Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

20. Sonntag nach Trinitatis, 9. Oktober 2005
Predigt über Matthäus 22, 1-14, verfasst von Lars Ole Gjesing (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Text der dänischen Perikopenordnung)

Matthäus ist Prediger. Genau wie jeder andere, der die Geschichten Jesu weitergibt, tut er das nicht als Literaturgeschichtler, nicht, um neutralen Unterricht und Aufklärung für wohlmeinende Interessierte zu geben, sondern er tut das eben als Prediger, er tut es, um etwas zu bewirken, um mit seiner Weitergabe Menschenleben zu verändern. Als Prediger hat Matthäus seine besonderen Eigenarten. Eine davon hat damit zu tun, wie er Gottes Langmut verkündet. Die meisten Prediger wollen gern hervorheben, dass sie lange währt. So geht es auch Matthäus, aber er will immer auch – und zwar mit großem Nachdruck – zu verstehen geben, dass sie wahrlich auch nicht unendlich ist, dass die Langmut ein Ende hat und dass sie nicht dasselbe ist wie mangelnder Ernst und Gleichgültigkeit. Wenn Matthäus Jesu Gleichnis von der Hochzeit des Königssohnes nacherzählt, dann meldet sich der Nachdruck an zwei Stellen, wo die Menschen versagt haben.

Das erste Mal ist das der Fall, als die Knechte des Königs angegriffen, misshandelt und getötet worden sind; da wird – in der Wiedergabe des Matthäus – nicht einfach eine passend bemessene Strafe von Seiten des Königs verhängt, nein, er schickt seine Heere aus, lässt die Mörder umbringen und zündet die Stadt an, wo sie wohnen. Es ist wohlgemerkt ein Gleichnis, eine erdichtete Geschichte – kein Beispiel zur Nachahmung. Und als einer der zuletzt Eingeladenen nicht das Festkleid anhat, das man ihm gegeben hat, da wird er nicht bloß durch die Hintertür diskret nach draußen befördert – er wird an Händen und Füßen gefesselt und hinausgeschmissen, und dort draußen herrschen Heulen und Zähneklappern. Lukas erzählt dasselbe Gleichnis in einer sehr viel milderen Form nach, so dass wir Stoff für einen Vergleich haben. Die prophetische Wut, die sich bei Matthäus findet, steht in dem Vergleich sehr deutlich da. Woher kommt sie? Was ist das für eine Wut?

Es ist eine Wut, die in der gewöhnlichen Lebenserfahrung wohlbekannt und wohlbegründet ist. Es ist die Wut darüber, dass Leute ihr Leben vergeuden, es vorübergehen lassen, ohne es zu ergreifen, als wäre es nichts Besonderes. Es ist die Wut, die uns manchmal packen kann, wenn wir einem Menschen gegenüberstehen, der seine Lebensmöglichkeiten begraben hat und nun zu Hause sitzt und über das vergeudete Leben nachgrübelt, darüber, was schief gegangen ist und woran man nun nichts mehr ändern kann, tief versunken in seine eigenen halb neurotischen Probleme ohne den echten Wunsch, aus der Enge herauszukommen. – Es gibt auch Menschen, die da nicht herauskommen können, aber das ist eine andere Geschichte.

In einer besonders starken Ausgabe können wir manchmal diese prophetische Wut bei einer besonders hart betroffenen Gruppe beobachten. Es kommt nicht so selten vor, dass ein Krebs- oder AIDS-Kranker, der nur noch kurze Zeit zu leben hat, in eine völlig ruhige und intensive und abgeklärte Lebensphase kommt, in der jeder einzelne Tag gelebt wird als die Kostbarkeit, die er ist, und in der das Große groß ist und das Kleine klein. Von ihnen kann man hin und wieder diesen rasenden Ausfall gegen uns andere hören: Warum lasst ihr nur eure Tage so unbemerkt verstreichen? Warum lasst ihr eure Kinder hinter eurem Rücken heranwachsen, während ihr herumsaust und euch in Arbeit und selbstgemachten Sorgen begrabt? Warum liebt ihr eure Frauen und Nachbarn nicht mit Verschwendung, anstatt den lieben langen Tag mit Kleinlichkeit und Irritation zwischen den Nächsten verstreichen zu lassen? Wenn der Horizont weit genug ist, wenn Leben und Tod zu Grenzen des Raumes werden, dann meldet sie sich wahr und unabweislich diese Wut oder diese tiefe Trauer über Vergeudung, Kleinlichkeit, Undankbarkeit. Für diese wohlbekannte und wohlbegründete Wut hat Matthäus einen besonders ausgebildeten Sinn. Aber er hat sie nicht erfunden. Und er hat sie auch nicht in die evangelische Überlieferung hineingebracht. Er hat sie mit Jesus gemein. Der Jesus, der manchmal mit einer unerträglichen glanzbildartigen Milde abgebildet wird, wurde immer wieder von dieser prophetischen Wut ergriffen: als er angesichts der Beschränktheit der Jünger ausrufen muss: Wie lange soll ich dies Geschlecht ertragen? Als er den Tempel mit einer Geißel reinigt, als er den Feigenbaum in bildlicher Handlung verflucht, als er die Städte Chorazin und Betsaida wegen ihrer Hartherzigkeit verflucht und seine Generation mit beleidigten Kindern vergleicht, die nicht mitspielen wollen, obwohl sie zum Leben selbst aufgeboten worden sind. Und auch, als er dieses Gleichnis erzählt. Denn das Hochzeitsfest ist ein Bild des Lebens selbst, für das wir keine Zeit haben und an dem teilzunehmen wir leider ablehnen müssen, weil wir uns in Kleinigkeiten verlieren, weil wir keine Zeit haben, weil wir vorher nur eben noch etwas anderes zu erledigen haben. Es leuchtet ein, dass die Wut dazugehört. Es leuchtet ein, dass der Tag des Gerichts im Evangelium von der Schöpferfreude und Liebe Gottes auftritt. Alles andere wäre Geschwätz und Mangel an Ernst und Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben. Wir wissen es nur zu gut, wenn wir einmal unseren Blick von den kleinen und engen Dingen des Alltags lösen.

Was wir dagegen überhaupt nicht wissen konnten, liegt in der Fortsetzung, außerhalb dieses Gleichnisses. Es liegt im Schluss des Evangeliums, wo Jesus die ganze Wut sich selbst treffen lässt, wo er anbietet, unsere Strafe an Karfreitag mit seinem Leben zu bezahlen und wo Gott selbst am Ostertag sein Opfer annimmt. Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen.

Pastor Lars Ole Gjesing
Søndergade 43
DK-5970 Æreskøbing
Tel.: +45 62 52 11 72
E-mail: logj@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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