Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

18. Sonntag nach Trinitatis, 25. September 2005
Predigt über Matthäus 22, 34-46, verfasst von Elof Westergaard (Dänemark)
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Jesus fragt die Pharisäer: „Was denkt ihr von dem Christus? Wessen Sohn ist er?“
„Er ist Davids Sohn“, wissen diese gesetzteskundigen Pharisäer.
Und das ist ihre Antwort, denn sie wissen, dass Christus, Messias, „der Gesalbte“ bedeutet und dass es der König ist, der gesalbt wird.
Christus muss aus dem Geschlecht Davids sein, aus dem Geschlecht der Könige. Das ist selbstverständlich. Er muss Sohn von König David sein. Sohn dessen, der den Riesen Goliath besiegt hat und das Reich groß gemacht hat. Ein solcher Königssohn muss Christus sein. Ein König, der auftritt und alte Träume von Land und Reichtum, Freiheit und Selbständigkeit, Stärke und Kraft zu Wirklichkeit macht.
Jesus stellt darauf den Pharisäern die Frage, wie Christus Sohn Davids sein kann, wenn er in einem Davidspsalm im Alten Testament – in einem der Psalmen, die David selbst zugeschrieben werden – Christus „Herr“ nennt?
„Jemandes Sohn ist ja wohl nicht sein Herr“, sagt Jesus. „Eher ganz im Gegenteil“, würde man sagen mit dem vierten Gebot im Rücken: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.“
Das ist ein Grundgebot. Über die, die dich geboren haben, kannst du niemals Herr werden. Im Gegenteil, du sollst sie ehren, wertschätzen und achten.
Aber, fragt Jesus, wie kann es dann sein, dass König David Christus seinen Herrn nennt, wenn er eigentlich sein Sohn ist.
Ja, das ist eine gute Frage, die die Pharisäer unsicher macht. Diese Schriftgelehrten, die gerne möchten, dass das Gesetz klar dasteht, so dass es sich konkret in Handlung ausdrücken und damit abgegrenzt dastehen kann gegenüber dem, was außerhalb des Gesetzes liegt.
Die Pharisäer sind unsicher. Denn sie können dieses Rätsel nicht lösen und verbleiben merkwürdig stumm.
Und Jesus gibt ihnen auch selbst keine Antwort. Er belässt sie bewusst in ihrer Unklarheit.
Da sind etliche Dinge an dem, was Jesus sagt, und in dem Dialog, der auf uns heute unmittelbar fremd wirkt.
Etwas, was jedoch Jesus und den Pharisäern gemeinsam ist.
Der Inhalt ist fremd: Diese Rede von Christus, dem Messias, und die Erwartung, dass ein solcher König, ein Mensch in die Welt kommen wird.
Heute sind wir sehr viel mehr damit beschäftigt, wozu wir selbst werden oder gemacht werden sollen, wohin uns unsere eigenen religiösen Gefühle führen können und was sich in unseren eigenen Tiefen verbirgt, als dass wir uns dafür interessierten, was zu uns kommt, was uns im Leben gegeben und geschenkt wird.
Aber auch die Form und die Art und Weise, wie Jesus argumentiert, droht unserer eigenen Zeit fremd zu werden, dass er nämlich zu einer alten Schrift greift und hier versucht, etwas Wahres und Bedeutendes über das Wesen Gottes für seine eigene Zeit zu finden. Dass Jesus das Buch der Psalmen nimmt und daraus einen Vers zitiert und ihn in seine eigene Zeit überträgt und ihn hier dazu benutzt, die Sicheren auf dem falschen Fuß zu erwischen. Dieses Vertrauen darauf, was gewesen ist – dass es mit in unsere Gegenwart gebracht werden kann, in unser Jetzt, dieses Vertrauen ist auf dem Wege, aus unserer Gesellschaft zu verschwinden.

Denn wie halten wir es eigentlich mit der Vergangenheit und ihrem Ausdruck heute? Können wir sie zu irgenwas gebrauchen? Können wir aus der Geschichte lernen? Können wir sie mit uns in unsere eigene Zeit herübernehmen?
