Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Reformationsfest, 31. Oktober 2005
Predigt über Matthäus 10,26-39, verfasst von Wolfgang Vögele
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Der aufmerksame Blick auf Pinguine und Spatzen

Der Predigttext für den Reformationstag steht bei Matthäus 10,26-39:
„Darum fürchtet euch nicht vor ihnen. Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird. Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern. Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle. Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge. Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater. Ihr sollt nicht meinen, daß ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden.

I.

Liebe Gemeinde,

in diesem Film ist neunzig Minuten lang kein Mensch zu sehen. Über verödete Eisflächen pfeift eiskalter beißender Wind. Packeis verdichtet sich zu bizarren Landschaften, die sich vor Felsengebirgen auftürmen. Im grellen Mittagssonnenschein ist hinter den Eisschollen das dunkelblaue Meer zu sehen. Aus den wenigen verbliebenen Wasserlöchern im Eis schießen Pinguine hervor und gleiten auf dem Eis bäuchlings bis zum Stillstand. Dann richten sie sich auf und blicken sich, mit den schwarzen Stummelflügeln heftig wedelnd, nach den anderen Tieren der Gruppe um. Wenn alle aus dem Wasserloch aufgetaucht sind, brechen sie tippelnd, watschelnd und auf dem Bauch gleitend die lange Strecke zu ihren geschützten Brutplätzen auf.

In seinem Film „Die Reise der Pinguine“ (*) erzählt der französische Regisseur Luc Jacquet von der mühsamen und anrührenden Lebensreise der Kaiserpinguine in der Antarktis. Ihm gelingt mit diesem Film ein hymnischer Psalm auf die Schönheit und Anmut dieser eleganten Tiere, die unter schwierigsten klimatischen Bedingungen in jedem Jahr zu ihren angestammten Brutplätzen zurückkehren, um sich dort zu paaren und die Jungen großzuziehen.

Männchen und Weibchen, beide mit den leuchtenden orangenen Flecken an der Schläfe, wechseln sich beim Brüten und Nahrung Beschaffen ab; sie nehmen für die empfindliche Brut eisige Kälte, wiederholte Schneestürme und dauernde Winterdunkelheit in Kauf. Mehrfach legen die Elternpinguine die weite Strecke zwischen den abgelegenen Brutplätzen und den verbliebenen, vom Wintereis freien Wasserlöchern zurück, in ihrem tapsenden langsamen Schritt, der beim Betrachter gleichermaßen den Eindruck von Unbeholfenheit und von majestätischer Würde hervorruft.

Das Ei des jungen Pinguins wird in einer Hautfalte unter dem Bauch aufbewahrt, damit es nicht im kalten Sturmwind erfriert. Die jungen Pinguine wachsen fünf Monate lang bei ihren Eltern auf. Dann verlieren sie ihr graues Jungtiergefieder, und sie ziehen zur nächsten Wasserstelle, um Schwimmen und Fische fangen zu lernen. Mit diesem ersten Sprung ins Meer, mit dem Übergang ins Unbekannte endet der Film. Am Ende des filmischen Schöpfungspsalms steht der Aufbruch in die kalte und dunkle Meereswelt, in ein Pinguinleben voller Gefahren.

Kein simpler, beobachtender Tierfilm ist das, sondern eher ein Lob der Schöpfung. Neben die Beobachtung treten Staunen und Bewunderung: Ein anrührendes Lob, aber keine Lobhudelei, welche die ständig lauernden Gefahren und Grausamkeiten des Pinguinlebens ausblenden würde. Und der schöpfungslobende Filmpsalm greift noch weiter heraus, in seiner Anmut und Ehrlichkeit wird er zum Gleichnis auf das Leben selbst, von der Geburt bis zum Tod, von den Gefahren bis zu den Schönheiten, vom Zufall bis zum Schicksal, von Leben schaffen und Leben zerstören. Es ist eine Geschichte, die das Erwachsenwerden von schützender Elternliebe bis zu mutiger, unerschrockener Selbständigkeit nachzeichnet.

II.

Kann man im Flug eines Vögelchens den Willen Gottes entdecken?

Jesus von Nazareth hat in seinem Leben bestimmt nie einen Pinguin gesehen. Aber er nimmt die Natur wahr, die wunderschönen Lilien, die unscheinbaren Senfkörner, Getreide, Fische, Vögel. Er ist ein guter Beobachter, und er kann aus genauen Beobachtungen sprechende Gleichnisse machen. Häufiger spricht er von Vögeln, in unserem Predigttext von Sperlingen, von den kleineren unter den Vögeln, die so häufig übersehen werden.

