Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

19. Sonntag nach Trinitatis / Erntedankfest, 2. Oktober 2005
Predigt über Jesaja 58, 7-12, verfasst von Friedrich-Otto Scharbau
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Liebe Gemeinde,

was für eine Perspektive: „Dein Licht wird hervorbrechen wie die Morgenröte und deine Heilung wird schnell voranschreiten!“ Was für ein Durchblick: „Dein Licht wird aufgehen in der Finsternis und Du wirst sein wie ein bewässerter Garten!“ Verheißung eben, und was da erkennbar wird, ist der Horizont einer Zukunft, in der nichts mehr an die jämmerliche Gegenwart mit ihrem Mangel und mit ihren Entbehrungen erinnert: „Deine Gerechtigkeit wird vor Dir hergehen und die Herrlichkeit des Herrn wird Deinen Zug beschließen.“ Ein Traum scheint sich zu erfüllen, geträumt an den Wassern zu Babel, wo sie im fremden Land ihre Harfen in die Weiden hängten und an Zion gedachten, ihre Heimat (Ps 137): “Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen und kommen wieder mit Freuden und bringen ihre Garben.“ (Ps 126)

Unvorstellbar und überwältigend zugleich diese Fülle der Bilder, mit denen die Zukunft Israels beschrieben wird. Kaum, dass man das eine in sich aufgenommen hat, wird es eingeholt von dem nächsten: kein Aufenthalt, kein Verweilen: Brecht auf aus Eurer Lethargie, bleibt nicht hängen in Eurer Beschränktheit auf das Gewöhnliche, beklagt nicht jeden Tag aufs Neue Euer Ungemach, steht auf und folgt Gottes Verheißung.

Sie sind zurückgekehrt aus der Gefangenschaft, sind wieder zu Hause. Aber gerade angesichts dessen, was sie da vorfinden, klingt das, was ihnen jetzt gesagt wird, unvorstellbar und auch unwirklich; es ist ein einziger Widerspruch zu dem, was die Leute tagtäglich erleben: die Vergeblichkeit ihres Tuns: was sie am Tage aufbauen, wird nachts wieder eingerissen von denen, die sich im Land niedergelassen haben, als sie in der Fremde waren, weitab in Babylon. Sie können sich abrackern und schuften von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und sie kommen nicht voran: die Kräfte reichen nicht, das Material reicht nicht, ihre Zuversicht reicht nicht. Die Gefangenschaft in Babylon, drei, vier, fünf Jahrzehnte haben sie überstanden, hatten sich sogar leidlich eingerichtet dort und immer auf die Heimkehr gewartet, aber jetzt, wo das alles ein Ende haben sollte, gibt es Zusammenbruch statt Aufbruch und Mühe ohne Lohn. Und wieder hängten sie ihre Harfen in die Zweige und der Wind rührte ihre Saiten.

Ein wenig kann man es sich vorstellen, wie das war, wenn man sich die Situation in Deutschland am Ende des 2. Weltkriegs und unmittelbar danach vergegenwärtigt, als die Flüchtlinge und Ausgebombten ins Land kamen und um ihre Existenz ringen mussten. Da war auch viel Mangel und Sorge und Nicht-mehr-weiter-Wissen. Und ich erinnere mich noch gut, wie damals ein Pastor aus dem Osten am Flüchtlingssonntag in unserer Gemeinde über das Wort aus dem Hebr predigte: „Werfet euer Vertrauen nicht weg!“ Das war nötig damals. Zukunftserwartung war die Frage nach der Kraft des Vertrauens.

Die Verheißung gilt den aus Babylon Zurückgekehrten. Das babylonische Reich als Großmacht im Osten war abgelöst worden durch Kyrus, den Perser, und Darius, seinen Nachfolger, moderne Herrscher in ihrer Zeit; sie gaben den Verbannten die Freiheit wieder, gaben ihnen das Tempelgut zurück, das der Babylonier geraubt hatte, und erlaubten ihnen, den zerstörten und verfallenen Tempel wiederaufzubauen. Das war ja die eigentliche Verletzung Israels, dass ihr Tempel, Ort der Heiligkeit Gottes, zerstört und die heiligen Geräte außer Landes gebracht waren. Mühsam hatten sie es gelernt, auch ohne Tempel in der Fremde Gott zu dienen und ihm zu vertrauen.

