Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

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Heiliger Abend, 24. Dezember 2005
Predigt über Jesaja 9, 1-6, verfasst von Martin Reyer (Bethlehem)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

ich will die Gelegenheit beim Schopf ergreifen! Jetzt, am Heiligen Abend in Bethlehem, da möchte ich Sie etwas fragen. Als wir Weihnachten 2004 hier beieinander waren, da haben wir doch auch vom Frieden auf Erden gesungen, von Gerechtigkeit und von der Geburt des Gottes Sohnes, der alles zum Heil wenden wird. – Wie viel Frieden, wie viel Gerechtigkeit, gar: Wie viel Heil haben wir im vergangenen Jahr erlebt? Zwei Meinungen sind möglich. Die eine: Nichts hat sich geändert. Gesungen haben wir’s zwar, letztes Weihnachten und alle Weihnachten. Aber hat man je was davon gesehen?

Andere könnten sagen: Freilich, die große Gerechtigkeit ist noch nicht gekommen. Aber geändert hat sich doch einiges im Land. Und vielleicht ist sogar ein Frieden wieder näher gerückt. –

Liebe Gemeinde, ich denke, wir müssen unsere ganze Sensibilität wach halten für diese konkrete Situation hier in Bethlehem hinter der Mauer. Wir wollen uns ja nicht einschläfern lassen in erinnerungsselige Weihnachtssentimentalität. Weihnachtshoffnung und Weihnachtswirklichkeit klaffen auch in diesem Jahr in diesem Land schrecklich auseinander. Und von beidem singen wir: Wir singen von unserer Vision, und wir singen von unserer Not. Von beidem redet auch unser Text. Und beides zusammen bringt uns zum Nachdenken.

Text., Jesaja 9,1-6…

Wir wissen von dem Verfasser, der dieses Lied geschrieben hat, ziemlich viel. Ein Mensch namens Jesaja, der in einer Zeit ungeheurer politischer Bedrohung gelebt hat, und der mit seinem Zeitgenossen mit ansehen musste, wie sein Lebensraum Stück für Stück geraubt wurde. Weite Teile Israels waren damals bereits an Ägypten gefallen. Für die Menschen des Heiligen Landes waren die Unterschiede zwischen damals im Jahr 750 v. Chr. und heute im Jahr 2005 nach Christus gar nicht so verschieden. Freilich: Damals gehörte zu dem kleinen Rest, der übrig geblieben war, Jerusalem. Und dort wurde gerade am Königshof ein Kronprinz geboren.

Jesaja hat dieses Kind zum Anlass genommen, seinen Zeitgenossen in machtvollen Worten nahe zu bringen, dass dieses Kind von Gott gesandt sei. Seine Botschaft: „Gott zeigt, wie er es mit euch meint! Er schenkt euch Zukunft, auch wenn ihr überhaupt nicht mehr hinausseht! So tut nun auch, was Gott von euch will!“ Wörter wie „Umkehr“, „Gerechtigkeit“, „Hingabe“, stehen bei Jesaja auf jeder Seite.

Wir tun gut daran, uns zu öffnen für diese Zumutung, die da Jesaja uns stellt. Unser Königskind ist in einem Stall geboren und an einem Galgen gestorben. Aber sein kurzes Leben hat genügt, ein Feuer in die Welt zu setzen, das seither rund um die Erde gewandert ist und Millionen von Menschen angefacht und verändert hat. Nicht das Feuer des Krieges, nicht das Schwert des Propheten. Sondern eben: Das Feuer der Liebe.

Wir Christen glauben, dass in jenem Lied Jesajas auf den Kronprinz letztendlich die göttliche Wahrheit zu Tage getreten ist, und die Wahrheit über die Welt und ihren Erlöser weissagt. Und in den Evangelien, die achthundert Jahre später - mit Jesaja im Herzen - von diesem anderen Kind aus Bethlehem berichten, in diesen Evangelien ist nicht nur von Gerechtigkeit und Umkehr die Rede, sondern auch von Versöhnung, von Glaube und von Liebe, und von Hoffnung.

