Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Reformationsfest, 31. Oktober 2005
Predigt über Matthäus 10,26b-33, verfasst von Christoph Ernst
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Predigttext Mt 10, 26b-33
Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird. Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern.
Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle.
Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge.
Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.

I.

Liebe Gemeinde, vor vierzig Jahren, fast auf den Tag genau, fand der erste Gottesdienst unserer Martin-Luther-Gemeinde hier in Ottawa statt. Zumindest symbolisch war das der Gründungsgottesdienst, auch wenn sich vorher schon Christenmenschen zum deutschen evangelischen Gottesdienst hier in der Stadt versammelt hatten. Einige von Ihnen werden sich dieses Tages, dieses 31. Oktobers 1965, noch sehr genau erinnern. Uns anderen erzählt davon die Gemeindechronik, in die viele dieser persönlichen Erinnerungen der Gründergeneration eingeflossen sind.

In der Festschrift zum 10. Gemeindejubiläum von 1975 lesen wir: „Zum Eröffnungsgottesdienst am 31. Oktober 1965 tritt die Martin-Luther-Gemeinde dann an das Licht der breiten Öffentlichkeit – es werden Einladungskarten verschickt. 108 Personen folgen der Einladung des ersten Kirchenrats.“

Der deutsche Gottesdienst am Reformationstag 1965 begann früh morgens um viertel vor neun im YMCA in der Metcalfe St. – ja, so war das damals, und es wäre außer der schönen Erinnerung kaum der Rede wert, wenn wir nicht ein wenig genauer danach fragten, was sich denn hinter all diesem Bemühen um eine eigenständige deutsche Gemeinde hier in der kanadischen Hauptstadt wirklich verbarg. Oder wenn wir nicht darüber nachdächten, warum die Gemeindegründung dann ausgerechnet für den Reformationstag angesetzt wurde.

II.

Nun ist es mehr oder weniger zufällig, aber doch auch sehr passend, dass uns ausgerechnet dieser Predigttext aus dem Matthäusevangelium für den heutigen Tag vorgeschlagen ist. Es ist ein Text, der aus der so genannten „Aussendungsrede“ stammt, in der Jesus seine Jünger vorbereitet auf das, was ihnen in ihrer neuen Funktion alles begegnen und widerfahren kann.

Wenn man einmal das ganze 10. Kapitel des Matthäusevangeliums liest, dann wird schnell klar, dass das Jüngerdasein mit eitel Sonnenschein und festlichem Repräsentieren nur sehr wenig zu tun hat. Im Gegenteil: ausgesandt werden die Jünger „wie Schafe unter die Wölfe“, ohne Schutz, ohne zweites Hemd, ohne Schuhe. Familien werden sich wegen des Glaubens an diesen Jesus Christus trennen und einander Feind sein. – All das klingt nicht gerade verlockend, und man möchte die Bibel schnell wieder zuschlagen, um sich den schönen Seiten des Lebens zuzuwenden…

Doch dann: mittendrin finden wir den Predigttext für den heutigen Reformationstag – ein Text, der an Bekennermut appelliert und das öffentliche Herausrufen des Evangeliums fordert: „…und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern!“ Ein Text für die „Macher“ vor allem, für Führungskräfte und Aktivisten.

Ein Text, der dann aber auch die Ängste nicht verschweigt, die entstehen können, wenn wir unser christliches Bekenntnis wirklich mal so an die große Glocke hängen. Ein Text, der sich dieser Ängste bewusst ist und darum gleich mehrfach tröstend zuruft: Bei all dem, was kommen wird – „Fürchtet euch nicht!“

Ein Text aber auch, der sehr irdisch und mit alltäglicher Rede gewürzt Gottes Zuwendung zu uns Menschen betont: „Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt.“ (man sollte diesen Satz nicht allzu wörtlich nehmen, er könnte hier oder da Glaubenszweifel auslösen…).

Ein Text also, der über die Spannung zwischen „Menschenfurcht und Gottesfurcht“ spricht, über den Trost, den wir gern hören und zugleich über den Auftrag, der uns im selben Atemzug mit gegeben wird. Ein Text, der darum auch mit dem Leben einer jeden christlichen Gemeinschaft, auch unserer Gemeinde hier in Ottawa, viel zu tun hat.

III.

Liebe Gemeinde, wie wir alle wissen, trennten sich vor 40 Jahren die Wege unserer Gemeindegründer von denen der St. John’s Lutheran Church. Dort hatte man zuvor zusammen und in einer Gemeinde das Evangelium öffentlich bezeugt. Die Verkündigung “von den Dächern“ passiert seitdem an verschiedenen Orten. Aber sie passiert, und darauf kommt es wohl an.

