Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 6. November 2005
Predigt über Lukas 11, 14-23, verfasst von Bernd Giehl
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„Und Jesus trieb einen bösen Geist aus, der war stumm.“ Schon ist er da, der Stolperstein. Wer glaubt denn heute noch an Dämonen? Gut, wir lesen gern Harry Potter, wir vertiefen uns in die magische Welt der Hexen und Zauberer und haben keine größeren Schwierigkeiten, sie uns vorzustellen, mitsamt dem Kampf zwischen den guten und den bösen Mächten, der dort ausgefochten wird, aber zugleich wissen wir auch, dass Harry Potter oder der böse Lord Voldemort, Gestalten der Einbildungskraft sind. Vermutlich würden wir jeden für verrückt erklären, der behauptete, es gäbe diese guten und bösen Zauberer auch in der Wirklichkeit.

Sollte ich mich also nur auf den zweiten Teil des Textes beziehen, auf die Frage also, wer dieser Jesus ist und aus welcher Kraft er das tut, was er tut? Das könnte ein Ausweg sein. Andererseits geht es in dem Streit zwischen Jesus und seinen Gegner aber um die Austreibung des stummen Dämons. Und insofern komme ich dann doch wieder nicht an der Frage vorbei, wie wir diese Heilung denn nun verstehen können.

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Schwierig, heute noch an Dämonen zu glauben. Wo wir doch scheinbar alles im Griff haben. Wo wir doch fast alles erklären können, vom Grippevirus bis zur Entstehung des Weltalls. Ein Dämon? Das klingt wie ein Wesen aus der tiefsten Finsternis. Aber ist die Welt nicht seit 200 Jahren hell geworden durch die Vernunft?

Doch dann läuft einer mit einer Pistole und einem Gewehr durch ein ehrwürdiges altes Gymnasium und bringt wahllos Schüler und Lehrer um. Auch die Schulsekretärin. 16 Menschen ermordet er und am Ende sich selbst. Robert S. heißt er am Anfang in den Zeitungen, später schreiben sie seinen Namen aus: Robert Steinhäuser. Ein Waffennarr. Einer, der von der Schule gewiesen wurde und der nun kein Abitur mehr machen kann. Aber bringt man deshalb wahllos Menschen um? Das Erschrecken ist groß. Es ist so groß, dass in diesem Jahr – drei Jahre nach der Tat – zum Jahrestag im Fernsehen noch einmal daran erinnert wurde.

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„Und Jesus trieb einen bösen Geist aus, der war stumm.“ Was, so frage ich mich, wäre passiert, wenn Robert Steinhäuser vor seinem Amoklauf einem wie Jesus begegnet wäre. Einem, der ihm ins Gesicht gesehen und den Zorn darin gesehen hätte. Einem, der ihn nicht einfach so hätte gehen lassen. Ob er dann immer noch zum Gewehr gegriffen hätte? Nein, ich will nicht voreilig sagen, er hätte seinen Amoklauf nicht veranstaltet. Selbst dann, wenn er einem wie Jesus begegnet wäre, könnte niemand sagen, wie es ausgegangen wäre. Dass der Dämon stumm ist, sagt sehr viel über ihn aus. Er hat eine furchtbare Gewalt über diesen Menschen, aber nur solang er stumm ist. Es darf um Himmelswillen nicht herauskommen, wie es sich anfühlt, von diesem Zorn besessen zu sein.

Aber es wird ja nicht herauskommen. Denn in diesem furchtbaren Spiel spielen alle mit. Fast immer. Alle fürchten sich vor dem Zorn, der in diesem Menschen ist. Der ja vielleicht schon einmal explodiert ist. Und so eine Explosion möchte man nicht noch einmal mit bekommen. Da duckt man sich lieber weg. Da übersieht man lieber die Anzeichen.

So einem geht man aus dem Weg.