So machten sie sich auf den Weg, ein hoffnungsfroher Zug der Erlösten, wohl wissend, dass ihnen Entbehrungen und Jahre der Wanderung übers Gebirge und durch die Wüste bevorstanden, aber die Aussicht auf Ankunft eines Tages gab ihnen den Schwung loszuziehen: Alte und ganz Alte, Frauen und Männer, auch Jüngere und ganz Junge, in der Fremde geboren und dort auch aufgewachsen. Und als sie schließlich ankamen: Was fanden sie vor? Verfallene Städte und Dörfer, die Äcker verwahrlost, die Weinberge überwuchert von Disteln und Gestrüpp, die Zäune niedergetreten. Wo sollte man anfangen, wo weitermachen? Den Wiederaufbau des Tempels nahm man in Angriff, aber über die Fundamente kam man nicht hinaus, dann geriet auch das ins Stocken wie vieles andere schon vorher. Es schien alles vergeblich.

Und dann diese Verheißung: „Durch Dich soll wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und Du sollst heißen: ‘Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne.’“

Dass man da wohnen könne – das weist nicht in eine unbestimmte, ferne Zukunft, jenseits unserer Zeit, sondern das wird sich in dieser Zeit erfüllen: Ein Ort, an dem man bleiben kann, der alles zum Leben bereit hält, wo keiner ist, der einen vertreibt, wo man säen und ernten und wo das Leben weitergeben kann. Kein Paradies, beileibe nicht, aber verlässliche Chancen für alle.

Ich weiß nicht, wie die Leute das gehört haben. Wahrscheinlich etwas ungläubig. Aber gerade in dem Unglaublichen dieser Verheißung liegt ihre Kraft. Nicht Visionen sind das, die in den Köpfen und Herzen der Menschen entstehen. Auch das wäre ja schon etwas für diese Elenden: Wenn sie eine Vision von ihrer Zukunft hätten. Hier aber trifft sie eine Verheißung. Nicht sie entwerfen ihre Zukunft, sondern die wird ihnen angesagt, verbum externum: das, was man sich selbst nicht sagen kann, wird einem gesagt. Nicht: so denken wir uns das. Sondern: So sehe ich, Gott, Jahwe, Euch in Eurem Land. Es wird Euch gehören und Ihr werdet darin wohnen. In dem Unglaublichen dieser Verheißung liegt ihre Kraft, denn eben darin erweist sie sich als Gottes Wort. Aus dem Nichts ruft es ins Sein, ein neuer Schöpfungstag bricht kraftvoll an: Gott spricht und es geschieht.

Ob die Leute damals das so assoziiert haben, weiß ich nicht. Aber die Wucht dessen, was ihnen da gesagt wurde, die haben sie mitgekriegt und sie haben begriffen: Das ist Gottes Wort, so kann nur Gott reden, der die Zeit überblickt, eines Menschen Zeit, Generationen übergreifend, der Gott der Geschichte. Eben nicht der Gott, der in der Ewigkeit zu Hause ist, sondern der in dieser Zeit mit uns unterwegs ist und uns trägt und hält. Gegen allen Zweifel und Widerspruch, die sich natürlich regen angesichts einer desolaten Wirklichkeit, ist das wahr: „Der Herr wird Dich führen und sättigen in der Wüste.“ Gott bricht ein in all die Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit der Leute und sagt: Ihr werdet leben.

So kann nur Gott reden. Menschen können ehrlicherweise immer nur sagen: Du wirst sterben. Nicht heute, nicht morgen, aber eines Tages; das ist der Weg allen Fleisches. Gott sagt: Du wirst leben. Der in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi gegenwärtig ist, wird Dein Schreien erhören und spricht: „Hier bin ich!“ Es ist das Unglaubliche, dem ich mich anvertraue, wenn ich es denn begreife, was da geschieht – dass Gott sich meiner annimmt. Selbst kann ich mir das nicht sagen, vielleicht, dass ich es mir einreden kann, aber das hält nicht. Nein, ich muss es begreifen, dass so Gott redet, und nur er.

„Der Herr wird Dich immerdar führen und Dich sättigen in der Dürre und Dein Gebein stärken.“ Gottes Wort für die Müden und Ausgezehrten. Weil es Leben verheißt.

