser Zeit erleben, ist für sie ein Stück „Hölle auf Erden”. Tränen fallen aus den Klageliedern auf den Boden Jerusalems. Es ist verbrannte und verwüstete Erde, die die Tränen tränken. Jerusalem ist zerstört. Die Großmacht Babylon hat 597 v.Chr. den kleinen revoltierenden Nachbarstaat überrannt und einige Jahre später endgültig in Schutt und Asche gelegt. Die Klagen über das Unfassbare erinnern an die Bilder von heute: Von Kriegsgefangenschaft ist die Rede, von wohlhabenden Menschen, die zu Bettlern werden, Kinder sterben vor Hunger oder werden von den Müttern gegessen, damit diese ihr Leben retten, Frauen werden vergewaltigt ... Und für das jüdische Volk das Schlimmste: Der Spott der Sieger über das Volk Gottes, das am Boden liegt: „Wo ist nun dein Gott, Israel? Wo ist deine Schönheit, Jerusalem?”

Die Schönheit Jerusalems, die Heiligkeit des Tempels ist dahin. Doch Gott ist da, mitten in diesem Chaos. Denn in den Klageliedern wird nicht irgendein dunkles Schicksal besungen, das über das Volk gekommen ist. Und die Schuld über diesen Garaus wird nicht der übergroßen Militärmacht der Babylonier gegeben. Sondern: Es war Gott, sein Zorn, seine Strafe, seine Gerechtigkeit. Gott ist mitten im Chaos. Aber es ist die dunkle, die zornige Seite Gottes, die uns fremde, abgewandte Seite, die auch Gewalt und Zerstörung zulässt. „Hast du uns denn ganz verworfen, und bist du allzusehr über uns erzürnt?” (Klgl 5,22) Mit diesen Worten schließen die Klagelieder in dem Wissen, dass der Zorn Gottes seinen Grund hat in der Schuld der Menschen.

Die Klage vor Gott hält uns Menschen den Spiegel vor und fragt „Wo seid ihr schuldig geworden? Wo habt ihr Unrecht begangen? Wo habt ihr das Recht eures Nächsten gebeugt? Wo habt ihr Gott nicht in eure Lebensplanung mit einbezogen?”

Der Hurrikane über dem amerikanischen Golf - Kapriolen der Klimate oder eben auch eine Folge der Klimaveränderung auf dieser Welt und damit auch von Menschen gemacht? Die fehlende Hilfe für diejenigen, die aus dem Katastrophengebiet nicht fliehen konnten - eben auch eine Folge der „Klimaveränderung” unter uns Menschen, weil es immer kälter und kühler und berechnender wird? Der Terror der Islamisten - geschürt von einer ungerechten Verteilung von Arm und Reich auf dieser Welt? Und der junge Motorradfahrer, den die Rettungskräfte nur noch mit einer Decke zudecken konnten - eine Folge unserer ungebremsten Freude an Freiheit und Geschwindigkeit?

„Warum, Gott, lässt du es zu?” Wir werden Gott nie ganz verstehen. Es gibt diese verborgene Seite des allmächtigen Vaters. Doch dem Zorn Gottes all unser Versagen auf dieser Welt in die Schuhe zu schieben, wirkt unfair. Denn die Schuld ist bei seinen Menschen zu suchen, Güte und Barmherzigkeit bleiben bei Gott, sie haben noch kein Ende. Deshalb erklingt die Aufforderung so, als würde der Priester im Tempel, der Liturg im Gottesdienst dazu einladen: „Lasst uns erforschen und prüfen unseren Wandel und uns zum HERRN bekehren. Wir haben gesündigt und sind ungehorsam gewesen!” (Klgl 3,40.42).

Ein Lichtblick in der Finsternis der Schuld. Die Klagen verhallen nicht im zerstörten Jerusalem. Gott hört sie. Die Tränen auf der verbrannten Erde lassen neue Hoffnung wachsen. Vor die Bilder des Schreckens schieben sich Bilder der Güte und Barmherzigkeit. Bilder, tief in der Erinnerung eingelagert, um sie hervorzuholen, wenn das Leben so grausam ist.