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Wie viele, so frage ich mich manchmal, wie viele gibt es wohl, die man stumm gemacht hat. Jede Woche hört man es in den Nachrichten: Da entlässt eine Firma tausend Leute und die nächste baut zehntausend Mitarbeiter ab. Und die Politiker reden immer noch davon, dass Arbeit in Deutschland zu teuer ist, dass sie billiger werden müsse, damit die Arbeitsplätze nicht ins Ausland abwanderten. Zugleich kürzt sie denen, die keine Arbeit mehr haben die Sozialleistungen. Wenn man ihnen so zuhört, dann könnte man als einfacher Bürger das Gefühl bekommen, die Arbeitslosen seien selbst schuld an ihrem Schicksal; sie müssten einfach nur mobiler sein, längere Anfahrtswege in Kauf nehmen, einen Arbeitsplatz unterhalb ihrer Qualifikation annehmen oder was dergleichen Rezepte mehr sind. Aber dann fragt man sich, wie sich so einer fühlt, der vielleicht fünfzig oder hundert Bewerbungen geschrieben und doch nichts Neues mehr gefunden hat. Der womöglich aus seiner Wohnung ausziehen muss, weil er nun vom Arbeitslosengeld II lebt und das Arbeitsamt ihm die teurere Wohnung nicht mehr finanziert. Ob er den Mut findet, darüber zu reden? Oder ob er immer wieder die Erfahrung gemacht hat, dass Andere ihm sagten, er sei doch selbst schuld?

Rette sich wer kann, scheint momentan die Devise zu sein. Da werden Menschen, die nicht so robust sind, schnell stumm.

Nun gut. Glücklicherweise wird nicht jeder von ihnen ein Robert Steinhäuser. Gott sei Dank bleibt so einer die Ausnahme.

Manchmal finde ich es schon erstaunlich, dass sich all diese Stummen und stumm gemachten nicht doch einmal äußern. Und sei es in einem furchtbaren Knall.

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„Da sprachen einige von ihnen: „Durch Beelzebul, den Obersten der Dämonen, treibt er die bösen Geister aus.“ Da muss man doch erst einmal schlucken. Der Satz zielt unter die Gürtellinie. Nur weil du mit dem Bösen im Bunde stehst, hast du die Macht, das Böse zu bekämpfen.

Warum sagen Menschen so etwas? Weil sie abgrundtief gemein sind? Nein, das glaube ich nicht.

Eher denke ich, dass sie die Ordnung an die sie immer geglaubt haben, aufs Höchste gefährdet sehen. Bisher konnte man ganz gut mit diesem „Besessenen“ umgehen. Man sperrte ihn weg. Man sonderte ihn aus. Er gehörte nicht dazu. Jetzt auf einmal soll er wieder normal sein. Ab sofort soll man ihn behandeln wie seinesgleichen. Aber die Erinnerung an all die schlechten Erfahrungen, die man mit ihm gemacht hat. Soll man die alle vergessen?

Doch vor allem müsste man sich ja mit den eigenen Anteilen auseinandersetzen, die man an solchen Menschen hat. Nein, das ist dann doch entschieden zu viel verlangt. Lieber beschuldigt man einen Jesus, er selbst sei ein Gehilfe des Teufels. Er selbst sei vom Teufel besessen.

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Nicht wahr, das kann einem Angst machen. Da verhilft jemand einem Stummen zur Sprache und schon wird von ihm gesagt, er sei mit dem Teufel im Bunde. Leider erzählt Lukas nicht, ob es Menschen gab, die Jesus in Schutz nahmen. In unserem Text antwortet Jesus selbst, und seine Logik ist zwingend: Wenn der Teufel gegen sich selbst arbeitet, muss er verlieren. So dumm ist er aber nicht. Die Rede geht noch weiter, aber im Grunde hätten diese zwei Sätze genügt. Jesus ist schlagfertig genug, um für sich selbst zu sprechen, heißt das wohl; er braucht niemand, der für ihn eintritt.

Was aber, wenn andere angegriffen werden, die nicht so stark sind wie Jesus? Wenn Menschen angegriffen werden, die sich für das Gute einsetzen? Ob es dann Andere gibt, die ihnen beistehen? Es wäre schön, wenn es so wäre. Leider habe ich es oft genug schon anders erlebt. Da wird einer fertig gemacht – körperlich oder verbal, auf dem Schulhof oder in einer Sitzung des Kirchenvorstands – und nicht einer greift ein. Schließlich weiß man ja nicht, ob der, der da fertiggemacht wird, nicht doch „irgendwie“ Unrecht hat. Gut, „irgendwie“ empfindet man, dass das, was da gerade passiert, nicht richtig ist – womöglich ist es sogar Unrecht – aber sich einmischen? Womöglich selbst noch Prügel beziehen? Mit den „Mächtigen“ ist nicht gut Kirschen essen. Da belässt man die eigene Position lieber im Vagen und Ungefähren. Die spitze Zunge, die sosehr verletzt, die rohe Gewalt, die da ausgeübt wird; besser, man legt sich nicht damit an.