Und sie brauchten solche Verheißung, die Zurückgekehrten in Israel. Weil sie genau das nicht glaubten, dass Gott sie im Auge hatte. Sie hatten ihn nicht vergessen, aber war das womöglich eine Einbahnstraße? Man fährt und fährt und plötzlich merkt man, dass einem niemand entgegenkommt, man ist allein und findet nicht wieder heraus. Sie hatten sich ihre Frömmigkeit, ihre Traditionen, ihre religiösen Gebräuche bewahrt in der Fremde und sie kamen ihnen auch jetzt nach. Es gab ja auch keinen Grund, damit aufzuhören, wenn man wieder zu Hause war. Im Gegenteil: Schon aus Dank musste man dabei bleiben. Und war ihre Frömmigkeit ihnen nicht gleichsam zur Heimat geworden im Exil? Ihre Glaubenstradition, das gemeinsame Sich-Erinnern an die Wege Gottes mit seinem Volk hielt sie zusammen. Aber jetzt fragen sie sich: Nimmt Gott uns überhaupt wahr? Sieht er überhaupt, wie wir fasten und ihm diesen? Hört er es, wenn wir sein Lob singen? Es scheint so, als wolle er das alles gar nicht wissen. Und wenn es so ist: Was soll’s? Also auch hier nur Vergeblichkeit. Und das setzt sich natürlich fest, setzt sich fester als all die anderen Mangelerscheinungen, von denen schon die Rede war. Die sind ja noch erträglich, solange man das Gefühl hat, dass es unter den Augen Gottes geschieht. Aber wenn man dessen nicht mehr gewiss ist, dann steht es wirklich schlecht um einen. Ich kann mich ja tatsächlich täuschen und Gott hat durchaus Interesse an mir, an meinem Schicksal, an meiner Traurigkeit, an meiner Angst, an meinem Erschrecken und meiner Erschöpfung, aber das hilft mir wenig, wenn ich mitten drin stecke und frage, wo eigentlich Gott ist in dem allen. Die Erfahrung der Abwesenheit Gottes kann auch den letzten Rest an Lebenswillen und Perspektive auslöschen. Immerhin: Dass Gott ist, das steht nicht zur Diskussion. Aber er ist nicht da! Das ist das Problem.

Unsere Gesellschaft ist eher geprägt von der Vermutung der Gleichgültigkeit Gottes. Wenn jemand an Gott glaubt: nun gut, mag er das tun; wenn einer nicht glaubt, was geht’s mich an? Das eine ist genauso unerheblich wie das andere. Und beides ist ohne Bedeutung.

Meinen sie! Und ahnen gar nicht, was ihnen persönlich, was unserer Gesellschaft verloren geht. Beispiel: Die Wertediskussion, die immer wieder angemahnt und nicht geführt wird – worüber soll man denn auch reden, wenn man sich nicht religiös verorten will? Beispiel: Erwartungen an die Zukunft. In diesen Tagen wurde wieder von einer Umfrage über die Zukunftsängste der Deutschen berichtet. Erstaunliche Zahlen kamen da zum Vorschein. Ob das mit damit zusammen hängt, dass die Menschen sich für den Glauben als Konstante in einer in der Tat ansonsten so zerbrechlichen Welt nicht interessieren? Wo kein Glaube ist, kann auch keine Hoffnung wachsen. Wo kein Gottvertrauen ist, kann es kein Vertrauen in die Zukunft geben. Alles Selbstvertrauen, das wir entwickeln und das wir zur Schau stellen, das reicht im Ernst ja nicht weit. Da können auch politische Programme wenig ausrichten.

Für mich bedeutet das: Wir sind als Christen unserer Gesellschaft ein starkes Zeugnis von der Hoffnung schuldig, die in uns ist, damit sich insgesamt wieder ein Klima der Hoffnung unter uns entwickelt: gegen die erdrückenden Bilder von Hunger und Armut und Gewalt, gegen die Erfahrung von Hilflosigkeit und Vergeblichkeit, gegen Erschöpfung und Nicht-mehr-weiter-können. Dass Zuversicht wächst in einer Welt, in der so viel geklagt und so wenig gedankt wird. Wir dürfen unsere Hoffnung nicht für uns behalten, sondern wir müssen sie mit anderen teilen. Wir müssen Glauben säen, wenn wir Hoffnung ernten wollen.

