Göttinger Predigten im Internet
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Tag der Geburt des Herrn, 25. Dezember 2005
Predigt über 1. Johannes 3, 1-6, verfasst von Hans-Joachim Schliep
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


"1Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heissen sollen - und wir sind es auch! Darum kennt uns die Welt nicht; denn sie kennt ihn nicht. 2Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. 3Und ein jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich, wie auch jener rein ist. 4Wer Sünde tut, der tut auch Unrecht, und die Sünde ist das Unrecht. 5Und ihr wißt, dass er erschienen ist, damit er die Sünden wegnehme, und in ihm ist keine Sünde. 6Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt."

Was gibt es denn nun, am 1. Weihnachtstag, noch zu sehen, liebe Gemeinde? Der Stern ist weitergewandert. Die Engel haben sich wieder unsichtbar gemacht. Die Hirten sind zurückgekehrt zu ihren Schafen. Die drei Weisen lassen sich von ihren Kamelen in den fernen Osten tragen. Und Maria, Josef und das Kind? In großer Eile haben sie sich mit ihren wenigen Habseligkeiten auf den Weg nach Westen gemacht. Nur durch die schnelle Flucht, heißt es, können sie das Kind bewahren vor Herodes‘ Soldaten. Die bringen, ohne mit der Wimper zu zucken, jeden neugeborenen Jungen kurzerhand um. Herodes, selbst nur König von Kaisers Gnaden, duldet keinen König neben sich. Der Stall von Bethlehem war für wenige Nachtstunden erfüllt von Gottesglanz. Wer jetzt hineinschaut, sieht nur noch Alltagsstaub.

Gibt es also schon jetzt, am Weihnachtsmorgen, nichts, gar nichts mehr zu sehen? Nun, das kommt darauf an, ob du sehen willst, wirklich sehen. Ob du sehen willst, was sich deinen Augen entzieht, deinem Herzen sich aber umso offener, für dein Leben schlechthin entscheidend darbietet: die Liebe, die zwischen Kindsgeschrei und Engelsgesang, zwischen Stallgeruch und Gebetsstille steht als ein Licht in der Nacht: Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heissen sollen - und wir sind es auch!

Um zu verstehen, was dieses Wort bedeutet, welches herrliche Licht da leuchtet, müssen wir zurückgehen auf die Anfänge, die Ursprünge. In alten Schöpfungsmythen entsteht die Welt aus den Kämpfen der Götter, die sich gegenseitig abschlachten. Der Mensch ist das Ergebnis gewalttätiger Zeugungsorgien und bluttriefender Götterausschweifungen. Dem Menschen turmhoch überlegen, sind sie ihm doch charakterlich zum Verwechseln ähnlich: Haß und Neid, Gier und List - nichts Menschliches ist den Göttern fremd. Am Menschen selbst aber haben sie kein echtes Interesse, Zuneigung und Liebe bleiben außen vor. Die Götter, stets mit sich selbst beschäftigt und Arbeit wie die Pest hassend, brauchen den Menschen nur als dienstbaren Knecht, als willigen Vollstrecker ihrer eigenen Pläne, als Arbeitstier zum eigenen Nutzen. Der Mensch: ein Göttersklave.

In den Schöpfungsmythen der Bibel dagegen, Zeugnissen gründlicher Aufklärung, wird die Welt durchs Wort erschaffen, sind die Gestirne keine furchterregenden Götter, sondern Leuchten für den Tag und die Nacht, erhält alles Lebendige seinen Lebensraum. Keineswegs allein um des Menschen willen, aber auch auf ihn hin ist die Welt geschaffen. Er ist da - nicht um einen untergeordneten, beliebigen Zweck zu erfüllen, sondern als partnerschaftliches Gegenüber zu Gott und zur Partnerschaft füreinander. Der Mensch - als Mann und als Frau - ein Bild Gottes. Es ist viel dazwischen gekommen, es ist unendlich viel schief gelaufen in dieser Beziehung. Aber niemals wird in Zweifel gezogen, dass der Mensch Bild Gottes ist. Du bist immer noch ein Geschöpf, aber du bist Sein Geschöpf. Du bist immer noch ein Kind, aber als Kind bist du ein König. Du bist es erst recht, du bist es unverlierbar, seit dieses Kind im Stall von Bethlehem geboren wurde.

