Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres
(in Dänemark: Allerheiligen, Totengedenktag), 6. November 2005
Predigt über Matthäus 5, 1-12, verfasst von Elof Westergaard (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Text der dänischen Perikopenordnung)

Wenn ich hinter meiner Fensterscheibe sitze,/ Verschleiert vom Schnee und undeutlich / Sehe ich meine Geliebte dort draußen / Sie geht vorbei... vorbei... vorbei...

Über mich hat die Trauer ihren Schleier gelegt / Ein Wesen weniger hier in der Welt, /
Aber der Himmel hat einen Engel mehr als zuvor.

Wenn ich hinter meiner Fensterscheibe sitze, / Verschleiert vom Schnee und undeutlich, / Glaube ich meine Geliebte dort draußen zu sehen, / aber sie geht nicht... nicht mehr vorbei...

Dieser Text ist die Prosawiedergabe eines Gedichtes des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa. Er hat es im Mai 1902 geschrieben, er war 13 Jahre alt, als er es schrieb. Pessoa hatte damals bereits seinen Vater verloren, der an Tuberkulose gestorben war. Und einen kleinen Bruder hatte er ebenfalls verloren.
Es ist ein Gedicht der Sehnsucht und der Trauer.
Das „Ich“ des Gedichtes sitzt hinter dem Fenster, und draußen schneit es. Es ist kalt. Die Schleier des gefallenen Schnees und der Trauer gleiten ineinander. Und in diesem weißen Schleier glaubt der Dichter seine Geliebte, den geliebten Menschen, den er verloren hat, vorbeigehen zu sehen. Er weiß indessen schon sehr wohl, was das Schlusswort des Gedichts sagt: „Aber sie geht nicht... nicht mehr vorbei...“
Pessoa schrieb das Gedicht im Mai, als die Bäume blühten, aber das Gedicht spricht vom Winter.
Denn wenn wir vom Tod und von dem, was wir verloren haben, sprechen, dann wird es schnell dunkel und kalt und oft schwarz oder weiß wie Eis.
Dunkel, weil die Erde dunkel ist und weil der Tod uns in seinen Schatten versetzt.
Kalt, weil der Tod Abstand schafft, weil der Tod uns trifft und uns Schaden zufügt und Bruch bedeutet.
Weiß oder schwarz, weil der Schnee und die Erde, weil sie beide zudecken. Der Tod macht Alltag und Gegenwart zu Vergangenheit und Erinnerung.

Schwarz oder weiß ist der Tod. Schwarz und weiß sind also nicht bloß Gegensätze. Sie ähneln einander weitaus mehr.
Der Tod reißt das Gras auf, und deckt das, was lebte, mit Erde zu. Er gleicht der Nacht, wenn sie das Meer und den Horizont verschluckt. Ja, er ist wie der Schnee, der das Erröten der Erde verbirgt und seinen Schleier über die Welt legt.

Wenn ich hinter meiner Fensterscheibe sitze, / Verschleiert vom Schnee und undeutlich / glaube ich meine Geliebte dort draußen zu sehen, / Aber sie geht nicht... nicht mehr vorbei...

Der Schleier des Schnees ist hier der Ausdruck für die Trauer und die Sehnsucht. Und Trauer und Sehnsucht legen ja einen Schleier über unsere Augen und unser Gemüt. Man glaubt vielleicht einen Augenblick wie der Dichter zu sehen, – dass das Ganze nur ein böser Traum ist – dass sie oder er trotzdem da ist – aber das Herz weiß sehr wohl, dass es nicht so ist, nicht mehr... Ein Licht ist erloschen, und es sind Grenzen dafür gesetzt, was unsere Augen jetzt zu sehen bekommen und unsere Hände berühren dürfen.

In der Einleitung zur Bergpredigt sitzt Jesus also dort auf dem Berg, mitten in einer Schar von Menschen, darunter die Jünger. Und er will zu ihnen über die Gebote, über Liebe und Gericht sprechen.
Er wird von den Geboten ausgehen, die sie kennen, und er will ihren Inhalt verschärfen:
„Ihr sollt nicht nur eure Freunde lieben, sondern auch eure Feinde.
Ihr sollt die andere Backe darbieten.
Ihr übertretet schon das Gebot, dass ihr nicht töten sollt, wenn ihr einander zürnt.
Richtet nicht!
Nimm den Balken aus deinem eigenen Auge, ehe du den Splitter im Auge anderer siehst!”
Und Jesus hat noch viel mehr, was er sagen will.
Aber als Einleitung kommen diese Seligpreisungen, die wir eben gehört haben.
Selig sind…
Hier spricht Jesus zu jedem gebrechlichen Menschen; zu dem Armen, dem Sanftmütigen, dem Hungernden, dem Barmherzigen, zu dem, der reinen Herzens ist, zu dem Friedfertigen, zu dem, der verfolgt wird, und dann sind da auch Worte für den, der trauert.
Jesus sagt:
„Selig sind die, die trauern, denn sie sollen getröstet werden.“

