Göttinger Predigten im Internet
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Christnacht, 24. Dezember 2005
Predigt über Jesaja 7, 10-14, verfasst von Rüdiger Lux
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Immanuel – Mit uns ist Gott. Ein Wort, ein Name, und alles ist gesagt, das ganze Weihnachtsgeheimnis. Dieser Name ist ein starkes Zeichen gegen die Angst.

Soll heute, ausgerechnet heute in der Christnacht von unserer Angst die Rede sein? O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit – und der Pfarrer redet von der Angst? Wie passt das zusammen? Lasst uns doch heute, wenigstens heute und in diesen Weihnachtstagen einmal unbeschwert und fröhlich sein! Ja, liebe Gemeinde, das sollt ihr sein. Aber die Freude über den Immanuel, darüber, dass Gott mit uns ist, das soll ja eine echte Freude werden. Kein seichtes Vergnügen, kein dürres Rinnsal, das sich nach den Feiertagen schon wieder im Sande verläuft. Es soll ja eine Freude sein, die unsere Angst besiegt. Sonst könnte es geschehen, dass die für wenige Stunden und Tage verdrängte Angst uns am Ende nur noch stärker in ihren Klauen hält als je zuvor. Also muss auch in dieser Nacht von der Angst die Rede sein. Nicht um uns die Freude zu verderben, sondern damit es am Ende jeder von uns aus vollem Herzen singen kann: O du fröhliche, o du selige gnadenbringende Weihnachtszeit.

I

Immanuel – Mit uns ist Gott. Das ist ein uralter Name gegen die Angst des Versagens. Vor mehr als 2700 Jahren stand Ahas, der König von Jerusalem, unmittelbar vor einem Krieg gegen die Könige von Damaskus und Samaria. Sein Herz und das Herz seines Volkes bebten vor Angst wie die Bäume im Walde. Würden seine Anstrengungen ausreichen, um das Volk vor den Feinden zu verteidigen, oder würde er als König versagen und mit seiner Stadt untergehen? Sollte Ahas als Versager in die ruhmreiche Geschichte Israels und des Hauses David eingehen? Während der König die Befestigungsanlagen inspizierte, an denen die Jerusalemer fieberhaft bauten, tritt ihm der Prophet Jesaja entgegen. Und er weissagt dem ängstlichen Ahas: Der Herr, der Gott Israels, wird euch ein Zeichen geben. Siehe die junge Frau ist schwanger und wird einen Sohn gebären. Und du sollst seinen Namen Immanuel nennen. Mitten im Krieg ein Kind. Mitten in Tod und Verderben bringt Gott, neues, verletzliches Leben. Immanuel, das Kind, ein starkes Zeichen gegen die Angst! Mit uns ist Gott. Was immer auch die feindlichen Heere, die da gegen die Stadt anrennen, ausrichten werden, wie groß die Not auch sein wird, Gott schenkt neues Leben. Wo ein Kind geboren wird, da ist Immanuel, da ist Gott mit uns. Denn Kinder sind ein Zeichen Gottes.

Liebe Gemeinde, wir sind nicht Ahas und auch nicht in Jerusalem. Wir stehen nicht im Krieg. Aber die Angst des Versagens, die ist uns wahrlich nicht fremd. Wie viele Kinder stehen am Morgen auf und machen sich mit Bangen auf den Schulweg, weil sie Angst vor dem Versagen haben? Wie viele Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz finden, leben mit der Angst, als Versager vor die Eltern, die Freunde, die Freundin treten zu müssen? Wie viele Eltern leben mit der Angst und der Scham, gegenüber ihren Kindern, die auf die schiefe Bahn gerieten, versagt zu haben?

Wenn dich die Angst des Versagens quält, dann halte dich an den Namen Immanuel. Sprich ihn dir vor, wieder und wieder: Immanuel – Mit uns ist Gott. Unser Gott ist ein Gott der Kinder, ein Gott des neuen Lebens, eines Lebens, das frei werden soll von der Angst des Versagens. Immanuel – Mit uns ist Gott.

Er war und ist auch mit mir, damals, als ich von meinen Eltern an den Taufstein getragen wurde, da geschah das im Zeichen des Immanuel. Da hat er mir bereits dieses Versprechen gegeben. Ich bin mit dir! Und heute, in dieser stillen Christnacht, da komme ich zurück, zu dir, Immanuel. Und ich sehe dich in der Krippe, dich selbst als Kind. Und ich ahne, dass ich vor dir mehr bin als nur ein Versager, ein Mensch. Ja, das will ich nun auch sein. Und das macht mich froh, dass es einen gibt, vor dem ich keine Angst haben muss, vor dir, Immanuel, vor dir, Christus. Ich bitte dich: Sei mit mir und mach mich froh.

II

Immanuel – Mit uns ist Gott. Das ist ein uralter Name gegen die Angst vor der Zukunft. Als sich Josef und Maria vor 2000 Jahren auf den Weg nach Bethlehem machten, da war ihre Zukunft alles andere als gewiss. Maria war schwanger und erwartete ein Kind. Und sie wussten nicht einmal, ob sie eine Herberge für die Nacht finden würden. Und bald schon, nachdem Jesus geboren war, mussten sie nach Ägypten fliehen, um das Kind vor den Häschern des Königs Herodes zu retten, der alle Knaben von Bethlehem bis zum zweiten Lebensjahr töten ließ. Jesus, kaum geboren und schon war er ein Flüchtlingskind. Was sollte aus dem werden – als Kind in einem fremden Land, mitten in einem fremden Volk mit einer fremden Sprache? Die mittelalterlichen Maler haben sich ganz lebensnah in dieses Geschick der Flüchtlingsfamilie eingefühlt. Da sieht man auf ihren Bildtafeln den alternden Josef, der mühsam in einem zugigen Stall dem neugeborenen Knaben einen Brei kocht.

