Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

17. Sonntag nach Trinitatis, 18. September 2005
Predigt über Lukas 14, 1-11, verfasst von Elisabeth Birgitte Siemen (Dänemark)
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(Text der dänischen Perikopenordnung)

Alles in dieser Welt kann missbraucht werden. Auch das Allerbeste. Freundschaft kann missbraucht werden – der Eine kann die Lust des Anderen ausnutzen, seine Freundschaft zu zeigen, und den Anderen darum bitten, bestimmte Dinge zu tun, die man dann nicht selbst zu tun braucht.
Liebe kann missbraucht werden. Der Verliebte kann Opfer eines Spiels des Anderen mit den verletzlichen Gefühlen werden, er kann ausgenutzt und zum Narren gehalten werden. Und nein, der Gedanke ist fast nicht auszuhalten, dass die Dinge so eingerichtet sind, – dass es in der ganzen Welt nichts gibt, was von der Möglichkeit ausgenommen wäre, missbraucht zu werden. Aber so ist es nun einmal.
Auch Religion kann missbraucht werden. Machthaber können sich erlauben, Sinn und Willen von Menschen mit Hilfe der Religion zu lenken – fast wie eine Art Fernbedienung, gleichsam durch einen Knopfdruck.
Und das ist ja nicht so verwunderlich, denn Religion handelt immer vom Innersten, vom Wichtigsten – darum, was im Herzen wohnt, woran ein Mensch im tiefsten Grunde glaubt und was er für wahr und wichtig hält.
Und wenn man Macht über das Herz und den innersten Glauben eines Menschen bekommt, kann man ihn so manipulieren, dass er alles Mögliche tut.
In dieser Zeit ist dieser Missbrauch leider nur allzu deutlich.
Ja, wir stellen es uns jedenfalls so vor, dass die Dinge so zusammenhängen müssen.
Dass die Menschen, die am 11. September 2001 mit Gewalt und mit Macht das Cockpit übernahmen und die Passagierflugzeuge zu lebenden Brandbomben machten, – dass diese Menschen für die Leiden anderer Menschen völlig blind und taub gewesen sein müssen. Dämonisch besessen kraft der Religion.
Manche Menschen sind da der Meinung, dies sei ein besonderer Zug am Islam. Aber das ist leider nicht so. Alle Religionen können missbraucht werden, und – fast hätte ich gesagt, alle Religionen sind missbraucht worden. Der Hass christlicher Fundamentalisten in Amerika auf den Abort hat beispielsweise zur geplanten Erschießung etlicher Ärzte geführt, die auf diesem Gebiet arbeiten. Das ist uns nicht unbekannt.
Und was für die Religion gilt, das gilt auch für die Politik. Auch das ist uns nicht unbekannt. Das hat uns die Geschichte unzählige Male gezeigt.

Man könnte versucht sein, die Frage zu stellen: Was gehört eigentlich dazu, um Menschen dazu zu bringen, so mörderisch und zynisch zu handeln?

Die deutsche Philosophin Hannah Arendt stellte nach dem 2. Weltkrieg viele kluge Überlegungen an, wie es in Deutschland so schlimm hat kommen können. Sie selbst war in die USA geflohen und damit dem Schicksal entronnen, das das Hitlerregime für sie ausersehen hatte.
Sie wohnte nach dem Krieg etlichen Prozessen gegen Nazis als Beobachter bei – u.a. den Nürnberger Prozessen, und sie stellte fest, dass diese Menschen nicht speziell sadistisch oder böse waren. Es waren recht gewöhnliche Menschen, die nur in einer ungewöhnlichen Situation Möglichkeiten bekommen hatten, die andere Menschen nicht bekommen.
Hannah Arendt nannte es die „Banalität des Bösen“.
Einer der Verbrecher, deren Geschick sie mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgte, war Adolph Eichmann, der bekanntlich in Israel vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt worden ist.
Hannah Arendt beschreibt ihn als eine „beunruhigend“ normale Person, alles andere als ein böser sadistischer Mörder, der auf der Anklagebank saß.
Hinter der harmlosen und sogar leicht kultivierten Fassade verbarg sich ein Mann, der, weil er das Wichtigste verloren hatte, keine Skrupel gehabt hatte, so zu handeln, wie er es getan hat. – Er betonte sogar mehrfach, dass er im Übrigen nur auf Befehl gehandelt habe!
Aber er vergaß das Wichtigste. Das, was wir auch oft vergessen.
Er hatte die Fähigkeit vergessen, selbst zu denken. Die Fähigkeit, ja und nein zu sagen, die Fähigkeit, zwischen gut und böse zu unterscheiden und dann danach zu handeln.
Und haben wir erst einmal das vergessen, dann läuft man Gefahr, seine Seele zu verlieren, also sich selbst und den gesunden Menschenverstand – und dann können wir zu einem Werkzeug für alles Mögliche werden – für Konzentrationslager oder Passagierflugzeuge als lebende Bomben.

