Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Letzter Sonntag des Kirchenjahres, Ewigkeitssonntag, 20. November 2005
Predigt über Lukas 12, 42-48, verfasst von Wolfgang Vögele
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„Der Herr aber sprach: Wer ist denn der treue und kluge Verwalter, den der Herr über seine Leute setzt, damit er ihnen zur rechten Zeit gibt, was ihnen zusteht? Selig ist der Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, das tun sieht. Wahrlich, ich sage euch: Er wird ihn über alle seine Güter setzen. Wenn aber jener Knecht in seinem Herzen sagt: Mein Herr kommt noch lange nicht, und fängt an, die Knechte und Mägde zu schlagen, auch zu essen und zu trinken und sich vollzusaufen, dann wird der Herr dieses Knechtes kommen an einem Tage, an dem er's nicht erwartet, und zu einer Stunde, die er nicht kennt, und wird ihn in Stücke hauen lassen und wird ihm sein Teil geben bei den Ungläubigen. Der Knecht aber, der den Willen seines Herrn kennt, hat aber nichts vorbereitet noch nach seinem Willen getan, der wird viel Schläge erleiden müssen. Wer ihn aber nicht kennt und getan hat, was Schläge verdient, wird wenig Schläge erleiden. Denn wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man um so mehr fordern.“

1.

Liebe Gemeinde, geteilte Trauer ist gelinderte Trauer. Gut, daß es einen Sonntag am Ende des Kirchenjahres gibt, zur Erinnerung an die Toten des vergangenen Jahres. Gemeinsam, nicht nur im Kreis der Verwandten und Bekannten, denken wir an diejenigen, die im Verlauf des letzten Jahres gestorben sind. Niemand kann das leugnen: Wer über einen ihm lieb gewordenen Menschen trauert, der stirbt in seinem Schmerz darüber ein kleines Stück seines eigenen Todes. Die Trauer über den Tod des geliebten Anderen und die Furcht vor dem eigenen Tod sind wie ein Amalgam verbunden, bis sie nicht mehr voneinander getrennt werden können.
Und bei dieser Verbindung setzt auch der Predigttext aus dem Lukasevangelium an. Vorbereitung lautet das Stichwort, das der nennt.
Was heißt es sich vorzubereiten?
Kann sich ein Mensch auf den Tod vorbereiten?

Liebe Gemeinde, darüber will ich mit ihnen nachdenken, nicht in Lehrsätzen, sondern in Geschichten, Erzählungen und Beispielen.

2.

Annika, die zwanzig Jahre alte Sportstudentin läuft in ruhigem Tempo eine Runde nach der anderen auf der Aschenbahn. Danach folgen kurze Sprints, jeweils hundert Meter, dazwischen immer wieder Pausen, damit der Pulsschlag sich normalisiert. Jeden Tag nimmt Annika die Mühen und Plagen des Trainings auf sich, in der Regel neunzig Minuten lang. Sie bereitet sich auf einen wichtigen Wettkampf vor: Die Meisterschaft will sie gewinnen. Je besser sie vorbereitet und trainiert ist, desto größer sind ihre Chancen auf den großen Erfolg.

Christian, der Student, hat im Moment keine Zeit für Sport. Tag für Tag hockt er in der Bibliothek hinter Bergen von Büchern. Nur über Mittag geht er für zwanzig Minuten hinüber in die Mensa, um sich zu stärken. Kino- und Kneipenbesuche sind in der Vorbereitungszeit auf das Examen gestrichen. Alle Gedanken Christians sind auf die Prüfungen gerichtet, die in vier Wochen beginnen. Nur wer gut vorbereitet ist, kann seine Chancen auf eine gute Note wahren.

Für Sportler und Studierende ist eine gute Vorbereitung das Geheimnis ihres Erfolgs. Vorbereitung, das bedeutet für Annika und Christian: Trainieren, Üben, den Stoff bewältigen, sich das aneignen, was in der entscheidenden Situation, in der Klausur oder im Wettkampf verlangt wird: Muskelkraft und Geisteskraft, Denkfähigkeit und Bewegungsfähigkeit, Reaktionsschnelligkeit, Ausdauer und Schnelligkeit.

