Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

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Heiliges Christfest II, 26. Dezember 2005
Predigt über Matthäus 10,32-42, verfasst von Kirsten Bøggild (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Gibt es denn überhaupt etwas, was vor unseren Eltern und vor unseren Kindern kommt? Oder vor dem Menschen, den du liebst? Ist Vorliebe für unsere fleischliche Familie und unsere ausgewählten Freunde und diejenigen, die wir mit erotischer Leidenschaft lieben, nicht das Wichtigste in unserem Leben? Gibt es etwas, das mehr entscheidend wäre für den Sinn unseres Lebens, als die zu lieben, die wir von selbst lieben? Kann wirklich ein Konflikt entstehen zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zu einem bestimmten Menschen? Und würden wir gegebenenfalls nicht immer die Menschen, die wir sehen, mehr lieben als den Gott, den wir nicht sehen? – Nein, sagt Jesus, es gibt etwas Absolutes, etwas Höheres, das du nicht verleugnen kannst, ohne dich selbst zu verlieren. Es gibt etwas, was dich in einer gegebenen Situtation zwingt, dich zu entscheiden, zu wählen. Wenn deine Vorliebe für bestimmte Menschen unvereinbar ist mit der Liebe zu Gott oder zu Christus, dann ist die Liebe zu Gott die Liebe, die von dir verlangt wird. Das klingt nicht gut in unseren Ohren. Es erinnert uns an einen grimmigen und unmenschlichen Fanatismus, von dem wir uns gewöhnlich distanzieren. Was für eine Wahrheit mag in der Forderung stecken, niemals Gott oder Christus zu verleugnen, was immer der Preis sein mag? Warum sollen wir alles riskieren: Unfrieden, aufgelöste Familien und Freundschaften, sociale Sicherheit und alltägliches Glück, ja, wäre es das Leben selbst, um etwas zu verteidigen, was höher ist, ja,was das Höchste ist, das es gibt? – Die Worte im Matthäusevangelium sind einer konkreten geschichtlichen Situation entsprungen, den gewaltigen Konflikten und Verfolgungen, die die ersten Jahre der Geschichte des Christentums prägten. Aber die Frage, ob es etwas Absolutes und Unumgängliches gibt, das wir nicht verleugnen können, ohne uns selbst zu verleugnen, ist auch eine Frage an uns und unser gewöhnliches Leben so viele Jahre nach den ersten Christen und ihrer Not. Der zweite Weihnachtstag heißt seit alters der Tag des Heiligen Stephanus. Der heilige Stephanus war der erste christliche Märtyrer. Mitten in der schönen Weihnachtszeit reden die kirchlichen Texte vom christlichen Martyrium. Sie erinnern uns daran, dass Glaube an Christus keine gleichgültige Nebensache ist, mit der wir machen könnten, was wir wollen, sondern dass er der Ernst des Lebens ist. Ein Ernst, der uns an sich bindet, so dass wir ihm nicht entkommen können. Und versuchen wir es dennoch, entkommen wir nicht dem Ernst des Lebens, sondern unserer eigenen Antwort und damit unserem eigenen Leben.