Kann das denn sein, wo doch die Umstände so würdelos waren? Wird so ein Königskind geboren - inmitten solcher Wohnungsnot, in einem Futtertrog, mit wildfremden Leuten als ersten Gratulanten? Waren Engelsstimmen und Gottesglanz doch nur schöner Schein, wenn nur Alltagsstaub und Stallgeruch bleiben, wenn nur eine große Leere gähnt, wo doch wenigstens ein kleiner Erinnerungsstein zu sehen sein müsste? Ich erzähle dir dazu ein altes Märchen: „Ein steinreicher König ist unsterblich verliebt in ein bettelarmes Mädchen. Er überhäuft sie mit teuren Geschenken und prächtigen Kleidern. Doch das Bettelmädchen bleibt, was sie ist, trotz Brokatkleid und Goldschmuck. Endlich begreift der König: Er muss zum Bettler werden, wenn beide zusammenkommen wollen. Er muss sich auf Augenhöhe zu ihr begeben. Er muss ein einfaches Kleid, wie sie es trägt, anziehen. Erst dann kann die Hochzeit gefeiert werden.“

„My fair Lady“ oder „Pretty Woman“? Ich denke an Jesus, das Kind in der Krippe. In ihm nimmt Gott die schwierigsten Umstände auf sich. In ihm tritt Gott auf die Seite der Bettler und Benachteiligten. In ihm begegnet uns Gott auf Augenhöhe. So lässt der Blick auf dieses Kind sie wieder wach, hellwach werden: deine Erinnerung daran, selbst ein Gotteskind zu sein. Da mag der Stall von Bethlehem leer sein. Jetzt sollst du, jetzt soll man an dir erkennen: da ist ein Gotteskind, ein König nicht kraft eigenen Vermögens, aber geadelt durch Gottes Gnade, bekrönt mit Glaube, Hoffnung und Liebe.

Aber sind wir es wirklich, wenn es doch heißt: Darum kennt uns die Welt nicht; denn sie kennt IHN nicht? Ein schwerer Satz typisch johanneischer Theologie. Er könnte bedeuten: Nur wer Gott kennt oder wenigstens etwas von einem unverfügbaren Grund des Lebens erahnt, wen der Stallgeruch des Lebens nicht davon abhält, gelegentlich auf Engelsstimmen zu achten, wem wie den rauen Hirten das Beten eher fern zu liegen scheint, aber doch gelegentlich der Sinn nach Anbetung steht, dem ist die Würde nicht fremd, die von Gott aus- und auf den Menschen übergeht. Die Würde eines Menschen, der gesegnet wird! Die glücklichen Augen eines Kindes, das an der Hand der Eltern die Welt erkundet!

Das heißt aber auch: Mein Menschsein steht und fällt mit Gott! Wo Gott draußen bleiben soll, verwildert der Garten des Menschlichen. Der Mensch, der sich selbst genug ist, der nur sich selbst verpflichtet weiß, gibt vor, ganz und gar sein eigenes Geschöpf zu sein, sein eigener „Herr“. Er hat eine biologische Herkunft, aber kein seelisches Zuhause. Er leugnet dieses ur-menschliche Gefühl schlechthinnigen Angewiesenseins, das die Gotteskindschaft schenkt und die Voraussetzung für Heimat und Geborgenheit ist. Wie schnell kann daraus ein Über-Mensch werden?! Und wie schnell wird aus dem Über-Menschen ein Un-Mensch?!

Viel wichtiger noch als von anderen gekannt zu werden, ist jetzt, dass du dich selbst kennst: Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wie menschlich hier vom Menschen, von dir und mir gesprochen wird, wie warmherzig, wie wohltuend! Meine Lieben - wann hört man schon ein solches Wort?! Da darf sich doch auch der angesprochen fühlen, der sich selbst nicht leiden und lieben kann! Da wirst du wieder Kind, ohne klein zu sein oder dich klein machen zu müssen. Dieses Kindsein erhebt dich zu einer ungeahnten Würde und Freiheit. Denn es zeigt dir: Du bist angenommen. Da hat jemand Vertrauen zu dir. Du musst nicht die ganze Mühe des Lebens, die ganze Last der Welt tragen; das eben kann und muss ein Kind nicht. Aber die ganze Welt steht dir offen, und du kannst dich in ihr entfalten; das eben macht das Kindsein aus. Im Glauben gewinnen auch Erwachsene diese Fähigkeit wieder.

