Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Spenden Sie dem Förderverein Göttinger Predigten im Internet e.V.
für die Fortführung seiner Arbeit!

2. Sonntag im Advent, 4. Dezember 2005
Predigt über Jesaja 63, 15 - 64,3, verfasst von Eberhard Busch
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


In den täglichen Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine steht für den heutigen Tag ein Vers nach Worten des Bernhard von Clairvaux, der im 11. Jahrhundert lebte: „Komm, du Glanz der göttlichen Herrlichkeit, du Kraft und Weisheit Gottes! Wandle unsre Nacht zum Tag, und erleuchte unsre Augen ...“ So zu beten, zu rufen, zu seufzen, zu klagen, zu schreien, dazu hält uns die Adventszeit an. Wir bitten um etwas Lebensnotwendiges, was so unendlich viele brauchen. Gott kann es uns geben. Aber wird er es uns geben? Oder klopfen wir da an eine verschlossene Türe? Stoßen wir etwa auf taube Ohren, wenn wir in jenes andere alte Adventslied einstimmen, gedichtet von Friedrich Spee am Anfang des 30jährigen Kriegs? – „O Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf, reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für!“

Diese Bitten haben ein Vorbild in den Bitten, wie sie in Jesaja 63 und 64 zu hören sind: „Blicke herab vom Himmel und schaue hernieder von deiner heiligen und herrlichen Wohnstatt!“ Nein, nicht bloß: Blicke herab, - komme herab! „O dass du den Himmel zerrissest und führest herab.“ Mit ähnlichen Worten oder mit erstickter Stimme haben seither Menschen gerufen und tun es bis in diese Stunde: Menschen, die nicht aus noch ein wissen, Kinder, die hungern und dürsten, Jugendliche, die Halt und Hoffnung verloren haben, Männer, Frauen, die im besten Alter aus ihrem Beruf gestoßen sind, Alte, die erschrocken sind über das nahe Ende ihres Lebens und angesichts des Unfertigen ihres Tuns, Kranke, die vergeblich auf Heilung warten. Vor einem Jahr stand ich inmitten von ausgemergelten Obdachlosen, die an eine Wand die Namen derer schreiben ließen, die kürzlich am Straßenrand gestorben waren. Das hätte irgendwo in Afrika sein können. Es war in Atlanta in den USA, wo Tausende solcher Armseligen existieren. „O dass du den Himmel zerrissest und führest herab.“ -

Und nun ist es ja nicht etwa so, als würden sich die Gläubigen abseits all der Nöte und Fragen auf einer Insel der Seligen befinden. Es heißt wohl: „Du, Gott, bist unser Vater“ und „unser Erlöser ist dein Name“ (V. 16) – auch der Vater und Erlöser der Anderen, die ihn nicht kennen. Aber sie, die Kinder Gottes, dürfen es wissen. Sie halten sich daran. Aber das nimmt sie nicht aus den Schwierigkeiten heraus. Im Gegenteil, das vergrößert ihre Anfechtung. Ist er „unser Vater, unser Erlöser“, unser Helfer, wie es Gottes Kinder wissen dürfen, warum hilft er dann nicht? „Wo ist dein Eifer und dein Stärke? die Regung deiner Liebe und deines Erbarmens“ (V. 15)? Warum, o Gott, sind wir so dran, wie wenn kein Gott wäre? Der Genfer Reformator Johannes Calvin sagt dazu: „Gott ist dem Anschein nach im Himmel eingeschlossen, wenn er keine Hilfe bringt und so gar nicht darum kümmert, was auf Erden vor sich geht.“ Sicher ist Gott nicht an sein Volk gekettet, aber er selbst hat ihm doch die Zusage seines Beistands gegeben. An wen könnte es sich sonst halten? „Denn kein Ohr hat gehört, kein Auge gesehen einen Gott außer dir“ (V. 3). Lässt der sein Volk im Stich, dann fallen seine Zeugen unter den Menschen aus. Oder hält Gott auf Distanz, weil wir Sünder sind? Ja, wir sind es, wir können es nicht leugnen, „erbarme dich unser!“ Aber wenn das der Grund ist, dich von uns abzuwenden, dann müssen wir in unserem Elend fragen: „Warum lässt du uns abirren von deinem Wege? Verhärtest unser Herz, dass wir dich nicht fürchten?“ Das ist kein billiges Abschieben unserer Schuld auf Gott. Aber ein Flehen zu dem Gott, auf dessen Schultern unsere Fehler liegen! Wir sind so völlig auf sein Erbarmen angewiesen, dass wir verloren sind, wo dieses Erbarmen ausfällt. Und fällt es nicht aus? Der jüdische Denker Martin Buber sprach von einer „Gottesfinsternis“.

