Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

16. Sonntag nach Trinitatis, 11. September 2005
Predigt über Lukas 7, 11-17, verfasst von Elisabeth Birgitte Siemen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Text der dänischen Perikopenordnung)

Warum ist es so, dass wir als Kinder, wenn auch nicht immer, so doch recht oft, genau das tun, was wir nicht tun sollten?
Ich weiss es nicht, aber so ist das einfach.
Ich kann mich erinnern, dass ich einmal hörte, wie meine Mutter mit einer Freundin sprach – und es war sonnenklar, dass das Gespräch nicht für mich gedacht war.
Dafür aber machte es einen unauslöschlichen Eindruck auf mich.
Was der Anlass für das Gespräch war, habe ich vergessen, oder ich habe es nicht gehört, aber ich erinnere mich daran, wie meine Mutter von einer Nachbarin erzählte, die im selben Hause über ihr wohnte. Die Frau verlor innerhalb von drei Monaten zuerst ihren Mann, und dann ihr einziges Kind. Und die Frau hatte zu meiner Mutter gesagt: ”als ich meinen Mann verlor, da ging meine Welt kaput. Aber als sie mein Kind begruben, da war es, wie wenn man mir das Herz aus meiner Brust riss und es zusammen mit ihm begrub.”
Ich kann mich noch heute an das Grauen erinnern, das ich empfand, als ich das hörte. Denn auch kleinere Kinder wissen instinktiv, dass es gegen die Ordnung der Natur ist, wenn Eltern ihre Kinder begraben.
Das Umgekehrte kann schwer genug sein, aber wenn wir die Kinder verlieren, dann ist das ganz hoffnungslos, und zwar ist es dann ganz gleichgültig, wie alt oder jung die Kinder sein mögen.
Ich erinnere mich noch heute an eine meiner ersten Beerdigungen, ein Mann mittleren Alters – und das war an einem richtig nasskalten und trostlosen Wintertag, als wir da auf dem Friedhof standen. Als wir fertig waren, kam die alte, gebeugte Mutter des Verstorbenen und fragte: ”Warum musste mein Sohn vor mir sterben? Warum liege ich nicht da in dem Grab?”
Bis heute kenne ich die Antwort nicht.

All dies und noch viel mehr liegt im heutigen Evangelium über den Sohn der Witwe von Nain.
Diese Erzählung ist eine der allerschwersten, sowohl wenn man darüber predigen, als auch wenn man sie anhören soll.
Weil sie so schwer zu fassen ist.
Es ist, als wüssten wir nicht, was wir mit der Erzählung anstellen sollen.
Weil sie vom Schlimmsten von allem spricht – vom Tod eines Kindes.
Und weil sie gegen alle unsere Erfahrungen spricht.
Und es nützt nicht viel, dass wir uns vorstellen, der junge Mann sei sicher nur scheintot gewesen, oder dass er vielleicht zu einem strengen und beschwerlichen Leben erwachte und dass er ja eines Tages wieder sterben würde.
Dass seine Erweckung bloß ein Aufschieben seines Todes war.
Denn jeder, der einmal am Sterbebett eines geliebten Menschen gesessen hat, weiß ja nur zu gut, dass wir überhaupt nicht so denken.
Wir wünschen uns nur von ganzem Herzen, den Toten wiederzubekommen.

Es ist eine sehr lebensnahe Erzählung. Man empfindet die Trauer zwischen den Zeilen – jedenfalls wenn man selbst Verlust erfahren hat. Man kann es geradezu vor sich sehen – ein Aufzug von Menschen – ein Verstorbener wird zu Grabe getragen. Sie klammern sich an die Bahre des Toten, weil sie wissen, dass sie binnen Kurzem endgültig von ihm Abschied nehmen müssen.
Und wir, ja, wir wissen sehr wohl, wie sie das erlebt haben. Wir kennen das Gefühl, ein Stück Treibgut zu sein, das auf dem offenen Meer herumschwimmt.
So empfanden sie es, an jenem Tage in Nain. Sie hatten einander nötig. Sie haben sich aneinander festgehalten, um sich nicht zu verlieren, mitten in der Trauer und Verzweiflung.

Ja, wir kennen alle das Gefühl, wir wissen, wie sie gefühlt haben.
Wir kennen dies merkwürdige Gefühl, wenn eine geliebter Mensch gestorben ist, dann ist es, als wäre die Zeit stehen geblieben und als wäre die Welt im Ausnahmezustand. Und man begreift nicht, wie man jemals davon loskommen können soll. Die Beine sind schwer wie Blei. Die Welt da draußen wirkt laut und aufdringlich.
Der Tote füllt den ganzen Körper. Und man will das Gefühl nur so ungern aufgeben. Es ist das Letzte, so fühlt man, das einem noch geblieben ist.

