Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

23. Sonntag nach Trinitatis, 30. Oktober 2005
Predigt über Römer 13,1-7 (Reihe 4) und Johannes 15,18-21 (Reihe 3
verfasst von Christoph Dinkel
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!
„Staatsbürgerkunde“ – so könnte die Überschrift über unseren heutigen Predigttext lauten. Staatbürgerkunde für Christinnen und Christen, verfasst von Paulus, dem Apostel, einem Bürger des römischen Reiches. Im Stil ist diese Staatbürgerkunde eher streng gehalten. Otto Schily und Günther Beckstein werden deutlich rechts überholt. Von demokratischen Rechten, gar von Rechten des Individuums gegenüber dem Staat ist in der Staatsbürgerkunde des Apostels nichts zu finden. Es geht vor allem um Pflichten, um Staatsbürgerpflichten, um die Pflicht Steuern zu zahlen, um die Pflicht, die Obrigkeit zu achten, zu ehren und zu fürchten. Ich lese Römer 13,1-7.

Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt der Anordnung Gottes; die ihr aber widerstreben, ziehen sich selbst das Urteil zu. Denn vor denen, die Gewalt haben, muss man sich nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke.
Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes; so wirst du Lob von ihr erhalten. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst: Sie ist Gottes Dienerin und vollzieht das Strafgericht an dem, der Böses tut.
Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. Deshalb zahlt ihr ja auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, auf diesen Dienst beständig bedacht. So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt.

(1) Puh! Da muss man erst einmal durchatmen. So eine harte law- and order-Rede sind wir heute nicht mehr gewohnt. Wir leben in einem liberalen Rechtsstaat. Wir sind keine Untertanen mehr, sondern freie Bürgerinnen und Bürger. Die Polizei versteht sich als Freund und Helfer. Unser Staat kein Obrigkeitsstaat. Er versucht sich eher als moderne Serviceagentur zu empfehlen, deren Dienstleistungen wir wie Kunden in Anspruch nehmen können. Das Gefühl, einer Obrigkeit gegenüber zu treten, kenne ich persönlich eigentlich nur noch von Grenzkontrollen bei Reisen in die DDR. Sind wir froh, dass diese Zeiten vorbei sind.

Die Sätze des Apostels Paulus passen zunächst einmal nicht in unsere Zeit. Ihr Bild vom Staat, ihr Bild von der Gesellschaft unterscheidet sich grundlegend von dem unseren. Aber selbst in seinem historischen Kontext, also zur Zeit seiner Entstehung etwa 60 nach Christus, dürften die Worte des Paulus unter seinen Mitchristen kaum auf ungeteilte Zustimmung gestoßen sein. „Es ist keine Obrigkeit, außer von Gott.“ – Wenn das gelten soll, dann wäre auch die Obrigkeit, die Jesus zum Tod verurteilt hat, von Gott gewesen. Und wenn die Obrigkeit zurecht das Schwert führt und die Guten belohnt und die Bösen bestraft, dann ist am Ende Jesus wohl auch zu Recht ans Kreuz genagelt worden. Kann das der Apostel wirklich meinen?

Auch wenn wir auf Paulus eigenes Schicksal blicken, erscheinen die von ihm geschriebenen Sätze ziemlich fragwürdig. Im Unterschied zu Jesus war Paulus römischer Staatsbürger. Vor Gericht berief er sich auf diese Staatsbürgerschaft und entging damit einer schnellen Hinrichtung – so kann man es in der Apostelgeschichte lesen. Aber trotz römischem Bürgerrecht wurde Paulus lange Zeit ohne sinnvollen Grund inhaftiert und schließlich per Schiff zum Prozess nach Rom transportiert. Was dort genau geschah, wissen wir nicht, aber dass er als Märtyrer starb, ist doch ziemlich wahrscheinlich. Hätte Paulus seine Sätze auch dann noch so geschrieben, wenn er um sein eigenes Ende durch die römische Obrigkeit gewusst hätte? Zweifel sind angebracht.

