Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres, 13. November 2005
Predigt über Matthäus 24,15-28, verfasst von Arne Ørtved (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Text der dänischen Perikopenordnung)

Es ist nun keine leichte Anweisung, die uns Jesus hier für den Tag des Gerichts und die letzten Zeiten gegeben hat. Die Zeichen, die er hier aufzählt, dieses Greuelbild der Verwüstung, wie er sie nennt, – diese Zeichen sind immer wieder an verschiedenen Orten der Welt geschehen, diese Tatsache nützt uns also nichts. Diese Ereignisse führen wohl eher in die Irre, als dass sie uns auf den rechten Weg weisen. Es begann knapp 40 Jahre nach Jesu Tod und Auferstehung, als Jerusalem von den römischen Truppen dem Erdboden gleichgemacht wurde. Damals war die Erwartung, dass das Reich Gottes bald anbrechen werde, unter den Christen noch so lebendig, dass man diese Zerstörung Jerusalems sowohl mit Furcht als auch mit Freude begrüßte. Alles ging offensichtlich in Erfüllung.

Aber es geschah nicht mehr. Die Welt ging ihren gleichmäßigen sündigen Gang weiter. Die Grausamkeiten nahmen zu; und jetzt trafen sie die Christen in großer Zahl. Sie trugen die Leiden mit Geduld und großem Mut, denn sie glaubten noch immer, die letzten Tage seien nahe; und sie sahen all das, was geschah – auch gegen sie selbst, als Zeichen der künftigen Seligkeit.

Das erste Jahrhundert schwand dahin, ohne dass etwas Entscheidendes geschah. Das nächste auch. Und heute sind fast 2000 Jahre vergangen. Es hat massenweise Greuel der Verwüstung gegeben: Kirchenschändungen, Morde, Verfolgungen, Religionskriege, Konzentrationslager, Tortur, zerbombte Städte. Aber wo sind die letzten Tage geblieben? Es hat in all den Jahren genügend Prophetien gegeben; aber keine ist in Erfüllung gegangen.

– Oder sie sind alle in Erfüllung gegangen, bloß auf eine andere Weise, als wir es uns vorgestellt hatten. Vielleicht ist das so einfach zu verstehen: Seht euch in der Welt um! Überall seht ihr das Greuel der Verwüstung. Seht, wie die Menschen sich aufführen, wie gedankenlos, wie bösartig, wie hochmütig. Und seht, wie gebrechlich euer Leben ist. Wann werdet ihr Opfer der Greuel sein? Plötzlich ist alles vorbei für euch; ihr könnt nichts von dem erreichen, womit ihr euch beschäftigt habt; wovon ihr geglaubt habt, dass ihr genug Zeit dazu hättet. Nicht einmal etwas zu holen, was ihr vergessen habt, oder Kleidung, damit ihr nicht friert. Es geht alles so schnell, wenn das Leben vorbei ist.

Man denke, wenn Jesus uns nur zu der Erkenntnis bringen will, dass die letzten Tage das ganze Leben hindurch auf uns lauern; und deshalb können wir die große Entscheidung über unser Verhältnis zu Gott nicht einfach aufschieben, bis wir irgendwann einmal Zeit und Lust dazu haben. Kein Leben kehrt wieder, und jeder Tag des Aufschubs ist ein verlorener Tag. Wenn du das mit deinem Verstand nicht begreifen kannst oder wenn du dir einbildest, dass du zu beschäftigt bist, um in solchen Bahnen zu denken, dann versuch doch mal, dich in der Welt umzusehen. Wäre es heute gewesen, dann hätte Jesus gesagt: Dann mach dein Fernsehen an; da siehst du jeden Tag genug Ereignisse, die dich an die Gebrechlichkeit des Lebens erinnern können. Das Greuelbild der Vernichtung!

Memento mori! sagten die Alten. Denk daran, dass du sterben musst! Es ist immer gut, daran erinnert zu werden. Man kann fortgesetzt alles aufschieben; und es gibt so viele Dinge, die man nicht wieder von vorne machen kann. In der Bibel werden wir auch daran erinnert, dass man die Sonne nicht über seinem Zorn untergehen lassen soll; es könnte ja sein, dass es gar keinen Sonnenaufgang für einen mehr gibt; dann würde man mit einem Zorn in sich sterben anstatt Freude und Dankbarkeit. Halfdan Rasmussen schreibt in einem Gedicht:

Lebe heute, dann kannst du morgen sterben,
glücklich für jeden gelebten Tag.

Auf gewisse Weise sollte das Leben so einfach für uns sein; aber es kann schwer sein, seinen Zorn zu beherrschen; es kann noch schwerer sein zu vergeben, damit man von Neuem anfangen kann mit dem, mit dem man in Streit geraten war. Man tut sich schwer mit dem Vergessen. Das Sprichwort sagt: Alte Liebe rostet nicht! Vielleicht sollte es heißen: Alter Groll rostet nicht. Ja, es gibt so vielerlei, was uns daran hindert, glücklich zu sein für jeden gelebten Tag.

Allerdings kann das Wort Memento mori, denk daran, dass du sterben musst, auch missbraucht werden. Man könnte sich sicher das Wort in den Händen der geschmacklosen Reklamebranche vorstellen: Denk daran, dass du sterben musst, kauf deshalb die ganz richtigen Spaghetti, damit du die Zeit genießen kannst, die du noch hast! Oder: Denk daran, dass du sterben musst, mach deshalb Ferien in diesem oder jenem Land, solange du es noch kannst und die Sonne scheint! Es geht ja darum, das Leben zu genießen, solange man es hat.