Aber was in aller Welt können wir mit dieser Erzählung anfangen?
Kann sie jemals etwas Anderes und mehr sein als eine Erzählung, die uns die Ohren vollschreit – weil sie von Menschen handelt, die einmal in der Stadt Nain ein wahres Wunder erlebt haben – im Gegensatz zu uns, die wir so oft das Gefühl haben, dass die Zeit für Wunder längst vorbei ist?

Das Merkwürdige dabei ist ja, dass diese Geschichte ursprünglich erzählt und erinnert und niedergeschrieben wurde als eine Erzählung, die von Leben und Freude überfloss.
Aber so hören wir sie ja nicht.
Und vielleicht kann sie auch gar nichts Anderes sein.
Es sei denn, wir sehen die Auferweckung des toten Jünglings als einen Widerhall, einen Widerschein von Jesu eigener Auferstehung.

Der heutige Sonntag, der 16. in der Trinitatiszeit, heißt seit alters ”Mittostern”.
Bis heute ist die Trinitatiszeit ruhig dahingegangen. Aber hier, an diesem Sonntag, kommt der Ernst wirklich ans Licht, die Themen, über die zu predigen ist und denen zuzuhören ist, werden jetzt ernst und schwer. Unsere eigenen Verluste werden beleuchtet, mit den Erzählungen von der Auferweckung des Lazarus und vom Sohn der Witwe von Nain. An den kommenden Sonntagen taucht dann unser eigener Tod auf. Und wenn sich das Kirchenjahr seinem Ende zuneigt, geht die Welt unter.
So ist das Drama, das das Kirchenjahr durchspielt.
Deshalb also – wenn wir hier auf halbem Wege von einem gestorbenen Jüngling hören sollen, der zum Leben erweckt wird, dann hat das seinen Grund darin, dass wir an dem österlichen Glauben festhalten sollen, dass Gott das Wort in seinem Munde hat, das einen toten Menschen zum Leben erwecken kann, bei ihm.

Und das ist wohl auch das, was die Hoffnung ist, wenn wir um einen Sarg sitzen mit dem Menschen, für den wir gekämpft haben, um ihn nicht zu verlieren.
Das ist die Hoffnung: dass der geliebte Mensch nun bei Gott ist, dass Gott ihn in seinen Armen birgt – diese Hoffnung ist das Einzige, was in meinen Augen die Trauer etwas leichter erträglich machen kann, so dass wir hoffentlich nicht in Trauer und Sinnlosigkeit zugrunde gehen. Wie aber kann man daran glauben? So heißt es oft vom Auferstehungsglauben des Christentums.
Und wahr ist es ja auch, dass die Botschaft, Tote würden wieder lebendig, so dass wir unseren Lieben, die wir verloren haben, wieder begegnen können, – dass diese Botschaft wohl auch fast zu gut ist, um wahr zu sein, denken wir. Und das kann dann vielleicht schon Grund genug sein, daran zu zweifeln.
Aber die Botschaft ist zugleich zu gut, um gelogen zu sein, für den, der liebt und der deshalb mit seiner Trauer nicht fertig werden kann. Und das ist an sich schon Grund genug, um an die Botschaft zu glauben.
So ist das mit der Auferstehungshoffnung: man muss an sie glauben, wenn man kann – oder an ihr zweifeln, wenn man im übrigen meint, man könne sich den Zweifel leisten.
Und das Merkwürdige ist ja, dass das, was so schwer zu glauben ist, in der Praxis, im alltäglichen gewöhnlichen Leben – dass gerade das einen Sinn macht, wenn wir der Sinnlosigkeit des Todes Auge in Auge gegenüberstehen.
Hier können es sich die Wenigsten von uns leisten zu zweifeln.

Aber es ist schwer, das müssen wir zugeben, es ist recht schwer für uns moderne, ach so aufgeklärte Menschen, etwas so Merkwürdiges, Naturwidriges wie die Auferstehung von den Toten einzupassen. Es passt so schlecht zu der modernen wissenschaftlichen Lebensauffassung und zu all den dagegen sprechenden Erfahrungen, die wir machen.
Denn wir verlieren ja unsere Toten. Ganz konkret, sie verlassen uns.
Ja, die Erzählung ist fast zu gut, um wahr zu sein.
So denken wir, im Alltag. Dann, wenn wir nicht in der Klemme sitzen.
Dort, wo wir nicht berührt sind.
Denn da können wir es uns leisten.
Glauben wir.

Aber was bedeutet es im Grunde, von einer Lebensauffassung zu leben, die auf dem ”Von der Erde bist du gekommen, zu Erde sollst du werden” beruht – und damit Schluss!
Kann man von dieser Lebensauffassung überhaupt leben?

