Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

17. Sonntag nach Trinitatis, 18. September 2005
Predigt über Markus 9, 17-27, verfasst von Rainer Stahl
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Leserin, lieber Leser,
liebe Schwestern und Brüder,

ein herausragendes Ereignis und eine thematische Zuspitzungen bestimmen den heutigen Sonntag:

Zum einen sind wir heute eingeladen, den Internationale Friedenstag der Vereinten Nationen und des Ökumenischen Rates der Kirchen am 21. September schon voraus zu begehen. Der Tag steht diesmal unter dem Motto: „Gemeinschaft des Friedens für alle“, das unsere Mitchristinnen und Mitchristen in Asien erarbeitet und vorgeschlagen haben. Damit treten die vielen ungelösten Konflikte auf unserer Erde in unseren Blick. Damit werden wir an die viel zu viele Waffengewalt und das so immense Leiden erinnert. Damit werden wir herausgefordert, Probleme und Konflikte – die es immer wieder geben wird – wenigstens friedlich zu meistern zu versuchen.

Zum anderen sind wir als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger unserer Bundesrepublik heute aufgefordert, einen neuen Bundestag zu wählen. Heute Abend werden wir alle vor dem Fernseher sitzen und mit Spannung das Ergebnis der Wahl zur Kenntnis nehmen. Selbstverständlich kann und will ich zu keinem bestimmten Wahlverhalten auffordern. Aber ich ermuntere, sich dieser wichtigen Herausforderung nicht zu verweigern, sondern den Weg unserer Gesellschaft durch die Teilnahme an der Wahl mit zu bestimmen – und werde der eigene Einfluss als noch so gering empfunden, und bestehe noch solche Ungewissheit darin, wie entschieden werden sollte.

Unser Predigttext thematisiert die Problemhaftigkeit der Welt am Beispiel persönlicher Krankheit. Wir alle wissen, dass Krankheiten eng mit dem Leben in unserer menschlichen Gemeinschaft zusammen hängen –
mit beruflichen Herausforderungen, denen man nicht zu entsprechen können meint,
mit Frustrationen und Enttäuschungen, die sich in körperlichem Leiden manifestieren,
mit Spannungen und Konflikten in der Familie und zu nahe stehenden Mitmenschen, die nicht gelöst werden können,
mit innerer Zerrissenheit zwischen aufgepfropften oder selbst auferlegten Idealen und mangelndem Leistungsvermögen (auf welchem Gebiet auch immer), die Spannungen in das Leben tragen, die nicht ausgehalten werden können.

Von daher wird uns einleuchten, wenn ich vorschlage, dass wir heute über die Herausforderung der persönlichen Krankheit hinausgehen.
Nicht nur Krankheitsgeschichten provozieren uns als Christen – zum Beispiel eben die Krankheitsgeschichte des Jungen, der immer wieder zu selbstzerstörerischen Bewegungen gedrängt wird.
Sondern auch die Problemhaftigkeit der Gesellschaft im Allgemeinen,
die Leidensgeschichten derer, die nicht mithalten können,
die Ausbrüche von Hass und Verblendung, die es immer wieder gibt,
die Organisation von Gewalt und Verbrechen,
die Versuche, mit Waffengewalt Fakten zu schaffen,
die Kriege.

Wenn wir den Blick so ausweiten, dann wird – jedenfalls für mich – das Erschrecken über die Wirkungslosigkeit der Kirche besonders bedrängend: „Und ich habe mit deinen Jüngern geredet … und sie konnten’s nicht“ – so berichtet der Mann gegenüber Jesus über das mangelnde Vermögen der Kirche. Und die Kirche selbst gesteht vor Jesus dieses mangelnde Vermögen unumwunden zu: „Warum konnten wir ihn nicht austreiben?“ – so fragen Jesus seine eigenen Jünger.

Da ergibt sich für mich ein erster und entscheidender Hinweis: Die Schuld am Scheitern des Wirkens der Kirche wird nicht bei anderen gesucht, nicht der Komplexität der Gesellschaft angelastet, nicht aus möglicher Unterdrückung und Zurücksetzung abgeleitet. Die Schuld am Scheitern des Wirkens der Kirche wird bei sich selbst gesehen:
Was machen wir falsch?
Wo müssten wir uns ändern?