Der Prophet Jesaja singt sein Weihnachtslied 750 Jahre zu früh und doch gültig bis heute: Gott zerbricht die Stecken der Treiber. Friedlosigkeit und Gewalt werden auf unserer Welt nicht das letzte Wort haben. Und das Kind in der Krippe trägt die herrlichen Titel von Gottes Friedensreich auf Erden. Wunderrat, Gottheld, Ewig-Vater, Friedefürst. Denn in diesem Kind ist Gott Mensch geworden. Kein neuer Herrscher, der mit Gewalt sein Reich aufbaut. Sondern: Gott, jetzt dein Bruder im Leiden. Verletzlich wie ein Mensch. Aber doch Gott!: Die schiere Ohnmacht der Liebe besiegt die Gewalt dieser Welt.

„Jeder Stiefel, der mit Getröhn dahergeht,
und jeder Mantel durch Blut geschleift,
wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.“

Das, liebe Gemeinde, ist die Wirklichkeit, mit der wir rechnen. Wir geben der Realität, die uns da draußen umgibt, keine Chance.

„Denn uns ist ein Kind geboren,
ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter.“

Sehen Sie, liebe Gemeinde, eine Welt, in der Gott Mensch geworden ist, die ist einfach anders. Die hat nun eine Würde, die sie nicht mehr verlieren kann. Die hat nun in sich eine Liebe, die auch der Tod nicht umbringen kann. Die hat nun einen Frieden, den man nicht erschießen kann. Die hat ein Vertrauen, das den Hass überdauert, eine Zuversicht, die Angst nimmt und eine Hoffnung, die das Leben erst richtig lebendig macht.

Deshalb ist Weihnachten das Fest der Freude. Gott ist uns nahe und trägt alles, was wir Menschen einander Böses antun. Nicht mehr Vergeltung! Versöhnung breitet sich aus.

Es ist ein tiefer Ernst in dieser Weihnachtsfreude. Es gibt für die Zukunft der Welt keinen anderen Weg als diesen: Diese wehrlose Liebe. Wer diesem Friedenskönig nicht nachfolgen will, wer nicht bereit ist, den gleichen Weg zu gehen wie er, der wird weiterhin seine Sicherheit sichern müssen, der wird sich wehren müssen, der wird abrechnen müssen, Grenzen setzen, auf sich selber bauen, Sicherheit und immer wieder Sicherheit. Wie lange?

Der wird irgendwie weitergehen müssen auf dem Weg der Gewalt. – Das einzige aber, das bleibt, ist die Liebe. So heißt es im 1. Korintherbrief.

Sehen Sie, liebe Gemeinde, deshalb ist die schlimme Wirklichkeit unserer Welt zu Weihnachten ganz und gar nicht von unserer Weihnachtshoffnung zu trennen. Wir singen vom Frieden mitten im Unfrieden. Wir beten um Gerechtigkeit in ungerechten Zeiten. Wir warten auf die Versöhnung. Im Kind vereinigt sich Gottes lebensschaffende Liebe mit dem Tod dieser Welt. Und in allem Schlimmen, dem wir begegnen, können wir seither, trotz allem, Gott am Werke sehen. Weil er eben alles Schlimme durch seine Gegenwart geheiligt hat. Je tiefer einer durch muss im Leben, desto näher ist er dem Gottessohn, der aus dem armen Stall zu Bethlehem kam und der am Galgen auf Golgotha endete.

Nicht mehr getrennt sind Licht und Nacht, Hoffnung und Realität, Leben und Tod. Weihnachten: Das Licht scheint in der Finsternis. Und damit ist es prinzipiell mit der Finsternis zu Ende.

Amen

Propst Martin Reyer
Erlöserkirche, Jerusalem

propst.reyer@redeemer-jerusalem.com

 

 

 

 

 


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