Was Jesus mit diesen Worten sagen will, ist nicht, dass die Trauer an sich selig macht. Sie macht niemanden glücklich. Wir würden uns, wenn wir die Wahl hätten, lieber aus ihrem Griff befreien.
Wohl gibt es die Freude der Erinnerung, die Dankbarkeit für Erinnerungen und Gedenken an das gemeinsame Leben. Die gibt es.
Und es gibt allen guten Grund, sie zu bewahren.
Aber wenn Jesus sagt: „Selig sind die, die Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden“, dann will er sagen: Wir kommen in unserem Leben nicht um Leiden, Tod und Schmerz herum, es gibt sie, aber das gilt auch vom Trost und von der Hoffnung. Und zwar hier an Ort und Stelle, und in aller Zukunft. Es gibt sie in Gott. Seine Ewigkeit reicht in unsere Gebrechlichkeit hinein.

Oft hören wir anlässlich einer Beerdigung hier in der Kirche einige Verse des Propheten Jesaja. Seine Verse lauten in ihrer poetischen Kraft:

„Die Sonne soll nicht mehr dein Licht sein am Tage,
und der Glanz des Mondes soll dir nicht mehr leuchten,
sondern der Herr wird dein ewiges Licht
und dein Gott wird dein Glanz sein.
Deine Sonne wird nicht mehr untergehen
und dein Mond nicht den Schein verlieren;
denn der Herr wird dein ewiges Licht sein,
und die Tage deines Leidens sollen ein Ende haben.“ (Jes. 60,19-20)

Der Prophet Jesaja spricht hier vom Licht gegenüber der Finsternis, worin wir in unserem Leben unvermeidlich gestellt werden. Licht gegenüber der Einöde und Leere, in die der Tod unseren Sinn stößt.
Unser Lebenslicht brennt nur eine Zeitlang, das Licht von Sonne und Mond teilen wir nur eine Zeitlang, aber dann sind wir durch die Gnade Gottes in ein Licht gestellt. Das Licht, mit dem Gott uns begegnet. Das Licht, das in Jesus ist, und die Hoffnung, die in ihm, in seinen Taten und seinem Tod, in seinen Worten und seiner Auferstehung gegeben wird.

An diesem Licht erhalten wir schon durch die Taufe Anteil: Ihr gehört mir an, sagt Gott zu uns am Taufbecken. Und er erteilt auch schon hier seinen Segen über unser Leben. Den Segen, der uns auch beim Abendmahl begegnet, und der uns jedesmal begegnet, wenn wir uns in der Kirche versammeln.
Dieses Licht, das Gott über uns leuchten lässt, bewirkt, dass wir die Zeile in der Mitte von Pessoas Gedicht voller Vertrauen hören:

Wenn ich hinter meiner Fensterscheibe sitze,/ Verschleiert vom Schnee und undeutlich / Sehe ich meine Geliebte dort draußen / Sie geht vorbei... vorbei... vorbei...

Über mich hat die Trauer ihren Schleier gelegt / Ein Wesen weniger hier in der Welt, /
Aber der Himmel hat einen Engel mehr als zuvor.

„Über mich hat die Trauer ihren Schleier gelegt: / Ein Wesen weniger hier auf der Welt, / Aber der Himmel hat einen Engel mehr als zuvor.“

Diese Worte lassen ein Licht erstrahlen mitten in dem sonst von Trauer getragenen Ton des Gedichts.
Und wir sollen diese Worte im Lichte der Auferstehung Jesu und der Hoffnung auf ein ewiges Leben bei Gott hören.
Wir wissen nicht, wie? wann? Und wir bekommen keine Beweise.
Der Tod bedeutet ein Wesen weniger hier auf der Erde, aber in Gott haben der Tod und die Finsternis, die Nichtigkeit und das Vergessen, der gebeugte Nacken und der flackernde Blick keine Macht. Der Tod ist nicht nur ein ewiges Fallen. In Jesus werden wir erhöht.

Gott! In deiner Gnade und Liebe. Gib uns, dass der Schleier der Finsternis und des Schnees vor dem klaren und ewigen Licht deiner Sonne weichen möge, so dass die Sehnsucht gelindert wird und das Leben grünt.
Der Friede Gottes sei mit den Toten! Der Friede Gottes sei mit uns allen! In Jesu Namen. Amen.

Pfarrer Elof Westergaard
Mariehøjvej 17
DK-8600 Silkeborg
Tel. +45 86 80 19 27
E-mail: eve@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


(zurück zum Seitenanfang)