Vielleicht sitzt unter uns noch der eine oder die andere, die sich an den Winter vor sechzig Jahren erinnert, damals als immer noch Hunderttausende auf der Flucht waren aus Ostpreußen, Schlesien oder dem Sudetenland. Wie war das, Weihnachten 1945, die Trecks auf den Landstraßen, die Notquartiere, die Männer in Gefangenschaft? Wer erinnert sich noch an die Mütter, die vergeblich versuchten, ihren Kindern am Straßenrand oder in einer dürftigen schnell hergerichteten Dachkammer eine warme Suppe zu kochen? Wer von ihnen wusste denn damals, was der nächste Tag bringen würde? Wie viele Lippen haben da wohl das Weihnachtswort als ein verzweifeltes Gebet geflüstert: Immanuel – Sei mit uns, Gott!

Ist dies, dass wir seither sechzig Jahre im Frieden leben durften, nicht auch ein starkes Zeichen Gottes? Hat er ihn denn nicht an uns wahr gemacht, seinen eigenen Namen Immanuel? Leben wir seither denn nicht ohne Hunger und ohne äußerliche Not? Und doch – oder vielleicht gerade deswegen – beschleicht viele in diesem Land eine unheimliche Angst. Wie die Kälte des Winters kriecht sie in uns nach oben und lähmt unser Herz und unsere Fröhlichkeit, die Angst vor einer ungewissen Zukunft. Die Angst davor, dass alle unsere Sicherheiten plötzlich wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen könnten.

Da brach im letzten Jahr eine heimtückische Krankheit in mein Leben ein, erzählt der Freund. Und er fragt: Was soll aus meiner Frau und den Kindern werden, wenn dieses Weihnachtsfest das letzte für mich sein sollte? Ein anderer quält sich mit der Sorge: Wie wird das weitergehen mit meiner Arbeit? Gehöre ich im nächsten Jahr auch zu denen, die nicht mehr gebraucht werden? Viele verzichten inzwischen aus lauter Angst vor der Zukunft auf eigene Kinder. Doch gibt es das, eine Zukunft ohne die Kinder? Sind wir in unserer Angst vor der Zukunft nicht bereits dabei, uns jede Zukunft zu verbauen?

Wenn dich die Angst vor der Zukunft quält, dann halte dich an den Namen Immanuel. Sprich ihn dir vor, wieder und wieder: Immanuel – Mit uns ist Gott. Damals warst du das, als mich meine Eltern zu dir an den Taufstein trugen. Da hast du mir versprochen: Ich bin mit dir. Und heute komme ich zu euch, Josef und Maria, in dieser stillen Christnacht. Und ich bitte euch, gebt mir etwas ab von eurem Mut und von eurer Hoffnung. Immanuel – Sei mit uns Gott und mit allen, die Angst vor ihrer Zukunft haben und mach uns froh.

III

Immanuel – Mit uns ist Gott. Das ist ein uralter Name gegen die Angst vor der eigenen Schuld. Als Jesaja dem ängstlichen König in den Weg trat, und ihn aufforderte, sich von Gott ein Zeichen zu erbitten, da kam auch die Schuld des Ahas zur Sprache: Höre doch, Haus David! Ist es euch zu wenig, Menschen zu ermüden, dass ihr auch Gott ermüdet?

Des Königs Schuld und die seiner Vorgänger bestand in einem mangelnden Gottvertrauen. In ihrer Angst setzten sie mehr auf Taktiererei und politische Bündnisse als auf den Gott, der ihr Volk einst aus der ägyptischen Sklaverei geführt hatte, der ihnen dieses Land gegeben hatte, der an jedem Morgen die Sonne aufgehen ließ, der die Früchte des Feldes und der Bäumen wachsen ließ und das Vieh der Herden vermehrte. Sie lebten und regierten in dem Glauben, man dürfe nichts sich selbst und nichts Gott überlassen, sondern müsse alles in die eigenen Hände nehmen, damit das Leben gelinge. Und gerade damit gerieten sie immer mehr in die Gefahr ihr Leben und das ihres Volkes zu verspielen.

Die Schuld von Menschen hat viele Gesichter. Aber in einem sind sich alle ähnlich. Schuld, die vor Gott nicht ausgesprochen wird, ermüdet, wird zu einem Gift, das lähmt, zu einer Last, die nicht leichter, sondern schwerer wird. Wie angstbesetzt muss ein Mensch sein, der niemanden findet, selbst Gott nicht mehr, dem er seine Schuld bekennen kann?

Wie viele Männer, die vor sechzig Jahren aus dem Krieg heimkehrten, zogen sich zurück in ein undurchdringliches Schweigen? Von wie viel Angst war und ist ihr Sterben besetzt? Wie viele Eheleute finden nicht den Mut und die Worte, um über das zu sprechen, was zwischen ihnen zerbrach?

Wenn dich die Angst vor der Schuld quält, dann halte dich an den Namen Immanuel. Sprich ihn dir vor, wieder und wieder: Immanuel – Mit uns ist Gott. Damals warst du das, als mich meine Eltern zu dir an den Taufstein trugen. Da hast du mir versprochen: Ich bin mit dir. Und heute komme ich zu dir, Christus, zu dem Kind in der Krippe. Dir kann ich ja alles sagen, was mich bedrückt, auch die Angst vor meiner eigenen Schuld. Und ich bitte dich, Immanuel – sei auch mit mir, vergib mir meine Schuld und lass mich frohen Herzens singen O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit.

Amen

Prof. Dr. Rüdiger Lux
Zur Mulde 2
04838 Zschepplin
lux@rz.uni-leipzig.de

 

 

 


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