Sperlinge kennen – wie im übrigen die Pinguine - oft keine große Scheu vor den Menschen: Sie picken die Brotkrumen auf unter den Bänken im Biergarten und streiten sich mit den größeren Tauben um die übrig gebliebenen Essensreste. Zu Zeiten Jesu konnte man Sperlinge billig kaufen. Niemand schenkte ihnen großen Wert, jedenfalls nicht über zwei Groschen hinaus. Und nimmt der Vogelflugbeobachter aus Nazareth die unscheinbaren Sperlinge wahr: „Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater.“

Die kleinen, auf dem Boden nach Krumen pickenden Vögel lenken den Blick auf den Gott, den Jesus als Vater anspricht: vom winzigen Spatzenleben hinauf in die überwältigende Ewigkeit Gottes. Hinter und über den Sperlingen wird ein schützender, bewahrender, segnender Gott sichtbar: Der Schöpfer und Vater sorgt sich um seine Schöpfung.

Das kurze Spatzenleben zwischen Nestbau, Krumenpicken und Eierbrüten steht in einer unmittelbaren Beziehung zum Willen Gottes. Nichts, nicht einmal ein kleiner tschilpender Spatz, ist so unbedeutend, daß er nicht aufgehoben ist in dem, was Gott mit der Welt, mit den Menschen und mit dem Leben vorhat. Das gesamte Spatzenleben – und sei es durch Nest- und Nahrungsräuber, durch Hunger, Käfighaltung oder Krankheiten wie die Vogelgrippe bestimmt – es bleibt aufgehoben in der Liebe Gottes des Schöpfers. Jesus sagt: „Dennoch fällt [kein Sperling] auf die Erde ohne euren Vater.“

Die Theologen haben dieses Wort Jesu in eine sehr viel abstraktere Sprache übersetzt: Sie haben gesagt, Gott sei die alles bestimmende Wirklichkeit. Alles, was geschieht, von der Kleinigkeit bis zur Katastrophe, ist zurückgebunden an Gottes Willen. Aber dieser Gott des allmächtigen Willens hat seine dunklen, den Menschen abgewandten Seiten. Denn wo ist der Wille Gottes, wenn bei großen Naturkatastrophen wie Hurricans und Tsunamis Tausende und Zehntausende von Menschen ums Leben kommen? Wo ist der Wille Gottes, wenn bei der gegenwärtigen Vogelgrippen-Epidemie Zehntausende von Vögeln sterben? Wenn Gott die gesamte Wirklichkeit bestimmt, wieso erkennen wir dann nicht immer seine Liebe? Der Widerspruch zwischen Gottes Allmacht und Gottes Liebe läßt sich nicht auflösen, ohne daß ein quälender Rest von Fragen bleibt.

Wir Menschen sind in dieser Welt noch nicht in der Lage, die Wirklichkeit widerspruchsfrei in der Perspektive der Liebe Gottes zu sehen. Vielmehr ist die Wirklichkeit eine gelegentlich froh stimmende, aber auch oft bedrückende Mischung: aus tragischem Scheitern und großem Erfolg, aus beeindruckender Schönheit und abstoßender Häßlichkeit, aus quälender Krankheit und kaum wahrgenommener Gesundheit, aus guten und bösen Zeiten. Für die Tiere – wir haben es an den Kaiserpinguinen gesehen – ist das nicht anders als für die Menschen, obwohl die Tiere nicht darüber nachdenken können. Neben dieser ambivalenten Wirklichkeit gilt aber auch das zweite: In dieser doppeldeutigen Wirklichkeit ergreift Gott Partei, für das Leben und gegen den Tod, für die Liebe und gegen die Grausamkeit, für die Schwachheit und gegen die Macht. Der barmherzige Gott steht fest zu seinen Zusagen.

Und darum sagt Jesus, der zugleich ein Vogel- wie ein Menschenbeobachter war: „[F]ürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge.“

III.

Der Filmregisseur entdeckt in den majestätischen Kaiserpinguinen die Schönheit und die Abgründe des Lebens. Jesus entdeckt in den Spatzen den Willen Gottes. Pinguine und Spatzen werden zum Gleichnis. Sie sind mit ihrer Vogelliebe nicht allein: Franz von Assisi hat den Vögeln so viel Aufmerksamkeit geschenkt, daß er zu ihnen predigte.

Gleichnisse verbinden Beobachtung, Wissen und Bilder zu einer überraschenden neuen Erkenntnis. Diese Erkenntnis ist nicht neutral, sondern mit einem Gefühl verbunden, in diesem Fall mit einer starken Ermunterung. Jesu Hoffnung richtet sich auf einen Aufbruch, auf einen Neuanfang.