Wohl kaum. Oder höchst selten. Unser Sinn dafür nimmt jedenfalls ab.
Alles verläuft heute so fix, dass wir die Methoden des Augenblicks so einseitig betonen. Wir müssen uns in der flexiblen Gesellschaft, von der wir ein Teil sind, zurechtfinden können. Wir leben in einem ununterbrochenen Strom von Nachrichten, neuen Geschichten, neuen Verhältnissen. Und hier geht es um uns selbst und darum, was wir selbst schaffen können.
Geschichte, Kulturerbe, Ausdrücke der Vergangenheit werden zu sekundären Angelegenheiten, einigermaßen verstaubt und von Alter heimgesucht. Dass man aus einem alten Psalm, möglicherweise von König David verfasst, etwas Wahres über unser Verhältnis zu Gott herauslesen könnte, und das Paradoxe in dem Bild von Gottes Gegenwart hier auf Erden, das ist kaum zu glauben.
Nimmt man die Schrift ernst und will man etwas daraus hervorheben und mit ins Jetzt nehmen, dann ist man wohl am ehesten Fundamentalist, und Fundamentalisten sind gefährlich.
Aber das sind wir dann, sei es, dass wir uns einer pietistischen, grundtvigschen oder sonst irgendeiner kirchlichen Richtung verbunden fühlen, oder dass wir der Meinung sind, wir stünden ganz außerhalb dieser leicht pharisäischen Unterscheidungen.
Um sich auf eine solche Argumentation einzulassen, die Jesus hier benutzt: er weist auf das Verständnis hin, dass es in der Überlieferung etwas gibt, was auch zu uns heute spricht. Dass wir nicht einfach nur in einer neuen Spur stehen und hier alles selbst erfinden müssen. Es hat andere gegeben, die vor uns das Mysterium, das Christus ist, empfunden und darüber nachgedacht haben.
Hier in der Kirche ist es glasklar, dass wir nicht nur Originale sind. Hier in der Kirche hören wir jeden Sonntag Lesungen aus dem Alten und aus dem Neuen Testament. Alte Texte, die wir wie zu uns gesprochen hören und deren Worte sich, indem sie gesagt werden, an unsere Welt jetzt richten und auf diese Weise fortgesetzt als neue Worte dastehen.
Wir verhalten uns dann zu ihnen, hören sie, als zu uns gesagt – in Widerspruch und in Zuspruch.
Indem wir auf sie hören und kritisch mit ihnen diskutieren, verhalten wir uns mit einer gewissen Demut zur Vergangenheit – sagen wir, dass diejenigen, die vor uns waren, sich ebensogut wie wir zu der gottgeschaffenen Welt, in der wir leben, verhalten konnten, zu Leben und Tod, und dass sie sich ebensogut zu dem verhalten konnten, was uns im Leben von Gott geschenkt wird.
Und nicht nur das. Indem wir uns zu den Schriften verhalten, akzeptieren wir auch, dass wir nicht selbst die Welt schaffen, sondern dass die Wahrheit von außen zu uns kommt, von einem anderen Ort als unseren eigenen Gedanken, Verstand und Herz.
Gottes Geschichte mit der Welt ist ja gerade, dass er am Anfang nahe war, dass er nahe war vor langer Zeit, bevor wir geboren wurden, und noch immer nahe ist. Auch hier in seinem Wort und in seinen Taten. Hierin liegt sowohl ein Gericht über uns, gegen alle unsere Selbstgenügsamkeit, als auch zugleich die Gnade, die Hoffnung, die Gott uns bringt.
Jesus und die Pharisäer argumentieren mit den Schriften, mit dem Gesetz und den Propheten, aber das Besondere an Jesus ist, dass er in seiner Rede von Christus das Mysterium zeigt, das sein Leben hier bei uns ist.