Nun mag jemand vielleicht denken – wie hängt das alles zusammen mit dem Evangelium des heutigen Tages? Haben wir uns nicht allzu weit wegbewegt?
Nein, weil es dieselben Dinge sind, um die es in beiden Zusammenhängen geht, wenn auch im Evangelium in weitaus kleinerem Maßstab.
Aber auch für die Menschen, von denen wir heute hören, kommt es zum Kurzschluss.
Es geht um das Sabbatgebot. Alle guten Juden wussten und wissen, dass man am Sabbat ruhen soll – am 7. Tag, weil Gott, wie es im ersten Schöpfungsmythos im Alten Testament heißt, am 7. Tag ruhte von allen seinen Werken, die Gott hervorgebracht hatte, als er die Welt und alles auf ihr und an ihr schuf.
Und als Mose vom Berg in der Wüste herabkommt, mit den zehn Geboten, steht da: Gedenke des Sabbattages – und das bedeutet, dass man freihat von seiner Arbeit und stattdessen den Tag zu Gebet und Gottesdienst benutzt, zum Beisammensein mit Familie und Freunden – um für die Aufgaben der kommenden Woche aufzutanken.
Deshalb hat Gott den alten Berichten zufolge dem Menschen einen Ruhetag gegeben.
Aber man muss aufpassen, ob man dieses Gebot nicht missbrauchen kann.
Im Haus des Pharisäers saßen Leute beieinander und belauerten Jesus – würde er den kranken Mann heilen? – und damit das Gebot übertreten? – denn Heilung war ja Arbeit, wenn man so etwas nun einmal machen konnte; und würde er das tun, worauf sie sicher gehofft haben, dann hätte er sich in ihren Augen als das enttarnt, was er ihrer Meinung nach war, als ein religiöser Charlatan, der nach Belieben mit dem Gesetz umging.
Nun hat Gott aber das Gebot des Ruhetags nicht gegeben, damit Menschen sich damit gegenseitig die Köpfe einschlügen. Und er hat es auch nicht gegeben, damit man glauben sollte, man könnte womöglich der Pflicht, anderen Menschen zu helfen, entgehen. Und deshalb fragt Jesus denn auch: ist es erlaubt, am Sabbat zu heilen? – und niemand antwortet, und da heilte er den Mann.

Es mag schwierig sein, zwischen dem ersten Teil des Lukastextes und seinem letzten Teil einen Zusammenhang zu sehen, aber er besteht.
Wir verstehen, dass es einen kleinen Kampf um die besten Plätze am Tisch gegeben hat, je näher beim Wirt, desto näher obenan, und desto größer ist die Auszeichnung.
Aber genau dieser Kampf um die Plätze spiegelt im Kleinen die menschliche Selbstbehauptung wider, die in ihrer pervertierten Form so leicht zu Fanatismus wird. Ob man sich Allahs Soldaten, Jahves Heerführer oder Christi Streiter nennt, es ist ein und dasselbe: ein Versuch, sich selbst über alle Maßen bedeutend zu machen. Von außen gesehen kann es den Anschein haben, als lösche der Betreffende seine eigene Persönlichkeit völlig aus. Die Wirklichkeit ist allerdings eine ganz andere.
Wenn man sich mit dem Erfolg und Fortschritt seiner Sache, seiner Religion, seiner Ideologie identifiziert, dann bekommt man in Wirklichkeit ein Mega-Ich, das allem und allen überlegen ist. Größer kann man nicht mehr werden, das ist der Platz am nächsten an der Seite Gottes oder Allahs selbst – und es ist das Paradies, das offen wartet.
Und die Pharisäer empfanden sich als Jahves Frontsoldaten, und sie kämpften den Kampf um den ersten Platz.
Jesus aber erzählt ihnen ein Gleichnis, das ihnen klar zeigt: in seinem Weltbild verhält es sich genau umgekehrt. Wer sich selbst erhöht, soll gedemütigt werden, um umgekehrt.
Dieses Gleichnis hat allerdings die Schwäche, dass es sich in Wirklichkeit gar nicht richtig verstehen lässt, ohne dass man Jesu ganze Lebensgeschichte in es hineindenkt; die ganze Geschichte – von Gott selbst, der Mensch wird, geboren in einem schmutzigen Stall auf einem Felde, und der als der schlimmste Verbrecher gekreuzigt wurde, der starb und auferstand am 3. Tage, wie es im Glaubensbekenntnis heißt. Er ist ein Beispiel dafür, was es heißt, sich selbst zu demütigen.
Die wahre Mitmenschlichkeit ist, sich selbst auf den Platz neben dem jämmerlichsten aller Menschen zu setzen, damit sie sich doch in der Liebe eines anderen Menschen selbst spiegeln und dadurch ihre eigene menschliche Würde finden können.
Und das war genau das, was Jesus tat.
Und so kann Gott uns erzählen, dass es keinen Menschen gibt, der unter dem Maß steht, keinen Menschen, der unter ihm Platz finden könnte.
Nur an seiner Seite.
Und eben deshalb hat er uns auch gezeigt, dass aller Kampf um Auszeichnung und bessere Plätze unangebracht und hoffnungslos ist.
Denn mit seinem eigenen Leben machte er allen Spekulationen ein Ende.
Sein Leben, sein Tod und seine Erhöhung auf den Platz zur rechten Hand Gottes machen alle unsere Ambitionen überflüssig.
Weil Gott sich in ihm zu unserem Menschenbruder, zu unserem Mitmenschen gemacht hat, und weil dieser Bruder sich auf den geringsten Platz im Leben gesetzt hat, sollten wir begreifen, dass Christentum nichts mit Selbstbehauptung und Ambitionen für sich selbst oder den lieben Gott zu tun hat.
Christentum hat auch nichts damit zu tun, dass eine Sache, ein Gesetz oder einige Gebote oder eine Religion mit unserer Hilfe gewinnen sollen.
Das Ziel des Christentums ist der Mensch als Mitmensch und als Ziel für die Liebe Gottes. Die Liebe ist das Mittel, der Mensch ist das Ziel.
Er hat es möglich gemacht, dass wir daran glauben können, indem er unser Mitmensch geworden ist. Da ist es dann nur die Frage, ob wir es auch wagen, daran zu glauben.
Amen.

Pastorin Elisabeth Birgitte Siemen
Kirsebærbakken 1
DK- 2830 Virum
Tel.: +45 45 85 63 30
e-mail: ebsi@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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