Mit gutem Grund hat man den Menschen das „nicht festgestellte Wesen“ genannt, offen für die Welt, offen dafür, das Leben zu gestalten. Es gibt Bindungen und Bedingungen, Prägungen und Abhängigkeiten, die unhintergehbar sind. „Nichts ist unmöglich!“ ist ein wertloser Werbespot. Aber es ist doch gestaltbar. Es ist keineswegs alles in deine Hand gegeben. Aber du kannst täglich neu das Leben als Wunder erleben. Du kannst staunen und anbeten. Du kannst das Kleine achten und schützen. Vor allem kannst du dem, was wachsen will, Zeit zum Reifen lassen. Und das, was wachsen und werden will, bist auch du selbst. Denn auch um deinetwillen ist der „Messias“, der „Retter“ ein Kind geworden.

Ja, liebe Gemeinde, der Mensch: ein Werdewesen. Immer steht noch etwas aus. Auf jeder Stufe des Lebens, bis zum letzten Atemzug. Wir sind immer schon. Aber wir sind nie fertig, nie am Ende. Darum werden wir erst. Ähnliches sagt Martin Luther vom Glauben: „Der Glaube ist kein Sein, sondern ein Werden.“ Der Verfasser des 1. Johannesbriefs ist noch radikaler: Wir werden, was wir schon sind. Allerdings sind wir dabei nicht auf uns gestellt. Wir müssen auch, was uns ohnehin heillos überforderte, keine Ganzheit oder gar Vollkommenheit herstellen. Es ist etwas völlig anderes als die Selbstdarstellung, zu der wir im täglichen Konkurrenzkampf gezwungen sind. Wenn es offenbar wird, werden wir IHM gleich sein; denn wir werden IHN sehen, wie ER ist. Im Glanz Gottes erst werden wir ganz und heil. Wenn wir Gott schauen! Und mit Gott die Liebe, unverhüllt, unverborgen, alles umfassend, alles zu einem guten Ende bringend!

Dieser Blick ganz weit voraus lässt uns schon jetzt über den Alltagsstaub hinaus blicken, ohne den Stallgeruch des Lebens kosmetisch zu überdecken. Wie all die Sterne, mit denen wir unser Haus weihnachtlich schmücken, uns den Weg zu Jesus Christus weisen: wie wir durch ihn Gott als Ziel unseres Lebens erkennen. Gott als Ziel des Lebens zu erkennen, das heißt: Du kennst den Menschen und gibst ihn doch nicht auf. Denn jeder Mensch ist mehr als die Summe seiner Taten und Untaten - du auch. Deshalb kannst du scheitern, ohne zu verzweifeln. Du weißt auch, du bist ein Engel mit nur einem Flügel - und suchst dir Engel mit dem Flügel auf der anderen Seite. Du klammerst dich nicht ans Vergangene, sondern strebst dem Kommenden entgegen, gibst dem Werdenden und Wachsenden Raum. Deine Lebenskraft speist sich aus der Hoffnung, dass selbst im Tod das Leben noch kein Ende findet.

Das mag dir zuviel sein. Dann fange vorsichtiger an. Suche das Morgen, indem du über dich selbst hinausfragst. Wie Günter Kunert in seinem Gedicht: „Ich bin ein Sucher / eines Weges, / zu allem, was mehr ist / als / Stoffwechsel, / Blutkreislauf, / Nahrungsaufnahme, / Zellenzerfall. - Ich bin ein Sucher / eines Weges, / der breiter ist / als ich. / Nicht zu schmal, / kein Ein-Mann-Weg. / Aber auch keine / staubige, tausendmal / überlaufene Bahn. - Ich bin ein Sucher / eines Weges, / Sucher eines Weges / für mehr / als mich.“

Muss aber nun doch noch von „Reinigung“, ja von „Sünde“ gesprochen werden? Müssen denn die weltfremden Spielverderber von der Kirche solche Sätze ständig wiederholen? Und ein jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich, wie auch jener rein ist. Wer Sünde tut, der tut auch Unrecht, und die Sünde ist das Unrecht. Und ihr wisst, dass er erschienen ist, damit er die Sünden wegnehme, und in ihm ist keine Sünde. Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt. Ja, auch ich würde solchen Sätzen lieber ausweichen. Aber könnte ich denn ernsthaft die tiefe Kluft in mir zwischen Gotteskind und Teufelsbrut übersehen? Könnte ich denn den Widerspruch zwischen dem Streben nach dem Guten und, hinter seinem Rücken, der Wiederkehr des Bösen auflösen? Könnte ich all die Zerrissenheiten, all die Lieb- und Würdelosigkeiten, all die Treuebrüche, all die Gottesferne denn leugnen, die mir täglich begegnen, nicht zuletzt in mir selbst? Wer mit beiden Beinen auf der Erde steht, wer nur halbwegs bei Verstand ist, wird den Kain um uns und in uns nicht leugnen. Und wer ihn versteckt und verschweigt, bestätigt und befestigt gerade dadurch seine Existenz. Ja, die Sünde gewinnt an Macht, ja, die Schuld wächst, je mehr sie geleugnet wird. Das Erschreckende, Abgründige ist: Wir wissen, was wir tun, und tun es trotzdem. Warum nur? Und wer unterbricht dieses Spiel?

