Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

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2. Sonntag im Advent, 4. Dezember 2005
Predigt über Jesaja 63, 15-19b, verfasst von Wolfgang Winter
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Gott weicht nicht aus

I

Liebe Gemeinde,
eine junge Frau, 30 Jahre alt, ist seit mehreren Stunden bei mir in Beratung wegen verschiedener Konflikte am Arbeitsplatz, in der Partnerschaft, mit sich selbst. Sie hat die Angewohnheit, zum Ende jeder Stunde dagegen zu protestieren, dass ich pünktlich Schluss mache. Sie wirft mir regelmäßig vor, ich wolle sie nur loswerden, so wie ihre Familie sie seit je habe loswerden wollen in ihrer Lebensgeschichte. (Sie ist das außereheliche Kind ihrer Mutter, die dann später einen anderen Mann heiratete und mit ihm noch zwei weitere Kinder hatte.) Einmal eskaliert dieser Machtkampf lautstark. Sie stürmt aus dem Zimmer, wirft die Tür mit lautem Knall hinter sich zu und trampelt schimpfend die Treppe herunter. In der nächsten Stunde kommt sie mit einem gespannten Ausdruck auf dem Gesicht: Wie wirst du wohl auf diesen Ausbruch reagieren? Ich antworte ihr, dass ich mich sehr geärgert habe über sie. Beim Nachdenken habe ich mich aber dann gefragt, ob sie mich vielleicht hätte testen wollen, nämlich: Wie viel kann der eigentlich ab? Kann der mich eigentlich aushalten, wenn ich wirklich grob werde? Darauf sie erleichtert: „Ja, so war das. Und ich hatte die ganze Woche Angst, dass Sie mir keinen neuen Termin geben, sondern mich rausschmeißen.“

Woher die Erleichterung der jungen Frau? Ich denke, es war die Erleichterung darüber, dass ihre zerstörerische Aggressivität die Verbindung zu mir nicht zerstört hatte. Ich hatte den Angriff gewissermaßen psychisch überlebt, d. h. ich hatte mich nicht an ihr gerächt. So konnte sie die Beratungsbeziehung zunehmend für eine Auseinandersetzung mit mir nutzen, ohne mich ständig vor sich selbst schützen zu müssen, und konnte sich darin entwickeln.

Was trauen sich Menschen Gott gegenüber? Unser heutiger Predigttext ist ein gewaltiger Klagepsalm und Anklagepsalm Israels an seinen Gott. Er setzt ein mit der Bitte um Gottes Aufmerken und Zuwenden:
„So schau nun vom Himmel
und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung!
Wo ist nun dein Eifer und deine Macht?
Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.
Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht.
Du, HERR, bist unser Vater;
´Unser Erlöser`, das ist von alters her dein Name.“

Das ist die Verletzung, die schmerzt: dass sich der Gott, dessen Namen Nähe und Hilfe verheißt, so fernhält und seine Macht so wenig erweist. Im Gegenteil: Gott ist abwesend. Gott ist verloren gegangen und der Himmel ist verschlossen. So werden die einleitenden Sätze dieses Gebetes zu einer Anklage, in der Aggression und Enttäuschung über den sich entziehenden Gott spürbar sind – genauso wie ein drängender Aufruf an Gott, die gegenwärtige Not wahrzunehmen und aufzulösen.
Dem eindringlichen, drängenden Anruf folgt die eigentliche Klage und Anklage:
„Warum lässt du uns, HERR, abirren von deinen Wegen
und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten?
Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind!
Warum schreiten die Gottlosen durch deinen Tempel?
Warum zertreten unsere Widersacher dein Heiligtum?
Wir gleichen jenen, die nie deine Herrschaft kannten, als hätten wir niemals deinen Namen getragen.“

Hier türmt sich Frage auf Frage, Anklage auf Anklage. Die erste Anklage (V.17) richtet sich gegen Gott selbst und hält Gott das eigene Nicht-Glauben-Können, die eigene Verstocktheit als Schicksal vor. Die zweite Anklage (V. 18) blickt auf die Feinde, die feindlich erlebte Welt, deren Wirklichkeit das Wirken Gottes offensichtlich widerlegt. Und die dritte Klage (V. 19a) fasst die beiden ersten Klagen in sich zusammen in einem Eingeständnis der eigenen Gottlosigkeit.
Wenn es hier eine Hilfe gibt, so ist sie nur von Gott selbst zu erwarten. Der eindringliche Ruf nach Gottes Eingreifen wiederholt und steigert zugleich den Anfang des Psalms:
„Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!
Dass vor dir die Berge erbebten,
wie Feuer Reisig entzündet,
wie Feuer Wasser zum Sieden bringt.“