Aber zurück zu den Heimgekehrten in Israel und zu ihrer Erfahrung der Abwesenheit Gottes. Sie kriegten Antwort, klar und unmissverständlich: Ihr macht etwas falsch! Ihr fastet, aber Euer Herz ist gar nicht dabei. Ihr denkt an Eure Geschäfte, an den Streit mit Eurem Nachbarn, an den Knecht, der nicht arbeiten will. Ihr seid nicht bei der Sache. Und: Richtiges Fasten ist nicht auf Gott gerichtet, sondern auf den Menschen. Das ist neu, unerhört neu. Nicht, worauf Du verzichtest und doch für Dich behältst, ist entscheidend, sondern was Du dem gibst, der seiner bedarf. Darum also: „Brich dem Hungrigen Dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe in Dein Haus. Und wenn Du einen nackt siehst, dann kleide ihn, und entzieh Dich nicht Deinem Fleisch und Blut.“ Fasten nicht als Ritual, das zu bestimmten Zeiten bestimmten Vorschriften folgt und mir das Gefühl gibt, dass es so und genauso von Gott gewollt ist. Die Leute in Israel haben etwas völlig Richtiges geahnt: Davon wendet Gott sich ab. Er braucht solches Fasten nicht. Aber es gibt Menschen, die unser Fasten brauchen, Verzicht um ihretwillen: Hungrige, Obdachlose, Frierende, Hoffnungslose. Damit verliert das Fasten, dieses neue Fasten nicht seinen religiösen Zusammenhang. Im Gegenteil: Es ist ja Gottes Gebot, dass es so geschieht, und diesem Fasten gilt Gottes Verheißung und sein Interesse: „Wenn Du schreist, wird Gott sagen: Siehe, hier bin ich.“ Gott verheißt seine Gegenwart dem, der mit den Armen teilt. Und das nennt er gerecht.

Das muss man sich immer wieder klar machen, und dieser Predigttext hilft uns dazu: Die ganze jüdisch-christliche Tradition, wie sie uns in der Bibel überliefert ist, ist eine Option für die Armen. Reich zu sein ist keine Schande vor Gott, aber nicht mit den Armen zu teilen, das ist ungerecht vor Gott und hat keine Verheißung. Das ist noch nicht ein Programm für soziale Gerechtigkeit. Das wäre eine Aufgabe für die Politik. Hier geht es um Näherliegendes, um das Recht der Armen auf Lebensunterhalt und um das Gebot des Teilens: Dass wir achten auf die Menschen um uns herum, dass wir uns in der Verantwortung sehen, wo Verantwortung gefragt ist. Gerade nicht das Programmierte, sondern das Gebotene – darum geht es! Der Slogan „Geiz ist geil“ ist ein zutiefst unchristliches Lebensmotiv, weil es nicht den anderen sieht, sondern da sehe ich nur mich und was ich habe. „Lass den Hungrigen Dein Herz finden“ heißt es dagegen in unserem Text, „dann wird Dein Licht in der Finsternis aufgehen.“ Es ist also mehr, als dass dieser unselige Slogan von dem Geiz aufgebrochen und die Hand frei wird zum Teilen. Das Herz ist gefragt – dass ich den anderen an mich heranlasse, ihm nicht ausweiche, dass ich ihm ein gutes Wort mit auf den Weg gebe und vielleicht sogar einmal eine Rose statt Geld. Noch einmal: Es geht nicht um den gerechten Ausgleich zwischen Arm und Reich. Aber es geht um das Lebensrecht des Armen in unserer Mitte. Dieses Lebensrecht des Armen steht nicht zur Disposition und kann nicht eingeschränkt werden. Auf dieser Basis kann man dann sogar Programme des sozialen Ausgleichs entwerfen, die sehr unterschiedlich sein mögen im Fördern und Fordern, aber die doch alle einen gemeinsamen Kern haben: Lebenssicherung, Schutz der Würde des Bedürftigen und seine Teilhabe an der Gemeinschaft als Gebot Gottes.

Auf mich bezogen: Dass ich, wenn man so will, die Liebe Gottes weitergebe und damit, vielleicht nur diesem einen Menschen, Hoffnung gebe, die ihn über den Tag hinaus trägt.

Eine spröde Wahrheit zum Erntedankfest. Aber im Grunde wissen wir ja längst, dass es so ist: Auch, was wir mit Dank gegen Gott als Ernte einfahren – zum Segen wird es erst, wenn wir nicht darauf sitzen bleiben, sondern Augen und Herz öffnen für die, die unserer Hilfe bedürfen. Das sind Menschen in unserer Nachbarschaft, solche, die am Markt stehen und betteln, das sind die vielen, die Opfer einer Katastrophe geworden sind irgendwo in unserer Welt; und es sind Menschen, die vielleicht keine materielle Not leiden, aber die angesichts von Vergeblichkeitserfahrungen verzagt sind an ihrem Leben : Sie alle sind uns anvertraut und der Segen Gottes wird mit uns sein auf unserem Weg zu ihnen. Nicht, dass die Verheißungen sich infolge unseres Tuns an uns erfüllen, sondern sie gehen uns voran und wir folgen ihnen. Ohne sie wäre alles nichts. Aber weil sie da sind, hat es guten Grund zu tun, wie uns gesagt ist: Brich dem Hungrigen Dein Brot. Das ist die Ernte , die Gott bei uns sucht.

Amen

Friedrich-Otto Scharbau
F.O.Scharbau@t-online.de


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