An dieser Stelle müssen wir kurz innehalten. Eine Zwischenüberlegung ist notwendig, damit wir beim Verstehen und Predigen nicht in die Irre gehen. Ich meine die Möglichkeit und die Notwendigkeit der Identifikation der Personen der Geschichte mit Gruppen heute:

Eine Gleichsetzung wird uns allen einleuchten. Im Grunde habe ich sie bisher schon vorgenommen: Die Jünger in unserer Geschichte sind ein Bild für die Kirche heute. Für unsere Ortsgemeinde, in der wir leben. Für die Gemeinschaft im Bistum, in der regionalen Kirche, in der Landeskirche, der wir angehören. Schließlich sind die Jünger ein Bild für die weltweite kirchliche Gemeinschaft, der wir zugehören – z.B. als Gliedkirche des Lutherischen Weltbundes.

Der Mann und sein kranker Sohn gehören zum einen zur Menge, die die Kirche umsteht, die von außen kritisch verfolgt, was da abläuft. Er ist also noch auf dem Weg in die Kirche hinein. Vielleicht wird er immer draußen bleiben.
Zugleich aber – ich hoffe, Sie teilen diesen Eindruck – gehört er eigentlich schon zur Kirche. Ist er doch im Vertrauen, dass ihm die Jünger helfen könnten, dass ihm die Kirche helfen könnte, auf uns zugekommen. Und: Spricht er doch dieses Vertrauen – so zweifelnd es sein mag – deutlich aus: „Ich glaube!“ Darin erkenne ich mich selbst. Wie ich, so gehört auch er zur Kirche hinzu!
Außerdem: Gehört er nicht auch mit seiner Bitte – „hilf meinem Unglauben!“ – zu uns, zur Kirche? Wer von uns wagt es, den Glauben als fest gepachteten und sicheren Besitz zu bezeichnen? Wir alle glauben – und wir brauchen die Hilfe Gottes, die Hilfe Christi, die Hilfe des Geistes Gottes, dass unser Glaube gestärkt werde.

Wohin aber gehört Jesus, wohin gehört Christus? Die Versuchung ist groß, auch in ihm die Kirche zu sehen. Und das würde heißen: Auch der Kirche die Fähigkeit zuzutrauen, so zu helfen, wie er helfen wird. Die Geister und die Probleme unserer Zeit anbalfern zu können: „Fahrt aus! Fahrt nicht mehr in die Welt ein!“
Hier müssen wir beachten, woher Jesus kommt: Er kommt aus einer völligen Sonderstellung, die niemandem sonst verheißen ist: „Das ist mein lieber Sohn; den sollt ihr hören!“ Konsequenterweise wird den Jüngern, die diese Verklärung miterleben, verboten, davon zu berichten.
Dieser selbe Jesus, der verklärt wurde, muss jetzt im Fähigkeits- und Unfähigkeitszusammenhang wirken. Und so meine ich: Dieser Jesus, dieser Christus darf nicht mit uns, mit der Kirche heute gleichgesetzt werden. Er bleibt auch uns, auch der Kirche gegenüber und uns und der Kirche voraus.

Außerdem bleibt er uns, der Kirche, voraus, weil nur durch ihn eine Lösung unserer Fragen und Probleme gegeben wird. Wir fragen ihn: „Warum konnten wir ihn nicht austreiben?“ „Warum waren wir bei Bewältigung konkreter Probleme schwach und wirkungslos?“ Darauf gibt Christus eine Antwort, die in jeder kirchengeschichtlichen Stunde gilt, die auch für unsere Kirche zu Beginn des 21. Jahrhunderts gilt: „Diese Art kann nicht ausfahren als durch Beten.“ „Die Herausforderungen, vor die Ihr Euch gestellt seht, könnt Ihr nur meistern, wenn Ihr betet.“

Ich vermute, dass dies vielen in unserer Kirche, die so genau wissen, wie wir als Christen leben müssten, die sehr parteiliche Problemlösungen für die Nöte unserer Gesellschaft ‚auf Lager haben’, nicht recht passen wird: „Warum beten?“ Vielmehr werden sie denken: „Endlich die Konsequenzen aus dem Glauben ziehen, dann wäre doch viel erreicht.“

Diesen Einwurf verstehe ich sehr. Er ist mir ja auch bei meinem Nachdenken genau an dieser Stelle eingefallen. Und als erstes eingefallen. Trotzdem lohnt es sich, genauer hinzusehen. Die Lösung liegt nämlich in unserer kleinen Geschichte selbst.