Ich wage kaum, noch mehr Beispiele zu nennen, denn ich fürchte, die Idee könnte herauskommen. Es gibt keine Hemmungen, wenn es darum geht, seine Waren an den Mann zu bringen. Aber das hat doch auch Gültigkeit, wenn es um Sekten und religiöse Bewegungen geht. Und die haben gemeint, sie könnten sich eher erlauben, mit dem Tod zu drohen, wenn die Ware, die sie zu verkaufen hatten, Bekehrung und Glaube an ihren Gott war. Der heutige Text ist nicht die einzige Stelle in der Bibel, die sich für eine solche Reklamekampagne für Gott eignet. Da ist z.B. die ganze Offenbarung des Johannes, die von den Zeugen Jehovas fleißig benutzt wird. Aber ich habe auch von einem Pfarrer im westlichen Jütland gehört, der vor etwa hundert Jahren seinen gottlosen Gemeindegliedern zurief: Wartet nur, bis ihr die Augen aufmacht in der Hölle, dann werdet ihr euch selbst sagen: Verdammt, da hat der Pastor eben doch Recht gehabt! Schlimmer kann es kaum kommen.

Ja, aber, ist es denn nicht genau dies, was auch Jesus und die Christen mit solchen Worten tun, die im Text von heute stehen? Nein, Jesus will weder unseren Lebensgenuss anfachen noch uns in Schrecken versetzen gegenüber dem, was nach dem Tod geschehen wird. Er will vielmehr, dass wir anfangen zu leben, – nicht das Leben zu genießen, sondern dass wir uns um Menschen, Situationen und Ereignisse kümmern, die über uns selbst hinausreichen. Er will, dass wir entdecken, dass jeder Augenblick bedeutungsvoll ist, und zwar weil er nicht wiederkehrt, aber besonders weil es genau in diesem aufmerksamen Augenblick geschieht, dass wir Gott begegnen. In der alltäglichen Begegnung mit Menschen, deren Leben wir teilen, stehen wir Gott gegenüber.

Gott ist nicht in den seligen Augenblicken, in denen wir uns von den irdischen Mühen und Sorgen wegmeditieren, er ist auch nicht in den innerlichen Gebeten, in den wir uns in unserer eigenen Frömmigkeit völlig verlieren; auch nicht in der angenehmen Gesellschaft mit anderen, die dieselben religiösen Auffassungen haben wir wir.

Nein, er ist das Leben in uns und zwischen uns, indem er seinen Sohn Mensch zusammen mit uns werden ließ. Damit wurde Gott zu einem Teil von uns und unserem Leben. Er legte sozusagen sein Wort und damit seinen Geist in unser Leben. Das mag zunächst vielleicht etwas merkwürdig klingen, ist es aber ganz und gar nicht. Wir kennen es doch sehr gut aus anderen Zusammenhängen, dass ein Wort, das wir irgendwann einmal gehört haben, vielleicht in der Kindheit, vielleicht später, uns unser Leben lang beeinflusst hat. Das sind selten Worte, die man direkt oder wörtlich in Erinnerung hat, es ist vielmehr ihr Sinn oder ihre Bedeutungder Geist in ihnen, der in einem weiterlebt. (Dies gilt natürlich von beidem, von zornigen und liebevollen Worten, von positiven und negativen Ausbrüchen; – es geschieht ebenso oft, dass Menschen ihr ganzes Leben lang mit einer großen Bitterkeit in sich leben, wie mit einer großen Dankbarkeit.)

Wenn aber unsere Worte und unser Geist eine solche Kraft in sich haben, wieviel stärker muss da nicht das Wort Gottes und der Geist Gottes wirken? Und deshalb ist Gott immer gegenwärtig, überall in unserem Leben, wenn wir ihm zu begegnen wagen und es wollen. Wir wagen es, wenn wir ihn lieben. Deshalb sagt Jesus, dass das größte Gebot des Gesetzes dies ist: Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben! Wenn wir ihm mit Furcht und gesenkten Hauptes begegnen, wird daraus vielleicht gar keine Begegnung. Gott muss man mit Freimütigkeit begegnen. Und wo bekommt man diese Freimütigkeit her? Man bekommt sie von Gott selbst. Von seiner Liebe zu uns. Sie lässt uns die Augen erheben und Gott von Angesicht zu Angesicht begegnen.

Diese Begegnung ereignet sich, wenn wir unserem Nächsten von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Deshalb fügte Jesus, als er das größte Gebot im Gesetz nannte, hinzu: Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben, und deinen Nächsten wie dich selbst. Es ist so entscheidend, was da in diesem Augenblick geschieht. Wagen wir es, uns selbst loszulassen und uns Gott und unserem Nächsten hinzugeben, der vor uns steht und Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit und Hilfe hat? Dieser Augenblick ist so entscheidend, weil er nicht wiederkehrt und weil du da vor Gottes Angesicht stehst.

Da gibt es keine Zeit, etwas Vergessenes zu holen oder irgendetwas zu erledigen oder das Für und Wider abzuwägen; hier gilt: jetzt oder nie! So spricht Jesus über den Tag des Gerichts direkt in unser Leben mit einer Aufdringlichkeit, die genauso gewaltig wirken kann wie die großen Katastrophen in der Welt.

Zugleich aber spricht er von Befreiung, von der Ruhe, dem Reich Gottes, das darin liegt, sich hinzugeben im rechten Augenblick und den Herrn, seinen Gott zu lieben, und seinen Nächsten wie sich selbst. Da ist Liebe nicht irgendeine religiöse oder gefühlsmäßige Sentimentalität; sondern es ist der entscheidende Scheideweg in deinem Leben, wo bestimmt wird, ob du leben oder sterben sollst. Amen.

Pastor Arne Ørtved
Birkebæk 8
DK-7330 Brande
Tlf.: ++ 45 – 97 18 10 98
E-mail: ortved@mail.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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