Vorbereitung ist für die beiden vor allem Übung, aber auch ein besonderer Umgang mit der Zeit. Wer sich vorbereitet, auf einen Wettkampf, auf ein Examen, auf die Hochzeit oder auf ein sonst wichtiges Ereignis in seinem Leben, wer sich vorbereitet, der nimmt die Zukunft in seine Gegenwart hinein. Er konzentriert seine gesamte Energie in der Gegenwart, um ein Ereignis in der Zukunft möglichst erfolgreich zu bewältigen. Er wird den Wettkampf oder die Klausur in Gedanken immer wieder durchspielen. Was könnte geschehen? Auf welche Fragen muß ich vorbereitet sein? Welche taktischen Finten könnten meine sportlichen Gegner vorbereitet haben?

Gute Vorbereitung verringert die Angst vor dem Wettkampf oder vor der Prüfung, auch wenn sie sich nicht vollständig beseitigen läßt. Wer weiß, was er kann, wird gelassener und selbstbewusster mit Spannung und Lampenfieber umgehen. Sich nicht vorzubereiten, ist töricht. Ohne Übung und Wissen läßt sich kein Examen bestehen und kein Wettkampf gewinnen. Wer nicht vorbereitet ist, muß gewärtig sein, daß er überrumpelt oder überrascht wird. Er wird mit einer Situation konfrontiert, die er gedanklich nicht durchgespielt hat. Aber in Situationen der Spannung – wie bei einem Examen oder Wettkampf – ist oft keine Zeit, lange nachzudenken. Wer zu lange nachdenkt, verliert wertvolle Zeit.

Vorbereitung ist ein Weg, die Zukunft in die Gegenwart hineinzuholen und sie vorwegzunehmen. Vorbereitung findet in der Gegenwart statt und ist auf Zukunft ausgerichtet. Gut vorbereitet sein ist eine Haltung der Weisheit und Klugheit.

3.

Annegret Richter war 35 Jahre lang Grundschullehrerin; nun ist sie 68 Jahre alt und lebt in Rente in einer kleinen Stadt in Baden-Württemberg. Ihr Mann ist vor vier Jahren gestorben. Ihre beiden Töchter wohnen mit ihren Familien in derselben Stadt. Frau Richter hat sich mit ihrem Leben arrangiert, sie weiß, was sie will. Was sie nicht ändern kann, trägt sie mit Humor und Gelassenheit. Frau Richter engagiert sich seit einigen Jahren in der evangelischen Gemeinde, besucht wöchentlich den Altenkreis und sonntags den Gottesdienst. Alle vierzehn Tage macht sie im Kreiskrankenhaus Besuche bei Patienten. Die Namen der Patienten bekommt sie vom Krankenhauspfarrer, der diesen Besuchsdienst organisiert. Viele Patienten begleitet sie geduldig über die langen Wochen ihres Krankenhausaufenthaltes – bis sie wieder entlassen werden. Manche von ihnen sind aber auch schon gestorben. Alle Frauen des Besuchsdienstkreises haben mit dem Krankenseelsorger über das Thema Tod gesprochen. Sie wollen in den Gesprächen mit den Kranken vorbereitet sein. Und Frau Richter nahm das zum Anlaß, sich mit dem eigenen Tod auseinandersetzen. Sie las Bücher, sie sprach darüber mit ihren besten Freundinnen und mit ihren Töchtern. Nach einer Zeit des Nachdenkens wusste sie, was sie tun musste, und sie kam zu einer Entscheidung.

Sie ging mit ihren Töchtern zu einem Notar und setzte ein Testament auf. Aus dem Internet lud sie sich von der Website der Landeskirche eine Patientenverfügung (1) herunter, druckte sie aus und unterschrieb sie. Und sie lud die Pfarrerin zu einer Tasse Kaffee ein, um mit ihr über ihre Beerdigung zu sprechen. Zuerst war ihr das peinlich, aber die Pfarrerin reagierte verständnisvoll. Es entwickelte sich ein langes, intensives Gespräch, und gemeinsamen schrieben sie Bibeltexte und Choräle auf, die bei Frau Richters Beerdigung gesungen werden sollten. Sie legten auch fest, welcher Bibelvers auf dem Grabstein stehen würde. Das Blatt schob Frau Richter in ein Kuvert, klebte es zu und legte es in die Schublade ihres Nachttischs, unter die Patientenverfügung. Eine Woche später erzählte sie den Töchtern, wo sie für den Fall der Fälle die Patientenverfügung und die Beerdigungswünsche finden könnten.