Eines ist jedenfalls deutlich: Die Ausführungen des Paulus stehen in offenem Widerspruch zu dem, was Jesus und auch Paulus von der römischen Obrigkeit widerfahren ist. Das hat man auch zu allen Zeiten der Christentumsgeschichte gewusst. Und dennoch haben die Sätze des Apostels zu bestimmten Zeiten eine manchmal fatale Wirkungsgeschichte hervorgerufen.
Mit Berufung auf die Sätze und Gedanken des Apostels hat Martin Luther im Jahr 1525 den Krieg der Fürsten gegen die Bauern zu rechtfertigen versucht. Der Aufstand der Bauern erschien als Aufstand gegen die legitime Obrigkeit, ein solcher Aufstand durfte mit allen Mitteln bekämpft werden. Ein grauenvolles Blutbad unter den Bauern war die Folge.
Mit Berufung auf Paulus konnte im protestantischen Preußen die berüchtigte preußische Untertanenmentalität entstehen. Der Gehorsam wurde zur Staatsdoktrin. Demokratie und Freiheit wurden lange Zeit unterdrückt, dabei hätten andere Sätze des Apostels durchaus in eine andere Richtung gewiesen.
Weil sie die Sätze des Paulus im Kopf hatten, haben viele Christen zur Zeit des Nationalsozialismus nicht gewagt, Widerstand zu leisten. Die Obrigkeit ist von Gott. Sie führt das Schwert zu Recht. Diese Sätze des Apostels haben den religiös motivierten Widerstand in Deutschland gelähmt. Und das eben, obwohl Jesus und Paulus selbst zum Opfer obrigkeitsstaatlichen Unrechts geworden sind.

(2) Eine ganz andere Einstellung zum Staat und zur Obrigkeit kommt in den Sätzen zum Ausdruck, die wir als Schriftlesung gehört haben. Hier steht die Situation der Verfolgung ganz und gar im Vordergrund. Beim Abschied von seinen Jüngern, kurz vor seiner Hinrichtung, spricht Jesus vom Hass der Welt auf ihn und seine Anhänger. Jesus hält diesen Hass für ganz natürlich, weil die Anhänger Jesu durch ihre göttliche Erwählung von der sie umgebenden Welt grundsätzlich geschieden sind. Dieser grundsätzliche Unterschied muss Hass und Verfolgung zur Konsequenz haben. Hier gibt es nichts Gemeinsames. Von Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, davon, dass die Obrigkeit zu Recht das Schwert führt und die Guten belohnt und die Bösen bestraft, kann hier keine Rede sein. Die Christinnen und Christen bilden eine völlig eigene Sphäre für sich. Die Umwelt, der Staat, das sind die Feinde Gottes.

Betrachtet man die historische Situation, die Situation der Verfolgung der Christen durch den römischen Staat und jüdische Behörden – so sind die Worte, die im Johannesevangelium Jesus als Abschiedsrede in den Mund gelegt werden, mehr als verständlich. Immer wieder in der Geschichte des Christentums gab es solche Verfolgungssituationen und in manchen Ländern der Erde gibt es sie bis heute. Aber für unseren Kontext, für die Situation von uns Christinnen und Christen in Mitteleuropa am Beginn des 21. Jahrhunderts, ist auch dies eine fremde Perspektive, die wir für unser Leben und für unsere eigene Situation als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger kaum fruchtbar machen können.

Noch schlimmer: Wer heute einen so scharfen Unterschied zwischen sich selbst als einer von Gott erwählten Gruppe und allen anderen als der bösen Welt markiert, gerät unweigerlich in den Verdacht, entweder paranoid oder ein Fundamentalist zu sein. Die Perspektive „Wir gegen den Rest der Welt“ ist uns in fataler Weise aus den Verlautbarungen islamistischer Terroristen vertraut. Mit einer solchen Geisteshaltung wollen wir nichts zu tun haben. Wir sind Teil dieser Welt. Wir leben gerne auf Gottes Erde. Wir freuen uns am Leben und sind froh, wenn wir mit unserer Umwelt einigermaßen im Gleichklang leben. Wir können verstehen, wenn Christen, die verfolgt werden, sich von ihrer Umwelt fundamental zu unterscheiden versuchen. Aber unsere Sache ist das nicht, das passt nicht in unsere Welt und es passt auch nicht zu uns.

(3) Betrachten wir vor diesem Hintergrund noch einmal die Worte des Apostels Paulus in unserem Predigttext, dann zeigen sie uns plötzlich eine ganz neue, bislang nicht sichtbar gewordene Seite. Auch Paulus liegt nämlich daran, mit seiner Umwelt, so weit es geht, in Einklang zu sein. Und Paulus weiß um die Gefahren einer fundamentalistischen Frömmigkeit, die sich vor der Welt in einen frommen Winkel zurückzieht, um dort eine fruchtlose Sonderexistenz zu führen. Paulus sind diese fundamentalistischen Tendenzen mancher seiner Mitchristen durchaus bekannt und gerade ihnen versucht er entgegenzuwirken. Die Worte des Paulus sind deshalb weniger eine rückwärtsgewandte law- and order-Rede. Sie sind in erster Linie antifundamentalistisch gemeint: Ihr Christinnen und Christen habt kein Recht, euch aus der Welt zurückzuziehen. Die staatliche Ordnung ist an sich eine gute Sache. Sie dient dem Leben, sie dient der Förderung des Guten und der Verhinderung des Bösen. Seid doch nicht so arrogant, als hättet ihr das Recht, euch von all dem fern zu halten. Auch ihr lebt davon, dass der Staat funktioniert, dass er Steuern erhebt und Recht und Gesetz organisiert. Tarnt doch eure Unlust, Steuern zu zahlen und eure Verachtung gegenüber den Politikern, nicht mit religiösen Motiven. Der christliche Glaube will keine Anarchie, der christliche Glaube will eine funktionierende staatliche Ordnung. Christinnen und Christen sollen gute Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sein, weil Gott nicht das Chaos, sondern ein intaktes Gemeinwesen will, das die Lebensmöglichkeiten aller fördert.