Wie oft habe ich das erlebt. Weniger als physische Gewalt als mit Worten. Es gibt die schweigende Mehrheit, und sie will mit all dem nichts zu tun haben.

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Von daher verstehe ich auch den letzten Satz unseres Textes, der mir ansonsten wie angeklatscht erscheint. „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“ Beim ersten Hören erscheint der zwiespältig, um das Mindeste zu sagen. Oder vielleicht stößt er mit seinem drängenden Ton auch einfach nur ab. Aber aus der Situation, die ich gerade geschildert habe, kann ich ihn gut verstehen: Wenn du schweigst, wo anderen Unrecht geschieht, machst du dich mitschuldig.

Wenn es mehr Menschen gäbe, die nicht wegsehen, dann würde sich etwas ändern, denke ich manchmal. Aber es gibt auch Beispiele, wo es anders ist. Jens Becker zum Beispiel, der Autor und Filmemacher. Ihn hat der Amoklauf von Robert Steinhäuser nicht ruhen lassen. Er wollte einen Film darüber drehen. Nicht einen weiteren Schocker, sondern einen, in dem er sich behutsam dem Geschehen annäherte. Er nahm Kontakt zur Direktorin des Erfurter Gutenberg Gymnasiums auf. Sie kamen überein, dass Jens Becker den Schülern „Medienunterricht“ gäbe. Als Filmemacher war er dafür ja gut geeignet. Er redete mit den Lehrern und den Schülern über Robert Steinhäuser und das, was sie mit ihm erlebt hatten. Bei den Lehrern, erzählt Jens Becker, war das Vertrauen schnell da. Bei den Schülern dagegen herrschte am Anfang Misstrauen, weil sie schlechte Erinnerungen an die Presse, vor allem die Boulevardpresse, hatten. Das Vertrauen entstand dadurch, dass Becker ihnen zeigen konnte, dass er nicht nur über sie, sondern auch mit ihnen arbeitete. Die Interviews, die er in seinen Filmen zeigte und später in seinem Buch verwendete, ließ er von den Betroffenen vorher gegenlesen und notfalls auch verändern. In dem Interview, das Becker der Jugendzeitschrift des DGB gegeben hat, erzählt er von einem der bewegendsten Momente seiner Arbeit. In einer Szene des Films legt der Hausmeister des Gymnasiums für jedes Opfer eine Rose auf den Boden und kniet dann für zwei Minuten nieder und denkt an den betreffenden Menschen. Diese Handlung habe den ganzen Nachmittag gedauert, erzählt Becker und auf der Rückfahrt nach Berlin habe er sich dabei ertappt, wie er völlig unkonzentriert und viel zu schnell gefahren sei, weil er an das gedacht habe, was er an diesem Nachmittag erlebt hatte. Später erzählt er dann noch, der Hausmeister habe auch für Robert Steinhäuser eine Rose auf den Boden gelegt. Die Szene habe er aber in dem aufgewühlten Klima des ersten Jahres nicht zeigen können. (Quelle: „soli aktuell“ 8/9 05)

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Ja, ich weiß. Das klingt wieder wie eine dieser Heldengeschichten. Und schon haben wir eine wunderbare Entschuldigung für uns selbst: So stark sind wir nicht. Solche Fähigkeiten haben wir nicht. Wir sind keine Filmemacher. Wir schreiben keine Bücher. Aber ein wenig Zivilcourage können wir schon aufbringen. Und womöglich können auch wir einmal gegen den Strom schwimmen. Wir müssen nicht mit den Wölfen heulen. Auch wir können etwas gegen die Kälte der Welt tun.

Pfr. Bernd Giehl
Kirchspiel 34
65205 Wiesbaden
E-Mail bernd.giehl@t-online.de

 


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