Jesus spricht zu Jüngern, die sich allein oder in kleinen Gruppen aufmachen, das Evangelium zu verkünden. Die ganze Bibel besteht nur aus Geschichten, in denen Menschen aufbrechen. Abraham macht sich in hohem Alter auf. Mose führt das Volk Israel aus Ägypten heraus. Jesaja, Jeremia und Jona machen sich auf, um Propheten zu werden, Jona mit einem kleinen Umweg. Die Jünger verlassen ihre Arbeitsplätze als Fischer und folgen Jesus.

Das ist eine biblische Weisheit: Menschliches Leben besteht aus einer Serie von Aufbrüchen. Was wir als Predigttext gehört haben, ist eine ermunternde, Mut machende Aufbruchsrede, selbst wenn sie sich mit einer abschreckenden Drohkulisse verbindet, zu der ich gleich noch komme.

Wer aufbricht, der läßt etwas hinter sich – wie die jungen Pinguine übrigens, die bei ihrem ersten Marsch zum Meer auch ihre Eltern verlassen und sie nicht mehr wieder sehen. Ein Stück Gegenwart – der Schutz der Eltern, die Versorgung durch sie - ist damit abgeschlossen und kehrt nicht mehr wieder.

Im Aufbruch sinkt ein Stück verbrauchter Gegenwart in die erinnerte Vergangenheit. Und umgekehrt: Im Aufbruch dringt ein Stück unberechenbare Zukunft in die erlebte Gegenwart ein. Das hat nun freilich die Angst machende Schwierigkeit, daß der Aufbrechende nicht weiß, was für eine Zukunft das ist, die ihn erwartet. Und diese Ungewissheit macht ihn furchtsam und ängstlich. Nun gibt es verschiedene Arten, mit dieser Ungewissheit umgehen. Man kann sie überspielen und statt Furcht im tiefen Innern einfach frohe Hoffnung zur Schau stellen: Das wird so schlimm schon nicht werden. Oder man kann die eigenen Ängste zulassen, aber ohne Hoffnung wird jeder Aufbruch zum Fehlstart.

Aufbrüche brauchen Hoffnung, eine realistische Einschätzung dessen, was kommen mag und Nüchternheit. Viermal wiederholt Jesus, der den Jüngern Mut machen will, in seiner Aufbruchsrede die Worte: Fürchtet euch nicht!

Viermal wird es wiederholt, damit es auch ja keiner vergißt oder überhört: Fürchtet euch nicht!

IV.

Der hoffnungsvolle und Furcht vertreibende Aufbruch, den Jesus seinen Jüngern zusagt, nimmt sich in Teilen wie eine Angst machende Drohkulisse aus: Das Schwert wird herrschen. Familien werden sich entzweien. Das Kreuz kommt. Der Verlust des Lebens droht. Und man fragt sich: Hat Jesus das zu Märtyrern gesagt?

Der christliche Glaube zeichnet sich durch zweierlei aus.

Zum einen sagt er: Durch die Wirklichkeit – und durch den Menschen hindurch – geht ein tiefer, unüberbrückbarer Riß. Das Leben ist gekennzeichnet durch eine Mischung aus Gut und Böse, Wahr und Falsch, Schlecht und Richtig. Diese Mischung läßt sich nicht auflösen. Es kann so schlimm werden, daß ein Menschen heftige Familienstreitigkeiten, Chaos und Katastrophen, ungerechte Behandlung, Krankheit und Tod erlebt.

Aber das zweite ist genau so wichtig: Gott steht über dieser Wirklichkeit und er bestimmt sie auf eine Weise durch seinen Willen, die uns dunkel und geheimnisvoll bleibt und uns deshalb häufig ungerecht erscheint. Die Spannung zwischen einer Wirklichkeit, die ein tiefer Riß kennzeichnet, und dem eindeutigen barmherzigen, liebenden Willen Gottes läßt sich nicht auflösen. Aber diese zweite Seite der Spannung, die Liebe und Barmherzigkeit Gottes darf uns nicht aus dem Blick geraten: Nichts kann so schlimm und böse sein, daß es uns von dem Gott trennt, den Jesus seinen Vater nennt.

Darum sagt Jesus von Nazareth, der Vogelbeobachter und Gleichniserzähler: Fürchtet euch nicht. Gottes eindeutige Liebe ist stärker als die zweideutige Wirklichkeit. Jesus, der Mutmacher: Als erster hat er das selbst erfahren: In seiner Kreuzigung erlebte er die Gnadenlosigkeit und Bosheit der Welt, und in seiner Auferstehung zeigte sich die Liebe Gottes, die selbst den Tod überwindet.

Amen.

(*) Siehe auch unter www.diereisederpinguine.de

PD Dr. Wolfgang Vögele
Berlin
Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de


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