Ich habe mich im letzten halben Jahr viel mit Dante und seiner Komödie beschäftigt, die bekanntlich eine Reise durch die drei Totenreiche ist – durch Hölle, Fegefeuer und Paradies.
Und seine Bilder sind einfach phantatisch – Dante kann auf ganz geniale Weise jeden Leser zum Schaudern, Weinen und Lachen bringen.
Am Eingang zur Hölle gibt es eine Inschrift, die wie folgt lautet:

Durch mich geht ein man in die Stadt der Klage,
Durch mich dahin, wo ewig Schmerz nur wohnt,
Durch mich zum Volk, das ich verloren sage!
Mich schuf, der allgerecht bestraft und lohnt:
Der Vater, machtvoll schon vor ird’schem Tage,
Der Sohn und der als Geist der Liebe thront!
Von Ewigkeit bin ich – für Ewigkeiten:
Die Hoffnung lasst zurück beim Weiterschreiten!

Und nun bin ich mir im Klaren, dass dies wie gesagt die Inschrift ist, die am Eingang zur Hölle steht, wo alle die Verdammten leben.
Aber dennoch – ist dies nicht doch die Konsequenz einer Lebensauffassung, derzufolge nur das, was gemessen und gewogen werden kann, und unsere eigene gesunde Vernunft die Tagesordnung bestimmen?
Ist das letzten Endes etwas Anderes und mehr als eine Reise zu der Hölle, in der alle Hoffnung verschwinden muss?
Ist das etwas Anderes und mehr als eine verzweifelte hoffnungslose Rune der Erinnerung, die wir uns im heiligen Namen der Vernunft ritzen?
Können wir uns Zweifel leisten an dem Tag, an dem wir dem Tod des geliebten Menschen Auge in Auge gegenüberstehen?
Ist die Erfahrung, die wir dann machen, nicht gerade die, dass wir uns an die Hoffnung auf ein ”Mehr als” klammern? Dass nicht alles im Nichts enden kann?

Und ich habe oft darüber nachgedacht, ob es nicht unser Herr selbst ist, der die Hoffnung in unsere Herzen niederlegt – als ein ganz kleines Samenkorn, so klein und anscheinend unbedeutend, dass wir die meiste Zeit gar nicht daran denken?
Aber ich weiß, dass es gerade diese Hoffnung ist, zu der wir in der Taufe wiedergeboren werden.

Thomas Moore, ein amerikanischer Therapeut und ehemaliger katholischer Mönch, schreibt in seinem Buch ”Seelenfreunde” schön und wahr über dieses ”Mehr als”: ”Die Seele ist in ihrem Ursprung nicht beschränkt auf das, was im Rahmen des Lebens liegt. Der Tod löscht ein Verhältnis nicht aus, nein, er stellt es ganz einfach in einen anderen Zusammenhang. Wenn wir unser Verhältnis zu den Toten pflegen, erhält die Seele Nahrung von der Ewigkeit – und die Form von Verbundenheit, die buchstäblich nicht von dieser Welt ist.
Viele, viele Geschichten über die Seele erzählen, dass sie nicht völlig in diesem Dasein zu Hause ist und dass sie immer versucht, die Bande in den Beschränkungen dieser Welt zu brechen.”

Der Mensch ist dies göttliche Experiment aus Staub und Geist. So sagte Grundtvig. Und deshalb konnte er, wenn überhaupt jemand, Lieder schreiben über die Hoffnung, an die wir uns mit gutem Grund klammern können, über die Hoffnung, zu der wir wiedergeboren sind.
Was die Witwe dachte oder glaubte, wissen wir nicht, aber der Evangelist Lukas will mit seiner Erzählung zeigen, dass die wahre Hoffnung vor ihr eintritt und ihr und dem Kind neues Leben gibt.
Und für Lukas war diese Auferweckung nicht weniger als eine wahre prophetische Handlung – die sowohl zurückverweist auf die Verheißungen Gottes in der Vergangenheit als auch voraus auf die Erfüllung dieser Verheißungen, voraus bis zu dem Tag, an dem es nicht die Witwe, sondern Gott selbst ist, der den schweren Weg gehen und seinem Sohn zum Grab folgen muss.

Und am Ostermorgen, ja, da wurde die Hoffnung geboren, zu der wir alle wiedergeboren sind. Das ist die Hoffnung, von der Lukas mit dem Evangelium von heute erzählen will. Und uns, die wir glauben, will er sagen, dass unser Leben nur eine stetige Wanderung von der Wiege zum Grab ist – dass da vieles ist, was wir nicht begriffen haben.
Es gibt eine Perspektive, die wir nicht einbezogen haben.
Etwas, was weitaus größer ist als wir. Etwas, was breiter, länger, höher und tiefer ist, als wir zu begreifen vermögen, nämlich die Liebe Gottes.
Und so stark ist diese Liebe, dass sie allzeit versuchen wird, die Bande in den Beschränkungen dieser Welt zu brechen.
Und das kann sie.
Denn die Liebe bleibt. Denn die Liebe ist Gott. Amen.

Pastor Elisabeth Birgitte Siemen
Kirsebærbakken 1
DK- 2830 Virum
Tel.: ++ 45 – 45 85 63 30
e-mail: ebsi@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier



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