(4) Vor dem Hintergrund religiösen Fanatismus’ und Sektierertums entfalten die zunächst so abständigen Worte des Apostel Paulus eine erfreulich antifundamentalistische Stoßrichtung. Aber nicht nur das. Die Ausführungen des Paulus haben auch eine ziemlich wirksame antiklerikale Spitze. Denn Paulus unterscheidet wie sonst niemand vor ihm ganz deutlich zwischen der Obrigkeit und der Religion, also zwischen Staat und Kirche. Beide haben ihr je eigenes Recht und ihre je eigenen Aufgaben. Beide sind von Gott eingesetzt, um das Wohlergehen der Menschen zu fördern. Insofern vollziehen beide einen göttlichen Auftrag und stehen unter Gottes Aufsicht. Aber der Staat ist dabei nicht von der jeweils herrschenden Religion abhängig. Die staatliche Gewalt folgt ihrer eigenen Logik und ihren eigenen Gesetzen, sie sind gegenüber Religion und Klerus autonom.

Was bei Paulus anklingt, wurde später von Augustinus und dann erst recht von Martin Luther zu einer Theorie des christlichen Staatswesens ausgebaut. Die Anerkennung der staatlichen Autonomie gegenüber Klerus und Religion durch Luther war dabei einer der entscheidenden Impulse zur Entstehung moderner Staaten, in denen Staat und Kirche getrennt operieren und staatliches und religiöses Personal verschieden sind. Wie heilsam und fortschrittlich diese Trennung ist, sehen wir leicht, wenn wir auf Staaten wie den Iran blicken, in denen das geistliche Personal auch alle staatlichen Bereiche zu beherrschen versucht. Auch der umgekehrte Fall, dass wie in Nordkorea dem staatlichen Führer religiöse Qualitäten zugeschrieben werden, erscheint uns heute wie selbstverständlich als ein Relikt der Vergangenheit. Wie gut, dass im Gefolge unseres Predigttextes die christliche Religion und die westliche Kultur gelernt haben, zwischen Kirche und Staat, zwischen Recht und Religion zu unterscheiden. Es wäre gut, wenn sich endlich auch in islamisch geprägten Staaten diese Erkenntnis durchsetzte und die christlichen Kirchen nicht länger unterdrückt würden.

(5) So abständig sie zunächst klingen, die Worte des Apostels Paulus haben die Tür zur modernen Gesellschaft aufgestoßen. Sie sind der Anfang einer modernen Vorstellung vom Staatsbürger, der auf der einen Seite seiner Religion mit Glauben und Überzeugung anhängt, der aber zugleich weiß, dass er auf eine staatliche Ordnung und auf ein funktionierendes Gemeinwesen angewiesen ist, ganz unabhängig davon, ob dieser Staat christlich oder anders geprägt ist.

Der Apostel Paulus tritt mit seinem Eintreten für den Staat allen fundamentalistischen und sektiererischen Ansätzen entgegen. Er verweist darauf, dass Gott auch mit Hilfe des Staates und seiner Organe die Welt regiert und erhält. Überall dort, wo der Staat Recht und Gerechtigkeit zum Durchbruch verhilft, wirkt er im Sinn und im Auftrag Gottes. Für Christinnen und Christen ist es zugleich staatsbürgerliche und religiöse Pflicht, den Staat bei dieser Aufgabe zu unterstützen. Denn Gottes Wille verwirklicht sich nicht abseits weltlicher und staatlicher Angelegenheiten, sondernin ihnen. Ein gut geführter Staat und ein funktionierendes Gemeinwesen sind Gaben Gottes. Für einen guten Staat und eine gerechte Gesellschaft können wir deshalb auch zu Gott beten. Und weil wir nicht in einem Obrigkeitsstaat, sondern in einer Demokratie leben, können wir an der Gestaltung unseres Gemeinwesens auch mitwirken und Verantwortung übernehmen – als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und zugleich als Christinnen und Christen. – Amen.

Prof. Dr. Christoph Dinkel
Pfarrer
Gänsheidestraße 29
D-70184 Stuttgart
E-Mail: christoph.dinkel@arcor.de
oder: dinkel@email.uni-kiel.de
Internet: http://www.uni-kiel.de/fak/theol/personen/dinkel.shtml


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