Gründe für die Trennung damals gab es mehrere. Aus deutscher Sicht war vor allem die Frage der Sprache zu einem schwierigen, offenbar unüberwindlichen Problem geworden. Und was hängt nicht alles an der einen oder der anderen Sprache und damit der einen oder anderen Tradition; welche kulturellen Wurzeln wären nicht längst verkümmert, wenn unsere Gemeindeväter und Gemeindemütter sich damals vorschnell und dauerhaft dem kanadischen Luthertum eingegliedert und diesen Auszug nicht gewagt hätten.

Wenn wir nun heute, nach 40 Jahren, also zwei Generationen später, wieder größeren Wert auf die Beziehungen zu unseren lutherischen Schwestergemeinden hier in Ottawa legen, dann zeigen wir damit, dass die Zeit für uns nicht stehen geblieben ist. Dass alte Wunden, die seinerzeit zur Trennung führten, verheilt sind. Dass wir heute miteinander unsere Gemeinsamkeiten pflegen wollen. Dass wir uns als Schwestern und Brüder fröhlich anerkennen.

Ich persönlich freue mich ganz besonders, dass wir auf Initiative unserer Gemeinde hin nach vierzig Jahren erstmalig mit zwei anderen Gemeinden zusammen unseren Konfirmandenunterricht durchführen – und eine dieser anderen Gemeinden ist eben die St. John’s Lutheran Church, aus der wir damals hervorgegangen sind.

Liebe Gemeinde, das ist praktizierte Ökumene und Kirchengemeinschaft. Da geht es nicht mehr so sehr darum, dass wir alle wieder eins werden – wie es sich bei uns hier in Ottawa viele der deutschsprachigen evangelischen und katholischen Christen wünschen. Nein, sondern wichtiger als die Gemeinschaft in nur einer einzigen großen Kirche ist, dass wir uns gegenseitig achten, dass wir unsere Unterschiede nicht mehr als so trennend und unüberwindlich ansehen, dass wir uns aus dem Wege gehen müssten. Dass wir einander, so wie wir sind, akzeptieren und unsere Unterschiede am Ende vielleicht sogar als gegenseitige Bereicherung begreifen können. So sehe ich auch den Platz unserer deutschen evangelischen Gemeinde in dieser Stadt. Wir sind heute fest etabliert unter den englischen lutherischen Gemeinden, wir sind ihnen in unserer Synode eng verbunden – und pflegen dabei doch auch selbstbewusst unsere eigenen deutschen Traditionen. Wie schön, dass das möglich ist!

Denn es wäre doch – umgekehrt – so: je mehr wir uns einander annähern wollten, um irgendwann wieder eins zu werden, desto mehr müssten wir von unseren liebgewordenen Gepflogenheiten aufgeben, und desto verschwommener würde dann am Ende das Bekenntnis, das auch wir in die Öffentlichkeit tragen, also durch unsere Präsenz als deutschsprachige Gemeinde hier „von den Dächern“ rufen.

Gerade am Reformationstag empfinde ich es als wichtig, dass wir uns unserer eigenen Herkunft, unserer eigenen Glaubenstraditionen besinnen. Und wer sich mit dem nordamerikanischen lutherischen Gottesdienst ein wenig auskennt weiß, dass manches hier ganz und gar andere Wurzeln hat als bei uns. Aber sollten wir die Verbundenheit in einer Kirche darum gering schätzen? Gewiss nicht. Im Gegenteil.

IV.

Liebe Gemeinde, wenn man unter evangelischen Christen einmal nachfragt, was für sie denn das wichtigste Ereignis in der Kirchengeschichte der letzten tausend Jahre ist, dann hört man vermutlich sehr schnell: natürlich die Reformation!

Fragt man weiter, was Reformation für uns Evangelische heute eigentlich noch bedeutet, dann wird es schwieriger. Aber auch da werden wir uns einigen können. Etwa darauf: Reformation ist der Veränderungsprozess, der die Kirche bei ihren innersten Grundlagen, der sie bei der Bibel als Gottes Wort hält und sie immer wieder darauf verpflichtet. Reformation ist zugleich aber auch die treibende Kraft, die die Kirche ermahnt, sich der fortschreitenden Zeit nicht zu verschließen. Reformation heißt, die Vielfalt der biblischen Botschaften, insbesondere Gottes Liebe für diese Welt und jede einzelne Menschenseele, stets aktuell und unverfälscht unter die Menschen zu tragen. Kurzum: Reformation ist ein auch heute fortschreitender Prozess der Suche nach dem rechten und zeitgemäßen Weg der Kirche.