Patientenverfügung, Testament, Wünsche für die eigene Beerdigung –Frau Richter ist auf den Tod vorbereitet. Sie hat getan und bedacht, was vernünftig ist: Das Testament regelt, wie das verteilt wird, was sie besitzt. Sie will nicht, daß ihre beiden Töchter sich um den Nachlaß streiten. Das Blatt mit den Chorälen und Bibeltexten sorgt dafür, daß der Beerdigungsgottesdienst etwas von dem widerspiegelt, was Frau Richter im Leben wichtig und teuer war. Die Patientenverfügung schließlich garantiert, daß Frau Richters Wille in Sachen medizinischer Betreuung auch dann befolgt wird, wenn sie sich selbst nicht mehr dazu äußern kann, weil sie zum Beispiel im Koma liegt oder bewusstlos ist. Was formal zu tun ist, hat die sympathische Frau Richter getan, ganz unerschrocken und ohne Wehleidigkeit hat sie für die Zeit nach ihrem Tod gesorgt. Aber trotzdem die Frage: Ist sie damit auf den Tod vorbereitet?

4.

Neben der Sportlerin, dem Examenskandidaten und der pensionierten Lehrerin fällt mir noch der Pfarrer Harald Poelchau (2) ein. Poelchau, ein Schüler Paul Tillichs, erhielt 1933, kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, die Berufung zum Gefängnispfarrer in der Haftanstalt Berlin-Tegel. Er ahnte damals nicht, was auf ihn zukam: Weit über 1000 Gefangene begleitete er auf dem Weg zur Hinrichtung, zu den Erschießungskommandos für Kriegsgefangene, unter den Galgen und vor das Schafott. Er bereitete Menschen auf den Tod vor, die gar nicht sterben wollten. Poelchau selbst war Mitglied des Kreisauer Kreises und half mit, ohne groß Aufhebens davon zu machen, verfolgte Juden zu verstecken oder ihnen die illegale Ausreise zu ermöglichen. Es ist anrührend zu hören, wie Poelchau von den Gesprächen mit den zum Tode Verurteilten erzählt. Für eine Gruppe verurteilter norwegischer Kriegsgefangener besorgte er eigens eine Flasche ihres geliebten Lebertrans. Über die Gespräche mit den Verurteilten hat er sonst nie viele Worte verloren. Dennoch wird aus seinen Notizen deutlich: Er war keiner, der im Augenblick des Todes missionierte. Er war einer, der sich einließ und versuchte, letzte kleine Bitten zu erfüllen: von der Zigarette bis zur Formulierungshilfe beim Abschiedsbrief an die Ehefrau. Zwischen den Zeilen seiner Notizen schwingt unausgesprochen mit, welche unmenschliche Belastung diese Gespräche gewesen sein müssen.

Es gibt eine Vorbereitung auf den Tod, in der sich Abgründe der Verzweiflung auftun. Poelchau wurde als Gefängnisseelsorger zum vehementen Gegner der Todesstrafe.

5.

Vorbereitung klingt nach strenger Übung, endloser Wiederholung und großer Anstrengung, nach Geduld und Disziplin, dem fehlt der Geschmack von Erleichterung, Muße und leichtem Leben. Wer sich vorbereitet, der will in der Regel auch den Zeitpunkt wissen, an dem das Ereignis eintritt, für das seine Vorbereitung nutzen soll.

Aber wer sich im Leben auf den Tod vorbereitet, weiß in der Regel nicht, wann ihn der Tod erwartet. Normalerweise wird er inständig hoffen, daß der Tod sich noch so lange wie möglich hinauszögert. Aus der Geschichte vom klugen und treuen Verwalter, die Jesus erzählt, höre ich zwei grundlegende Einsichten heraus. Die erste Einsicht: Klug und weise ist es, sich auf den Tag vorzubereiten, an dem der Besitzer zurückkommt. Und die zweite Einsicht: Niemand kann den genauen Tag vorhersehen.

Beides hat die christliche Theologie immer auf den Tod bezogen. Bereite dich vor, denn Du kennst Deinen Todestag nicht! Darum entwickelte die weisheitliche Theologie des Mittelalters eine eigene Lebenslehre, die ars moriendi, die das Leben als Vorbereitung auf den Tod verstand. Der Tod als die Grenze am Ende des Lebens wirkt sich bis in die jeweilige Gegenwart hinein aus. Denn die christliche Lebens- und Sterbekunst sagte: Lebe so, daß jeder Tag dein letzter sein könnte. Der Tod verlieh dem alltäglichen Leben einen großen und gewissenhaften Ernst. Der Gedanke an den Tod, seine Vorwegnahme sollte aus dem Leben alles Uneigentliche, alles Überflüssige, alles Abschweifende vertreiben. Im vorauslaufenden Gedanken an den Tod war das Leben Vorbereitung und Einübung. Was man aber eigentlich übte, war das Leben. Die Vorbereitung auf den Tod war eine Übung im Leben. Denn der Gedanke an den Tod, so paradox das klingen mag, intensiviert das Leben, er verdichtet, konzentriert es, macht es lebendiger. Wer an den Tod denkt, meint nicht zuletzt das Leben. Beides ist stärker miteinander verschlungen, als uns das gelegentlich zu Bewußtsein kommt.