II

„Warum lässt du unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten?“
Verstockung: Der amerikanische Psychologe Stanley Milgram hat in einem berühmten Experiment festgestellt, dass Menschen unter bestimmten Bedingungen ihre moralischen Hemmungen abwerfen und bereit sind, zu foltern, wenn es die Autorität befiehlt.
„Versuchsperson: Ich halte das nicht aus. Ich werde doch den Mann da drin nicht umbringen! Hören Sie, wie der schreit?
Versuchsleiter: Wie ich Ihnen vorher schon sagte, die Schocks können schmerzhaft sein, aber das Experiment erfordert es.
Versuchsperson: Aber er schreit doch. Er kann das nicht aushalten. Was ist mit ihm los?
Versuchsleiter (mit geduldigem sachlichem Ausdruck): Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen“ …
Sie haben weitergemacht, diese Versuchsperson und fast alle anderen, die sich dem Experiment von Milgram unterzogen haben. Sie sind gehorsam gewesen. Sie haben ihre Aufgabe im Dienst der Wissenschaft erfüllt und haben weiter mit Elektroschocks gearbeitet. Alles Bitten und Schreien der Opfer blieb vergeblich.
Das Experiment von Milgram hat viele Illusionen zerstört. Das Bedürfnis nach kollektivem Aufgehobensein und nach Entbindung von Verantwortung scheint größer zu sein als die von uns so hoch geschätzte menschliche Autonomie. Dieses Bedürfnis nach Abgabe von Verantwortung enthält aber ein unheimliches Potenzial: Es kann aus ganz normalen Menschen Mörder machen.
„Ich halte das nicht aus. – Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen.“: Nein! Die Verstocktheit des menschlichen Herzens ist nicht undurchdringlich. Indem sie ausgesprochen und im Psalm vor Gott gebracht wird, fällt gewissermaßen ein Lichtstrahl in das dunkle Herz. Es ist die Hoffnung, dass es außerhalb der Gespinste unserer psychischen Welten ein Gegenüber gibt, das unsere Destruktivität überlebt und sich darin als gut und machtvoll erweist. „Du, HERR, bist unser Vater; `unser Erlöser´, das ist von alters her dein Name.“

„Warum schreiten die Gottlosen durch deinen Tempel? Warum zertreten unsere Widersacher dein Heiligtum?“
Trauma: Die Verstocktheit des Herzens ist ein Angriff auf die Gottesbeziehung von innen. In der traumatischen Gewalterfahrung wird die Gottesbeziehung eines Menschen von außen zerstört. Traumatische Erfahrungen haben vielerlei Gestalt. Sie können durch Naturkatastrophen verursacht sein, sie können aber auch durch menschliche Verbrechen zugefügt werden. Dazu gehören Folter, Kriegshandlungen, Vertreibungen, Vergewaltigungen, Verlust von wichtigen Beziehungspersonen. Der Kern der traumatischen Erfahrung besteht im unerträglichen Erlebnis vollkommender Hilflosigkeit und Ohnmacht. Damit ist jegliches Vertrauen in eine tragende, unzerstörbar lebenspendende Beziehung zur Mitwelt zerstört. Der Verlust des Urvertrauens wird wie ein Riss durch die Welt erlebt, wie eine Kluft, die den Betroffenen von anderen Menschen und von Gott trennt: Nichts ist mehr sicher im Leben.

„Warum schreiten die Gottlosen durch deinen Tempel? Warum zertreten unsere Widersacher dein Heiligtum?“ Dennoch: Das traumatische Erleben kann in Worte gefasst werden und als Klage und Anklage vor Gott gebracht werden. Auch hier fällt ein Lichtstrahl in die Dunkelheit der geschlossenen traumatischen Welt. Einer, der außerhalb dieser zerstörerischen Welt ist, kann angeredet, bestürmt, angeklagt, beschimpft, in Gebrauch genommen werden in der Hoffnung, dass er diesen Ansturm überlebt und sich darin als machtvoll erweist.
In einer Selbsterfahrungsgruppe mit Kriegskindern des zweiten Weltkrieges – sie sind heute zwischen 60 und 75 Jahre alt – sagte ein Teilnehmer nach einigen Sitzungen: „Ich bin erleichtert, dass ich offensichtlich nicht der einzige hier in der Gruppe bin, dessen Weltvertrauen, einschließlich Gottvertrauen, ziemlich brüchig ist. Bei aller gewonnenen Lebenserfahrung und Lebenstüchtigkeit geht es mir doch immer wieder so, dass ich plötzlich das Gefühl habe, dass mir der Boden unter den Füßen wegrutscht. Ich kriege dann Panikattacken. Es ist halt nichts sicher im Leben. Auch Gott nicht. Heißt es nicht irgendwo in der Bibel: Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern hoffen auf eine zukünftige? Damit tröste ich mich dann ein wenig.“

III

In der Klage und Anklage gegen Gott lebt die Hoffnung, dass Gott sich als mächtiger erweist als die menschliche Destruktivität. Dass Gott selbst unserer Absage an Gott, unserer Lebensverneinung und Gottes-Zerstörung nicht ausweicht, sondern dass Gott sich als Gott erweist, indem er diese erträgt.
Freilich, diese Hoffnung ist nicht einfach da. Sie ist wohl am ehesten demjenigen zugänglich, der in der eigenen Destruktivität und dunklen Gottesverschlossenheit einen unterdrückten Ruf nach Gott und Gottes eigenen Ruf nach ihm zu hören vermag. Das befreiende Geschehen mag spektakulär sein, wie im Psalm: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!“
Das befreiende Geschehen mag auch verhaltener und leiser sein. So hat es Paul Gerhardt gedichtet:
„Ihr dürft euch nicht bemühen, noch sorgen Tag und Nacht,
wie ihr ihn wollet ziehen mit eures Armes Macht.
Er kommt, er kommt mit Willen, ist voller Lieb und Lust,
all Angst und Not zu stillen, die ihm an euch bewusst.“ (EG 11, 7)

Amen

Wolfgang Winter
Ev. Ehe-, Lebens- und Erziehungsberatungsstelle
Göttingen
stg@gwdg.de


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