*

Ja, aber wie es bei einer Sonnenfinsternis dunkel wird, obwohl dann die Sonne gar nicht weg ist, so ist in der Gottesfinsternis uns Menschen zwar Gott verborgen. Aber er ist auch dann da. Es bleibt, sagt Calvin, auch dann bei der „Grundwahrheit, dass Gott stets barmherzig ist“, auch, wenn wir „ihn als solchen nicht spüren.“ Gott ist „barmherzig mit uns selbst dann, wenn Gott gegen uns zu sein scheint.“ Er ist uns nahe, auch wenn er uns ferngerückt zu sein scheint. Und so ist Gott unser „Vater“, unsre „Mutter“, unser „Erlöser“, auch wenn es nun verborgen ist, inwiefern Gott uns und den unendlich vielen Hilfsbedürftigen und Desorientierten das ist. Ist Gott bloß eine fixe Idee, die wir an den Himmel geschrieben haben, wie könnten wir dann zu ihm rufen: „O dass du den Himmel zerrissest und führest herab!“ Ein solcher Gott ist gar kein Gott. Er geht uns nichts an. Aber der, von dem es heißt: „Kein Ohr hat gehört, kein Auge gesehen einen Gott außer dir“, dieser Gott geht uns an. Dass der Schöpfer von Himmel und Erde den Himmel zerreißen und herabfahren sollte in unsere irdischen Behausungen, - wir wüssten doch nicht dieses eigentlich Unvorstellbare, wenn wir nicht wüssten, dass er das wahrhaftig kann. Wir würden nicht danach rufen, wenn wir nicht davon herkämen, dass er das schon einmal getan hat, dass er bereits den Himmel zerrissen hat und herabgefahren ist. Es ist geschehen in dem, der nach dem Johannesevangelium von sich sagte: „Ich bin vom Himmel gekommen, damit ich den Willen tue dessen, der mich gesandt hat“ (Joh. 6,38).

Doch ist er so gekommen, wie es im Adventslied von Friedrich Rückert gesagt wird: „Dein König kommt inniedern Hüllen ... O mächtger Herrscher ohne Heere, gewaltiger Kämpfer ohne Speere ...“ Warum ist das so? Man kann an der Gewaltlosigkeit dieses „Herrschers“ Anstoß nehmen. Er ist so gekommen, dass man daran zweifeln kann, ob da der Himmel wirklich zerrissen und Gott wirklich herabgefahren ist. Er ist so erschienen, dass immer wieder gefragt wird, wie es schon Johannes der Täufer tat: „Bist du, der da kommen soll? Oder sollen wir eines Anderen warten?“ (Mt. 11,3) Er hat damals so den Himmel zerrissen, dass wir erneut rufen müssen: „O dass du den Himmel zerrissest und führest herab.“ Obwohl das Evangelium uns zuruft: „Das Licht scheint in der Finsternis“, verbreitet sich jetzt doch wieder „Gottesfinsternis“.