6.

Gelungene Sterbens- und Lebenskunst wendet den Tod ins Leben hinein: Sie meint Konzentration und Intensivierung des Lebens ebenso wie den ganz nüchternen Gedanken an Patientenverfügung, Testament und die eigene Beerdigung. Und ein Drittes kommt hinzu.

Der Tod markiert das Ende des Lebens, eine Grenze, die Angst und Furcht macht. Niemand weiß, was sich hinter dieser Grenze befindet. Die Vorbereitung christlicher Lebens- und Sterbekunst gilt also einem Ereignis, über das niemand Genaues sagen kann. Genau diese Ungewißheit macht jedem Menschen angst. Und gerade hier, an diesem Punkt, der für alle, die sterben müssen, am schwierigsten einzuschätzen und zu ertragen ist, bringt christliche Lebens- und Sterbekunst eine entscheidende Wendung. Der Gott, der mit seinem Segen jeden Menschen durch sein Leben begleitet, verläßt den Menschen im Tod nicht. Die Zuwendung Gottes reicht über den Tod des Menschen hinaus, sie reicht sozusagen durch das Sterben und den Tod hindurch. Wer glaubt, kann das sagen, weil Jesus Christus jedem Menschen in seinem Tod vorausgegangen ist. Wie jeder Mensch ist Jesus von Nazareth gestorben, er ist uns allen in seinem Tod vorausgegangen. Und mehr noch: In seiner Auferstehung hat Jesus diesen Tod überwunden.

Christliche Lebens- und Sterbekunst legte darum immer großen Wert auf das Meditieren und Nachdenken über den leidenden, sterbenden, gekreuzigten Christus. Das ist auch deshalb wichtig, weil viele Menschen nach dem Tod ein Gericht über ihr Leben erwarten. In der Erzählung vom klugen Verwalter heißt es am Ende: „ Denn wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man um so mehr fordern.“ Der Mensch muß Rechenschaft ablegen für sein Leben vor Gott, aber Gott fällt kein unbarmherziges Urteil über den Menschen. Auch das gehört zur Vorbereitung auf den Tod dazu: Wir erwarten kein strenges und liebloses, sondern ein barmherziges Gericht. Und das nimmt dem Tod von seiner Unerbittlichkeit.

Wer sich vorbereiten will auf seinen Tod, ihn ins Leben hineinnehmen will, der muß den Gott der Bibel kennenlernen, der den Menschen auch im Tod nicht vergißt. Gott begegnet in der Bibel nicht nur als Fordernder, sondern auch als Vergebender und Gütiger. Denken Sie an die Geschichte vom verlorenen Sohn oder an die Geschichte des Zöllners Zachäus. Gott begegnet in der Bibel als Fordernder und als Barmherziger, als Richter und als Retter und nicht zuletzt - und das ist das wichtigste - als einer, der sich vom Schicksal und vom Handeln der Menschen bewegen läßt, in ihrem Leben, in ihrem Sterben und in ihrem Tod. Darum greift sein rettendes und gerecht machendes Handeln segnend, überwindend und barmherzig über die Schablonen von Leistung und Fehlleistung hinaus. Das gilt im Tod wie auch im Leben. Amen.

(1) Zum Beispiel http://www.ekd.de/patientenverfuegung/patientenverfuegung.html

(2) Dazu Wolfgang Vögele, Gottes großzügige Maßstäbe. Gefängnisseelsorge bei Harald Poelchau und moderner Justizvollzug, in: L.Mehlhorn (Hg.), Ohr der Kirche, Mund der Stummen. Harald Poelchau, Berliner Begegnungen 4, Berlin 2004, 98-105.

PD Dr. Wolfgang Vögele
Goldaper Str.29
12249 Berlin
Mail:  wolfgang.voegele@aktivanet.de

 


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