Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 6. November 2005
Predigt über Lukas 11, 14-23, verfasst von Franz-Heinrich Beyer
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

von einer Heilung durch Jesus ist in diesem Text aus dem Lukasevangelium die Rede. Von einer heilsamen Veränderung. Ein Mensch hat sie an sich selbst erfahren. Er, der vorher stumm war, der unfähig war zu sprechen, der redet jetzt.

Aber im weiteren Text geht es gar nicht mehr um diesen Menschen. Vielmehr ist diese Heilung Anlass zu einer Auseinandersetzung darüber, was Jesus tut, wie er es tut – ja schließlich darum - wer Jesus ist.

Es fällt nicht leicht, diesem Gespräch zu folgen. Zu fern scheint das dort Verhandelte von unserer Alttagserfahrung. Es ist vor allem die zur sprichwörtlichen Redewendung gewordene Passage „Den Teufel durch Beelzebub austreiben“, die aus diesem Textabschnitt in unseren Wissensschatz Eingang gefunden hat.

Aber verweilen wir zunächst bei der geschilderten Ausgangssituation. Ein stummer Mensch vermag zu reden, denn „der böse Geist“ ist aus ihm herausgefahren, hatte ihn verlassen.

Ja, wo leben wir denn möchten wir ausrufen. Wer rechnet denn in unserer Zeit noch mit bösen Geistern und spricht es auch noch aus. Wenn jemand nicht sprechen, sich nicht artikulieren kann, dann liegt in der Regel ein medizinisches Problem vor. Vielleicht auch ein psychisches und dafür gibt es hoffentlich eine Therapie.

Jeder einzelne, so die weit verbreitete Meinung, ist zunächst für sich selbst zuständig. Er kann bestimmten Dingen zustimmen, er kann andere ablehnen und seine eigene Meinung artikulieren. Das ist es doch, woraufhin alle Erziehung in Kindergarten, Schule und vielleicht auch noch Universität zielt – den einzelnen/die einzelne zu einer selbständigen Lebenshaltung zu befähigen.

Sollte an dieser Zielsetzung etwas verkehrt sein? Nein, keinesfalls. Nur, geht diese Zielsetzung mit der Wirklichkeit, wie wir sie wahrnehmen oft nicht spannungslos zusammen.

Wir kennen selbst die Situation: Ein Vorhaben, ein selbst gestecktes Ziel lässt uns nicht zur Ruhe kommen. Wir sind wie „besessen“ von einer solchen Idee, einem solchen Ziel und dabei oft nicht mehr ansprechbar für andere.

Oder denken wir an die Menschen in unserer Nachbarschaft. Manch einer hat seinen Arbeitsplatz verloren, hat viele Anstrengungen und Initiativen unternommen – ohne das ersehnte Ergebnis, einen Arbeitsvertrag zu haben. Bestimmt von Enttäuschung, auch von Minderwertigkeitsgefühlen möchte er kaum noch angesprochen werden und bringt sich selbst schon gar nicht ins Gespräch; er ist stumm geworden.

Oder erinnern Sie sich an die vielen Bilder in den Fernsehnachrichten aus den Krisen- und Katastrophenregionen unserer Welt. Immer wieder sehen wir Menschen, die stumm geworden sind in dem Elend, das über sie gekommen ist.

Solches Stummsein von Menschen, aus welchen Ursachen und Anlässen auch immer, ist keinesfalls erst ein Phänomen unserer Zeit. Es gab es wohl zu allen Zeiten.

Lukas berichtet davon, dass ein stummer Mensch zu reden beginnt, denn Jesus hatte den „bösen Geist“ ausgetrieben; er, Jesus, vermochte den Stummen zu heilen. Sein Vermögen zu Heilen, Schicksale zu verändern – Jesus selbst führt das nicht auf besondere Qualitäten seiner Person zurück, auch nicht auf ein besonderes Geheimwissen oder ähnliches. „Wenn ich aber durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen“. So hat Jesus seinen Kontrahenten im Gespräch entgegnet. Durch Gottes Finger ist das geschehen, durch Gottes Finger, von denen es im Alten Testament, im Ps 8 heißt, die Himmel sind Gottes Finger Werk. Gottes schöpferische und ordnende Macht vermag Wunder, Heilung, plötzliche Lebenswenden zu bewirken.