Warum ist das so? Deshalb, weil eben dieser Herrscher ohne Heere will, dass wir in unseren Tagen zu ihm beten: Du, der du bewiesen hast, dass du das kannst, zu deinen bedrängten Menschenkindern zu kommen, du, der du das nicht nur kannst, sondern schon getan hast, erweise du dich heute aufs neue als der, der die Gottesfinsternis beendet. Du bist dazu in der Lage. Erweise du dich als der, dessen Licht scheint in der Finsternis. Zeige jetzt den Verwirrten und Verirrten und Betrübten, dass es zu unserer Zeit, in unserer Gegend, privat und öffentlich wahr ist: „Gott will im Dunkeln wohnen hat es doch erhellt.“ Bewahrheite es auch in unserer so traurigen Kirche: „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht“. Das Licht deiner grenzenlosen Liebe! Und lehre uns und unsere Nächsten in der Nähe und in der Ferne, dass du der Herrscher bist ohne Heere und Speere darum, weil deine Macht eine andere ist als die sonst in der Welt übliche: die Macht der Barmherzigkeit, die Gewalt der Liebe, die allem Widerstand gewachsen ist.

*

Doch ist die Barmherzigkeit Gottes keine Schwäche. Sie ist Ausübung tatsächlich seiner Stärke. „Sein Zepter ist Barmherzigkeit“, singen wir im Adventslied. Aber sie ist sein Zepter, Ausdruck seiner Vollmacht, in der er sich geltend zu machen versteht als der Herr aller Herren, Ausdruck seiner Kraft, mit der er sich durchsetzt gegen allen Widerstand. In der Bibel ist mehrfach davon die Rede, dass Gott den Himmel zerreißt, um sich den Menschen zu zeigen. Und es fällt auf, dass dabei jeweils gesagt wird: Wenn Gott das tut, dann beginnen auf Erden die Dinge zu wackeln. Was unter uns fest und beständig scheint, das fängt dann an, zu zittern und zu beben. Am ersten Ostertag, so hören wir, „geschah ein großes Erdbeben“ (Mt. 28,2). Ja, schon vom Karfreitag wird uns gesagt: „Und die Erde erbebte und die Felsen zerrissen“ (Mt, 27,2). So heißt es schon in Psalm 18 (V. 7f.): Als Gott mein Gebet aus Todesangst hörte, da wankte und schwankte die Erde. Und so in unserem Predigttext: Wenn Gott zu den Seinen herabkommt, da erzittern vor seinem Angesicht die Völker und zerfließen die Berge (V. 1f.). Alles drastische Zeichen dafür, dass wir Gott nicht in unserer Hand haben, sondern er hat uns in der seinen, fähig, uns zu entreißen, was wir in unsrer Hand haben. Alles Zeichen dafür, dass mit ihm ein neuer Anfang inmitten seiner von ihm entfremdeten Kreatur anbricht. Alles Zeichen dafür, dass sein Name seinen Feinden derart kund wird, dass die Fundamente ihrer Feindschaft gegen ihn gründlich erschüttert werden.

Dann sehen und hören sie, was „kein Ohr gehört, kein Auge gesehen hat, dass kein Gott ist außer dem einen“, der das kann und tut: nämlich herbeizukommen zu seinen Menschen im Erbarmen mit ihnen. Dann wird auch das für seine Gemeinde aufhören, dass „unsere Widersacher dein Heiligtum zertreten“ (V. 18). Sie widerstehen ja darum uns, weil sie dem Gott widerstehen, der kommt, um sich der Menschen erbarmen. Und er kommt, um sich auch seiner Feinde zu erbarmen. Er will nicht sie beseitigen, er will ihre Feindschaft beseitigen. Nicht seine Gemeinde schafft das, aber sie soll ihn darum bitten, „dass dein Name kund werde deinen Feinden“ (V. 1). Ihre Aufgabe liegt dabei in dem, was Johannes Calvin den „Zweck der Erlösung“ durch Gott nennt: „ein Volk zu haben, das Gottes Namen verherrlicht.“ Das ist die Mission der Gemeinde Gottes unter ihren distanzierten Mitmenschen: dass sie schon tut, was die Anderen noch nicht tun. Sie distanziert sich damit nicht von ihnen. Sie ist inmitten der Anderen und greift den Bedürftigen unter die Arme, indem sie zugleich für sich und für die Anderen darauf wartet: „O Sonn, geh auf; ohn deinen Schein in Finsternis wir alle sein.“

Prof. Dr. Eberhard Busch, Göttingen
eberhard.busch@theologie.uni-goettingen.de


(zurück zum Seitenanfang)