Wenn wir bis hierher noch zustimmen können, dann verwickeln wir uns aber spätestens jetzt doch noch in Widersprüche, denn: wer von uns will schon wirklich und aus innerster Überzeugung dieses andauernde Fragen, diesen ständigen Druck zur Veränderung, diesen Erneuerungszwang, dieses ständige Hinterfragen dessen, was sich in unseren Augen doch als gut bewährt hat? Wer will diese immer wiederkehrende reformatorische Verunsicherung? Wieviel „Reformation“ können wir selbst überhaupt ertragen, wie viel uns leisten? Kommt man nicht vielmehr irgendwann doch zu seinem Frieden mit sich selbst und will eigentlich alles andere, als dass sich noch etwas verändert? Wollen wir nicht lieber so bleiben, wie wir sind? Also weiter sagen: reformatorische Kirche – ja, natürlich!, Veränderung bei uns – um Himmels willen?

V.

Liebe Gemeinde, leicht haben wir es also nicht mit der Reformation. Und wir sollten uns davor hüten, unsere reformatorischen Glaubenseinsichten als eine leichte Sache, als einfache Lösung für die großen Fragezeichen unseres Lebens anzusehen. Mehr noch, und das sagt der heutige Predigttext überaus deutlich: wir sind als Nachfolger Jesu in die Welt gesandt, das ist ein schwieriger und anspruchsvoller Auftrag. Wir sollen das, was wir als Gottes Zuwendung zu uns erfahren haben und doch täglich neu erfahren, nicht nur unter uns erzählen, es auch anderen nicht nur heimlich weitersagen, sondern wir sollen es öffentlich verkündigen. Nicht nur hier von der Kanzel, sondern vor allem draußen vor der Tür.

Wie das konkret geschehen kann, wie unsere Gemeinde ihren Öffentlichkeitsauftrag wahrnehmen kann, darum ist in der vierzigjährigen Gemeindegeschichte viel diskutiert worden. Insofern sind wir wirklich eine "reformatorische Kirche", eine "Kirche in Bewegung", in der nicht einfach alles so bleiben muss, wie es immer schon war. Wir haben uns geändert, unser diakonisches Bewusstsein wächst, wir wollen mehr denn je „Kirche für andere“ sein. Und wir merken, dass uns das auch selbst gut tut, dass wir neue Kontakte knüpfen, dass mehr Menschen auf uns aufmerksam werden und sich für uns interessieren.

VI.

Heute zu unserem 40. Jubiläum möchte ich noch ein paar Geburtstagswünsche für unsere Gemeinde aussprechen:

Ich wünsche uns vor allem anderen, dass wir unser Jubiläum mit großer Dankbarkeit feiern: für Gottes Geleit und Segen in den vergangenen Jahrzehnten. Dankbar dürfen wir auch dafür sein, dass sich immer wieder Frauen und Männer berufen gefühlt haben, für unsere Gemeinde verantwortlich einzustehen und für ihr Wohl zu sorgen. Dankbar dürfen wir auch sein für all die treuen und fleißigen Hände im Hintergrund, die so selten wahrgenommen werden. Für all die treuen Gebete, die diese Gemeinde durch die Jahrzehnte begleitet haben.

Ich wünsche uns heute, dass wir auch in den kommenden Jahrzehnten weiter nach vorn blicken und den Mut haben, neue, zeitgemäße Wege für unsere Gemeinde zu suchen und auch zu beschreiten. Dass wir „reformiert“ bleiben. So wie damals unsere Gemeindegründer, als sie sich entschlossen, hier in Ottawa eine deutsche evangelische Gemeinde ins Leben zu rufen, weil es eben dran war, weil es das Zeitgemäße war.

Und schließlich wünsche ich uns heute sehr, dass wir immer wieder die starke und tröstende Kraft verspüren, die uns auf unserem Weg in die Zukunft begleiten wird und die uns in Jesu Wort „Fürchtet euch nicht!“ heute und allezeit begegnet.

Darum: Fürchtet euch nicht!

Amen

Lied nach der Predigt: EG 136, 1-4, O komm du Geist der Wahrheit

Christoph Ernst, Pfr.
826 Colson Ave
Ottawa ON
K1G 1R7
Canada
phone: 001 - 613 - 521 5402
fax: 001 - 613 - 521 4540
e-mail: pfarrer.ernst@sympatico.ca


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