An welches Beten denkt Christus? Ist dieses Beten vielleicht vorgebildet in der Erzählung selbst? Ich meine: Ja! Ein Vorbild des Betens, das Christus von seiner Kirche erwartet, gibt der Vater des kranken Sohnes. Unser Beten muss zwei Schwergewichte haben:

Einmal dürfen wir sagen: „Ich glaube.“ D.h., wir dürfen und wir sollen als Christen und als Kirche unseren Glauben beschreiben. Unsere Hoffnungen zum Ausdruck bringen. Die Visionen des Lebens, denen wir folgen, vorlegen und bezeugen: Schon in unserem Leben ist Heil-Sein möglich. Es gibt Gerechtigkeit zwischen uns Menschen, im Umgang mit den Ressourcen unserer Erde. Frieden hat wirklich eine Chance. Die Entscheidung für gewaltfreie Umgangsformen trotz aller Spannungen und Ungleichheiten ist sinnvoll. Ich möchte dieses Feld einfach mit den genannten Allgemeinbegriffen angedeutet haben. Sie alle verstehen, was ich meine. Haben Sie Mut, nach den konkreten Wegen für Frieden, für Gerechtigkeit, für einen unsere Umwelt möglichst wenig zerstörenden Umgang mit der Natur zu suchen und auf diesen Wegen dann auch zu gehen.

Sobald wir uns aber auf diesen Wegen aufmachen, brauchen wir die Bitte „hilf meinem Unglauben!“ Denn – als langjährige Beobachterinnen und Beobachter, als Mitwirkende in der Kirchenszene müssen Sie mir hier doch Recht geben – unsere Kirchen sind von Brüchen zwischen Forderungen, zwischen Ansprüchen und tatsächlichem Leben, effektiv Verwirklichtem gekennzeichnet. Ich darf als bewusst evangelisch-lutherischer Theologe nur einen Zusammenhang ansprechen: In der Theorie vertreten wir lebhaft unser „sola fide“ und unser „sola gratia“, unser „allein aus Glauben“ und unser „allein aus Gnaden“. Aber in der kirchlichem Lebenspraxis gelten doch meist ganz andere Dinge: nämlich Leistung, nämlich Geld. Auch uns gelingt es nicht, wirklich überzeugend den Vorrang von Glauben und Gnade in der Organisationsform unserer Kirche darzustellen. Ich brauche nur an die Nöte zu erinnern, die durch Teilstellen – die aber oft gar nicht als Teil zeitstellen gemeint sind! – und die durch Punktsysteme entstehen. Hier können wir all die großen Grundsätze, die wir gern in die Gesellschaft hinein verkündigen, selbst höchstens in Ansätzen verwirklichen. Hier müssen wir – wenn wir denn ehrlich sein wollen – bitten: „Hilf meinem Unglauben!“

Ist das nicht ein guter Rat für uns als Kirche angesichts der Herausforderungen in unserer Gesellschaft und der Pflicht, Frieden zu organisieren? Zweierlei sollen wir tun: Die Dimensionen unseres Glaubens wirklich bezeugen und sie in unseren Gemeinden und auch in Richtung auf die größtenteils nichtglaubende Gesellschaft wach halten. Zugleich aber haben wir unsere eigenen Mängel vor Gott, vor Christus einzugestehen und um Hilfe zu bitten – im Gebet, also nicht vor der nichtglaubenden Welt.

Wenn Christus uns sagt, dass nur Beten helfe, dann hat er die Zusage gegeben, dass solches Gebet erhört werden wird, dass er also dazu helfen wir, dass beim einen oder beim anderen Problem, bei der einen oder bei der anderen Herausforderung die nötige Lösung von ihm geschenkt wird. Ein Stück Gerechtigkeit gestaltet werde. Ein Bereich Frieden wachsen kann.

Ist das nicht schon eine große Verheißung? Ich lade Sie ein, sich auf diese Verheißung einzulassen. Amen.

Dr. Rainer Stahl
Generalsekretär des Martin-Luther-Bundes
gensek@martin-luther-bund.de


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