Schon Psalm 104, das große Schöpfungslied, weiß, wie sehr der Mensch den Frieden, das Recht und das Leben selbst bedroht. Deshalb können wir Menschen so, wie wir sind, nicht bleiben. Aber der Weg zurück in die Unschuld ist versperrt. Auch in „träumender Unschuld“ (Paul Tillich) verlören wir, was unser Menschsein ausmacht. So müssen wir vorwärts, vorwärts in ein neues Sein. Wir finden es in dem, dessen Geburt wir Weihnachten feiern. In ihm finden wir Gottes Liebe und darin das Bild befreiten Menschseins. In ihm, hinter dessen schäbiger Krippe doch ein himmlischer Glanz aufleuchtet, gibt sich die Gestalt des Menschen unverfälscht und rein zu erkennen. In ihm darfst du dich sehen, wie Gott dich sieht, auch als das Kind, das du - in der Welt der Erwachsenen: der Geltung und des Geldes, der Ansprüche und Anklagen - vielleicht niemals sein durftest.

Jesus Christus unterbricht das Spiel. Er lässt dich erkennen, wie weit weg du jetzt noch bist von dem, was du einst sein wirst. Und wie nahe dran, weil er - als Kind in der Krippe und Mann am Kreuz – dir so nahe ist. Wie er es in seiner „Bergpredigt“, der Rede aller Reden, verkündet hat: Die einfach nur mit leeren Händen dastehen, denen ist Gott nahe. Im Weihnachtsfest erfahren wir die Freiheit davon, unser Menschsein erst noch er-finden zu müssen, weil Gott es uns in Jesus Christus finden lässt. Der Garten des Menschlichen, in dem unsere Gotteskindschaft wieder erweckt wird, bliebe uns auf ewig verschlossen, wäre er nicht der Gärtner und hätte er nicht den Schlüssel dazu: „Heut schließt er wieder auf die Tür / zum schönen Paradeis; / der Cherub steht nicht mehr dafür, / Gott sei Lob, Ehr und Preis, / Gott sei Lob, Ehr und Preis.“ (EG 27,6)

Nun ist aber, liebe Gemeinde, ganz unverkennbar, wie sehr unsere „moderne“ Gesellschaft, aber auch die Kirche, wenn sie im Laufe ihrer Geschichte den Stallgeruch dem Engelsgesang vorzog, das Bild dieses Jesus Christus übermalt hat. Bis zur Unkenntlichkeit! Die wahre Weihnacht ist zur Ware Weihnacht geworden! Wie kann unter diesen Umständen Weihnachten - wenigstens Schritt für Schritt - wieder wahr werden? Vielleicht hilft dabei folgende Geschichte:

„In einem kleinen Ort im dänischen Jütland gibt es einen seltsamen Brauch: Wenn die Kirchgänger ihre kleine Kapelle betreten, verneigen sie sich zur linken Seite hin. Obwohl dort überhaupt nichts zu sehen ist, was man grüßen könnte. ‚Warum grüßt ihr‘, fragt ein Fremder, ‚eine weiße Wand?‘ Einige Ältere kennen noch den Grund: Auf der linken Kapellenseite war früher ein Bild Marias mit dem Kind. Ihnen hatte einst der Gruß beim Eintreten gegolten. Im Laufe der Jahrhunderte war das Bild verblasst. Später, als das Geld zur Restauration fehlte, hatte man seine letzten Konturen kurzerhand weiß übertüncht. Das Bild ist weg. Aber der Brauch, sich vor Maria und dem Jesus-Kind zu verneigen, ist geblieben.“

Also kann es, wo scheinbar nichts mehr zu erblicken ist, viel zu erkennen geben.
Amen.

Hans Joachim Schliep
Pastor am Ev. Kirchenzentrum Kronsberg
Sticksfeld 6, 30539 Hannover
Tel. + Fax: 0511 - 52 75 99
e-Mail: Hans-Joachim.Schliep@evlka.de



 


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