Das Wahrnehmen dessen, dass es ein Stummsein gibt, auch mitten unter uns, kann uns bewusst machen, was wir haben, was wir vermögen. Reden können, mit einer Antwort rechnen und wiederum selbst antworten – für uns ist es so selbstverständlich, dass wir darüber nicht mehr nachdenken müssen. Stummsein wird in der menschlichen Erfahrung mit Einsamkeit verbunden; Reden-Können dagegen mit Austausch und Gemeinschaft.

Wer stumm ist, wer nicht zu reden vermag muss sich als Spielball der Geschehnisse sehen Ein solcher Mensch empfindet sich wehrlos ausgeliefert, wem auch immer. Wer reden kann, kann sich artikulieren, kann Fragen stellen. Ein solcher Mensch kann somit aktiv eingreifen; er sieht sich nicht mehr ohnmächtig und nur ausgeliefert.

Reden können, sich zu artikulieren vermögen – das ermöglicht es, die eigene Stimme angesichts von Unrecht und Gleichgültigkeit erheben zu können. Was uns vor Augen und Ohren kommt, es muss nicht nur einfach hingenommen werden. Es gibt Situationen, da bedarf es eines Mutes, in dieser Weise die eigene Stimme zu gebrauchen, gegen äußere Einschüchterung und gegen inneres Abgestumpftsein. Ein wichtiger Schritt dabei ist es, mit der eigenen Stimme für Menschen einzutreten, die von Not oder Gewalt betroffen sind. Darum ist die Fürbitte in unseren Gottesdiensten etwas ganz Wichtiges. Als Menschen, die reden, die sich artikulieren können, treten wir mit unserer Stimme für Menschen ein, die in Not und Bedrängnis sind, die durch die Umstände, durch Unrecht oder durch Gewalt zum Verstummen gebracht wurden oder die nie etwas anderes als Stummsein kennenlernen konnten.

Vor 16 Jahren, im Herbst 1989, haben unzählige Menschen in der damaligen DDR an sich selbst die Wende vom Stummsein zum Redenkönnen erlebt. Viele erlebten es wie ein Wunder, die Wende vom verordneten und oft auch verinnerlichten Stummsein zu einem Redenkönnen. Dieses Redenkönnen artikulierte sich in den Friedens- und Fürbittgottesdiensten zuallererst in der Fürbitte für die Verhafteten, deren Namen verlesen wurden. Das Redenkönnen artikulierte sich dann auch in dem Einstimmen in Lieder und Gebete aus der christlichen Tradition. Dann aber auch durch die Teilnahme am anschließenden Demonstrationszug, der wortlos und gerade so mit der unüberhörbaren Botschaft von Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit durch die Straßen zog. Stille, wenn sie freiwillig gewählt und nicht aufgezwungen wird, eine solche Stille vermag manchmal deutlicher zu „sprechen“ als Worte es vermögen. Die Erinnerung an diese Ereignisse bleibt Hoffnung und Ermutigung zugleich.

Noch ein letzter Aspekt des Redenkönnens im Gegensatz zum Stummsein sei angesprochen. Redenkönnen ermöglicht es, in Lob und Dank einzustimmen. Die geschichtliche Erfahrung zeigt, dass das eher selten im Bewusstsein von Menschen ist. Trotzdem: Es ist wichtig, dass wir uns Zeit nehmen, zum Innehalten, um uns erinnern zu lassen – Wir sind solche, die reden können; wir sind solche, die Grund haben zum Danken. Dann werden wir auch gewahr, dass es auch und immer noch das Stummsein gibt – in der Nähe und in der Ferne.

Was uns der Textabschnitt aus dem Lukasevangelium von Jesus in Erinnerung ruft, das bestärkt uns als hoffende Menschen. Hoffnung hat immer einen Grund und sie ermutigt dazu, Hoffnungsvolles, da wo es erkennbar ist wahrzunehmen. Solche Hoffnung weiß aber auch darum: Für viele Menschen scheint eine Wende vom Stummsein zum Redenkönnen unvorstellbar. Es steht noch etwas aus, auf das wir warten. Die Kraft unserer Hoffnung ist gefragt. AMEN.

Prof. Dr. Franz-Heinrich Beyer
Franz-Heinrich.Beyer@rub.de

 


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