„Die Güte des HERRN ist’s, das wir nicht gar aus aus sind” - und in der Erinnerung leuchtet der Regenbogen über Noah und seiner Familie, die Gott gerettet hat durch die Sintflut hindurch, um mit ihnen und den Tieren der Arche einen Neuanfang zu wagen. Die Farben des Regenbogens strahlen auf über dem Grau und der Asche des verwüsteten Jerusalems.

„Seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern ist alle Morgen neu” - und in der Erinnerung strahlt der greise Abraham über sein ganzes Gesicht, als er seinen Sohn Isaak in Händen hält. Mit seinem Sohn nimmt die Verheißung Gottes seinen Anfang, dass aus ihm ein großes Volk hervorgehe. Dieses Volk bleibt unter der Verheißung und dem Segen Gottes, jeden Morgen neu, auch an den Flüssen von Babylon.

„Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen” - und die Erinnerung geht zurück nach Ägypten, in die Zeit der Sklaverei, in die Zeit der Geduld. Wie hart sind sie dort geprüft worden, die Kinder Israels. Doch ihre Hoffnung blieb, und sie wurden nicht enttäuscht, denn Gott brachte Hilfe, er befreite sein Volk, und Mose führte es heraus aus der Knechtschaft in die Freiheit der Kinder Gottes. Und das Bild des geteilten Meeres, durch das das Volk Gottes sicher zieht und alle Schrecken der Vergangenheit unter sich begräbt, schiebt sich vor die Hoffnungslosigkeit der Klagenden und geschlagenen Israeliten.

„Gott erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte” - so wie er es getan hat, so wird er es tun. Die Bilder der Zerstörung und Verwüstung sind nicht ausgelöscht, aber sie sind blasser geworden, verlieren ihre Kraft, die verwundeten Seelen können wieder aufatmen.

Wir brauchen solche Bilder der Hoffnung, solche Bilder des Heils. Nicht nur Bilder einer heilen Welt, sondern Bilder, die uns zeigen, wie Gott die Welt heil macht.

Dazu gehört für uns das Bild des gekreuzigten Christus. Das Datum seines Lebens und Sterbens hat sich tiefer eingebrannt in unsere Welt, als der 11. September 2001 oder der 31. August 2005 als Hurrikane „Katrina” den Süden des US-Bundesstaates Louisiana erreichte. Seit Jesus Christus teilt sich die Zeit in „vor” oder „nach seiner Geburt”. Seit dieser Stunde Null in der Weltgeschichte wissen wir, dass Gott auch im Leiden und Sterben die Welt nicht allein lässt. Doch er ist nicht nur der zornige Gott, der straft und schlägt und seine Gerechtigkeit fordert, sondern er ist auch der Gott, der seinen eigenen Zorn aushält und seine Strafe für uns selbst trägt. Ein neues, ein ganz anderes Bild der Liebe und Barmherzigkeit schiebt sich vor unsere Bilder der Rache und Revanche. Zu den Erinnerungen und Klagen so vieler Menschen von Jerusalem bis Ausschwitz, von New York bis New Orleans fügt sich das Bild des leidenden Christus. Und zugleich strahlen die Bilder der Barmherzigkeit, die Bilder aus der Geschichte seine Volkes auf in neuen Farben und dem hellen Glanz der Auferstehung. Ein Bild, das die Bilder von Trauer und Leid überdecken wird, mehr und mehr - in unserer Hoffnung und dann in Gottes Ewigkeit.

Wir brauchen solche Bilder, wir brauchen diese Hoffnung. Auch wenn uns die Bilder des Alltags oftmals andere Nachrichten vermitteln: Gottes Barmherzigkeit hat noch kein Ende.

Weder damals, als die Israeliten ihre Klagelieder anstimmten, noch heute, wenn wir Grund zum Klagen haben. Amen.

Pastor Bert Hitzegrad
Claus-Meyn-Str. 11
21781 Cadenberge
Tel.: 04777/330
eMail: BHitzegrad@aol.com


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