Göttinger Predigten im Internet
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Tag der Geburt des Herrn, 25. Dezember 2005
Predigt über 1. Johannes 3, 1-6, verfasst von Stefan Knobloch
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


„Der wahre Horizont unseres Lebens“

Ein anspruchsvoller Text ist das an diesem 1. Weihnachtsfeiertag. Ein zu anspruchsvoller? Einer, der uns mit Begriffen erschlägt, die wir nicht mehr verstehen? Gotteskindschaft („Wir heißen Kinder Gottes“), Offenbarwerden Gottes, unsere Hoffnung darauf, Sünde und Gesetzlosigkeit? Wenn diese Begriffe auf uns einprasseln, müssen sie uns nicht wie eine Fremdsprache vorkommen, deren Vokabeln uns nicht mehr geläufig sind? Und das am heutigen 1. Weihnachtsfeiertag, wo wir doch den Kokon der Alltäglichkeit für einige Stunden etwas abgestreift haben, wo wir feierlich-familiär-religiöse Stimmung in uns tragen? Der Text bleibt uns fremd oder droht uns zumindest fremd zu bleiben, fast wie eine verschlüsselte Depesche eines Geheimdienstes.

Als erster Eindruck mag dies durchaus verständlich sein. Vielleicht aber verhält es sich mit unserer Lesung etwas ähnlich wie mit unseren Weihnachtsgeschenken, die wir in diesen Tagen auspacken. Wir müssen sie gewissermaßen aus ihrer historischen Verpackung lösen. Denn es sind ja ca. 1900 Jahre, die uns von ihrem Denkhorizont trennen. Dabei dürfte uns in ihr nicht einfach alles unverständlich erscheinen. Denn irgendwie haben wir uns doch als christliche Gemeinschaft wie wohl auch als einzelne einen gewissen, wenn auch vielleicht minimalen Bezug zu der Glaubenstradition bewahrt, aus der diese Lesung entstammt. Zumindest ist es so, daß wir – und das ist schon einiges, wenn wir es recht bedenken – auch heute noch Wert darauf legen, Weihnachten zu feiern, und daß wir darauf sogar zwei Feiertage verwenden. Und dabei in aller Regel noch wissen, daß es sich dabei nicht um das Oster- oder Pfingstfest oder ein anderes kirchliches Fest handelt, sondern um das Fest der Geburt des Herrn.

Es mag uns enttäuschen, daß von dieser Geburt des Herrn in unserer Lesung, wie es den Anschein hat, keine Notiz genommen wird. Die Herrengeburt scheint nicht vorzukommen. Doch das scheint nur so. Denn die Lesung entwickelt ihre Gedanken in Wahrheit auf der Basis der Menschwerdung Gottes, auf der Basis der Menschwerdung des Gottessohnes, wie wir sagen. Gott, der Vater, habe uns seine große Liebe geschenkt. Hier bedient sich unsere Lesung einer Kurzformel, wir könnten auch sagen, einer Bekenntnisformel, die ihre Gewißheit aus der Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen und zuletzt aus der Tatsache seiner Menschwerdung bezieht. Wir dürfen dabei nie vergessen, daß wir nie ganz an das herankommen, was wir die Menschwerdung Gottes nennen. Wir kommen mit unserem Denken und mit unseren Begriffen nicht an das heran, was da geschah, als Gott Mensch wurde. Unsere Begriffe loten das nicht aus, unsere Phantasie, unser Denk- und Glaubenshorizont versagen davor. Selbst unsere Lesung erfaßt das nicht wirklich. Sie kleidet es in das Bild, daß Gott uns seine große Liebe geschenkt habe.

Und sie deutet eine wichtige Folgerung an: Im Licht der Menschwerdung des Gottessohnes sollen und können auch wir uns als „Gotteskinder“ verstehen. In ihrem Licht können wir wahrnehmen, was wir tatsächlich sind: Gotteskinder. Der springende Punkt hierbei ist, daß in der Lesung nicht gesagt sein wollte, wir seien durch die Geburt Jesu Kinder Gottes geworden, sondern daß gesagt sein wollte, daß wir aufgrund der immer bestehenden Nähe Gottes zu uns, die in seiner Menschwerdung lediglich ihren unüberbietbaren Ausdruck fand, immer schon Kinder Gottes sind. Das ging den ersten Christen an der Geburt Jesu beglückend auf.

Das müssen wir auch für uns aufbrechen. Der Begriff „Kinder Gottes“ mag uns einigermaßen stumpf vorkommen, oder auch zu glatt. An ihm reibt sich nichts. Er erzeugt keinen Reibungswiderstand. Er scheint all unsere oft so bedrückenden und verheerenden Lebenserfahrungen einfach auszublenden, zu überblenden. Er scheint der Realität nicht gerecht zu werden. Ja, er kann negative Assoziationen wachrufen. Er mache uns abhängig und halte uns bewußt klein. Er sei nichts für selbstbewußte Menschen in den besten Jahren.