Es besteht eine Doppeltheit in Christus, in der genau diese Nähe und Gegenwart Gottes in der Welt pointiert wird. Christus ist Sohn Davids, Sohn der Welt, in ihr geboren, aber zugleich ist er Herr über den, dessen Sohn er ist. Er erhebt sich über die Welt, indem er ein Teil von ihr ist. Das ist Gottes Geschichte mit uns. Worauf Jesus mit diesen Worten über sich selbst hinweist – denn er selbst ist es ja, um den es hier geht –, das ist das Mysterium, das sein Leben hier bei uns enthält und ist. Zu gleicher Zeit ist er mächtig in seinem Wort und in seiner Tat, zugleich aber steht er kurz darauf mit der Dornenkrone auf seinem Haupt, und die aufgebrachte Volksmenge spuckt ihm ins Gesicht.
Zu gleicher Zeit streben die Fliegen nach seiner Leiche, und zugleich erweist sich das Grab am Ostersonntag als leer, in Licht getaucht, und es steht so als Ausdruck für die Hoffnung, durch die wir leben werden.

Karl Laurids Aastrup schrieb während des Zweiten Weltkrieges, damals, als die Mächte der Welt auch Krieg führten, ein Lied über diesen Dialog zwischen den Pharisäern und Jesus.
„Wir meinen, er ist Wunder“, schreibt Aastrup in dem Lied, als Antwort auf die Frage: Was denkt ihr von dem Christus?
In Aastrups Lied finden wir auch eine starke Pointierung der Doppelheit zwischen dem Allmächtigen und dem Gekreuzigten, dem Starken und dem Schwachen, in ein und derselben Person.
Und nur in dieser Doppeltheit ist Christus zu verstehen:
Er ist Gott und Mann.
Er ist vom Himmel, und doch offenbart auf der Erde des Todes.
Er ist der Weise, der alles weiß, aber zugleich der, der sich in den Staub beugt.
Er ist der Herr, der alles lenkt, und zugleich wurde er ein Armer unter Brüdern genannt.
Es ist das Mysterium und Paradox, das hier in den Worten des Liedes ausgedrückt wird.
Aber ein Paradox und Mysterium, das Liebe und Macht miteinander verbindet.
Denn in dem Gottesbild, dem wir in Christus begegnen, werden die wesentlichsten Gebote konkret, die nach Jesu eigenen Worten die Essenz aller Gebote ausmachen.
Als die Pharisäer Jesus fragen, was das höchste Gebot im Gesetz sei, antwortet er: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt.“ „Du sollste deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Das sind Gebote aus der Zeit und zugleich aus der Ewigkeit.
Und Aastrup fängt diese Pointe ein, wenn er in dem Lied über Christus schreibt: „Wir glauben, er ist der Gute, / der alles gab / und dehalb unser Nächster ward / in Kreuz und Grab.“
Mit anderen Worten: „Du sollst Gott lieben und die sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Diese Gebote sind die höchsten Gebote, – aber sie sind keine Gebote, die in unserem eigenen Licht der Frage zu sehen sind, wie bekomme ich ein gutes und harmonisches Leben? Sie sind zu sehen im Licht dessen, dass Christus der Gute ist, der alles gab, und unser Nächster ward in Kreuz und Grab. Dass wir in ihm zugleich unserem Fürsprecher vor Gott und unseresgleichen begegnen. Dass das Leben in ihm Sinn und Fülle erhält, weil er mit seinem Leben, mit seinem Wort, seinem Tod und Auferstehung unsere Unzulänglichkeit und Hinfälligheit zu Schanden macht und uns in unserer Tiefe eine Hand reicht, damit wir nicht in der Finsternis unseres eigenen Lebens nur zugrunde gehen. In ihm ist Liebe und die Macht. Ja, Aastrup kann deshalb die Gewissheit des Glaubens geradezu mit den Worten ausdrücken: „Wir wissen, Christus wird uns geben, was er zuvor gegeben, und uns zum Leben holen, aus unserem Grab.“
Im Namen Jesu Christi. Amen.

Pastor Elof Westergaard
Gramvej 2, Husby
DK-6990 Ulfborg
Tel. +45 97 49 51 08
E-mail: eve@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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