Wenn auch nur etwas von dieser Empfindung aus uns spräche, würde das zeigen, wie weit wir vom eigentlichen Verständnis des Begriffes „Kinder Gottes“ entfernt sind. Um das mit ihm Gemeinte zu erschließen, könnten wir auf den Begriff „Kind Gottes“ sogar verzichten. Denn er ist ja seinerseits auch nur ein Bild für eine Wirklichkeit, die wir, ohne an ihr Abstriche zu machen, auch anders beschreiben können.

Die Formel „Kinder Gottes“ will sagen und kann uns darauf aufmerksam machen: Wir kommen unserem Leben nicht hinreichend auf die Spur, wir tappen mit ihm zu großen Teilen im Dunkel, solange wir unser Leben, unsere Existenz allein in uns, in unseren eigenen Sicherungs- und Vorsorgemaßnahmen verankert sehen. Solange wir es als die letzte und alleintragende Aussage über unser Leben ansehen, daß wir autark und autonom sind und in einem wörtlichen Sinn allein Regie in unserem Leben führen. So kann einer denken, auch wenn er weiß, daß er von Eltern abstammt, die ihm das Leben geschenkt haben, von denen er abhängig war und die ihn geprägt haben wie ihn auch die späteren Einflüsse des sozialen Lebens geprägt haben. Gerade angesichts dieser erfahrenen Abhängigkeiten kann der Wunsch aufkommen, in einer Absetzung davon einem Lebensentwurf nachzuträumen, bei dem man nach Möglichkeit alle Lebensfäden selber in der Hand hat.

So ein Lebensentwurf wäre bei allen sozialen Bezügen, über die auch er verfügte, letztlich ein auf sich fixierter, in sich gekrümmter Lebensentwurf, der sich überanstrengt und an seiner Überanstrengung zugrunde zu gehen droht. So ein Mensch tappt im Dunkel. Er hätte sich noch nicht vorgewagt in die Tiefendimensionen seiner Existenz, aus der andere Signale als die Signale der Abschottung und Selbstverstrickung kommen. Aus der Tiefe jedes Menschen sind Signale vernehmbar, die seine Verwiesenheit auf mehr, auf etwas über ihn hinaus, worüber er nicht mehr verfügt, anzeigen. In bestimmten Situationen des Lebens, in Stunden des unerwarteten und unverdienten Glücks ebenso wie der Bestürzung darüber, wie radikal das Leben einen in Frage stellen kann, in solchen Situationen öffnet es sich auf einen offenen Horizont hin, der sich ungefragt als der entscheidende Horizont unseres Lebens erweist.

Wir können das hier nur andeuten. Was ich hier mit offenem, unverfügbarem Horizont bezeichne, das erschließt sich den Gläubigen im Raum der christlichen Tradition als Gott, als naher, auf unser Leben bezogener Gott. Das ist dann aber nicht etwas, was man lediglich wissen bzw. worum man wissen kann, so wie man wissen kann, daß es zum Beispiel die Fidschi-Inseln gibt, ohne je mit ihnen zu tun zu bekommen. So verhält es sich mit Gott als dem Horizont unseres Lebens nicht. Unser Glaube an Gott will die exsistentielle Pointe unseres Lebens sein. Unsere Lesung bringt diese Pointe in dem Satz zum Ausdruck, daß Gott uns seine große Liebe geschenkt hat. Über ihr darf unser Leben nicht unverändert weitergehen, , als sei an dieser Liebe nichts. Sie soll uns in ihrer lebensverändernden und lebensbefreienden Dynamik erfassen. Sie soll unser Leben bestimmen.

Und exakt hier dürfte für uns das Problem liegen. Obwohl wir uns als Christen verstehen – sonst würden wir ja nicht Weihnachten feiern -, kann es sein, daß wir in dem Lebenshorizont verbleiben, den unsere Lesung die „Welt“ nennt. Die Welt, so hieß es vorhin, verstehe die Gläubigen nicht, weil sie Gott nicht verstehe und seineLiebe nicht erkannt habe. Das kann nun fatalerweise auch unsere Lage als Christen beschreiben, daß wir als „Welt“ leben, und nicht bloß „in der Welt“ leben, in der ja auch Jesus gelebt hat. Wir leben gewissermaßen als „Welt“, wenn wir von Gottes Nähe und Zuwendung im Grunde nichts halten. Seiner Zuwendung die Bedeutung der Fidschi-Inseln beimessen. Wir hätten dann, wieder mit den Worten der Lesung, „keine Hoffnung“. Ja, wir lebten dann nach dem Gesetz der „Sünde“, das heißt, in der Verweigerung der Annahme der Nähe Gottes zu unserem, zu meinem Leben.

Anteile dessen haben wir ohne Frage in uns. Und als solche feiern wir Weihnachten als das unglaubliche Zugehen Gottes auf uns, in seiner Menschwerdung. Weihnachten sollte in uns manches lockern und lösen, so daß wir den Blick auf den größeren und wahren Horizont unseres Lebens freibekommen. Er sollte unser Leben prägen. Denn es ist so, wie die Lesung gesagt hat: Gott hat uns seine große Liebe geschenkt. Das ist und bleibt wahr. Diese Wahrheit müssen wir zu existentiellen Pointe unseres Lebens machen. Dann feiern wir Weihnachten gut und richtig.

Prof. Dr. Stefan Knobloch
dr.stefan.knobloch@t-online.de


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