Die Meisten von uns fragen sich gewiss selbst, was das für ein Ernst ist, der so extreme Wahlsituationen hervorbringen kann? Dilemmata, aus denen uns zu retten uns mehr als schwer fallen kann? In unserem friedlichen Leben mit gesetzlicher Religionsfreiheit und Idealen von Religionsgleichheit kann es schwierig sein, sich vorzustellen, was passieren könnte, das so ernsten Charakters wäre wie damals, als das Christentum eine verbotene und verfolgte Religion war. Es kostet uns ja rein gar nichts – abgesehen von dem bisschen Kirchensteuer –, wenn wir uns zum christlichen Glauben bekennen. Und wir genießen die herrliche Freiheit, viele Kirchen besuchen und wieder zu verlassen zu können, die das ganze Land in so reicher Zahl zu bieten hat, und zwar ganz wie wir selbst wollen und ohne jegliche Kontrolle dessen, was wir meinen und denken und warum wir kommen und gehen. Es gibt keine Gesinnungskontrolle, und niemand fragt nach Taufschein und Mitgliedsausweise, jedenfalls noch nicht! Kann man da überhaupt das Wort christlicher Märtyrer in unserer Zeit hier in Dänemark gebrauchen? Nein, nicht in dem alten schweren Sinne. Aber vielleicht in einem innerlichen Sinn, den es immer geben wird – auch wenn die Freiheit, sich zum Christentum zu bekennen, durch Gesetz und durch den Schutz der Mehrheit gewährleistet ist. Denn der Inhalt im christlichen Glauben ist die Forderung der Nächstenliebe und ein Leben im Geist der Barmherzigkeit, die keine Grenzen kennt. Jeder beliebige Mensch ist dein Nächster. Nicht nur deine Familie und deine Landsleute. Auch alle möglichen Anderen, auch die mit anderen Religionen, auch die außerhalb der Landesgrenzen, die zufälligerweise die unsrigen sind. Denn es gibt keine Grenzen für die Nächstenliebe, das ist ja gerade das Provozierende am Christentum. Aber es ist eine Provokation, über die wir uns ganz und gar nicht einig sind, weder innerhalb der Kirche noch außerhalb. Wir sind uns ganz und gar nicht darüber einig, wer unser Nächster ist. Oder darüber, was es bedeutet, im Geist der Barmherzigkeit zu leben. Wenn es zu der Frage nach dem Inhalt des Glaubens kommt, brechen die Uneinigkeiten offen auf. Und das sind Uneinigkeiten, die ganze Familien und Freundschaften zerstören können, weil es Streitigkeiten sind, die enthüllen, wer wir sind. Es hat oft gar nicht den Namen des Glaubens oder Bekenntnisses, sondern alle möglichen anderen Namen. Jedoch ist es ein Konflikt zwischen Nächstentliebe und Selbstgenügsamkeit, der uns alle berührt und zu dem wir alle Stellung beziehen, ganz gleich ob wir uns darüber im Klaren sind oder nicht.

Ich erinnere mich an die Weihnachtstafeln meiner Kindheit, bei denen mehrere Generationen und Onkel und Tanten um den Tisch versammelt waren mit dem guten traditionellen Weihnachtsmann, wie da die Stimmung plötzlich umschlagen konnte. Einige Worte meines Onkels zu meinem Vater machten der gemütlichen Weihnachtsstimmung eine jähes Ende. Sie hatten verschiedene politische Anschauungen, und sie befanden sich auch auf verschiedenen Stufen der sozialen und wirtschaftlichen Stufenleiter. Jetzt hackten sie aufeinander los. Die Unterschiede ließen sich nicht mehr unterdrücken. Das verpflanzte sich auf die Anderen am Tisch, auf die Erwachsenen und auf die Kinder. In den Jahren nach 1968 erlebte ich das, und dann wieder in den 80‘ern; dann aber in anderen Familien und an anderen reich gedeckten Weihnachtstafeln: Diskussionen über politische Haltungen konnten jedes heitere Gespräch beenden. Die Stimmung glitt von Streit über in eisige Kälte und von Verachtung in Verlegenheit und Schweigen. Die Uneinigkeit war offengelegt. War das verkehrt? Hätte man seine Meinungen für sich behalten sollen? War das schade für die gute Weihnachtsstimmung? Und für die Mutter des Hauses, die viele Stunden darauf verwandt hatte, die Berge von Leckereien hervorzuzaubern, die uns alle froh machen sollten? Jetzt war das alles umsonst gewesen! – Aber nein, auf gewisse Weise war es nicht verkehrt gewesen. Seinen Nächsten zu lieben ist nicht dasselbe wie in allem mit ihm einig zu sein. Es ist nicht dasselbe wie seine Meinungen und seine Handlungsweise zu lieben, wenn du sie erschütternd verkehrt findest. Deinen Nächsten zu lieben kann in der Situation bedeuten, seine Meinungen und Taten zu hassen und ihnen direkt zu widersprechen. Ihre innere Bosheit und ihren Mangel an Barmherzigkeit zu enthüllen, hervorzuheben, was gut und was eben nicht gut ist. Deinen Nächsten zu lieben ist nicht dasselbe wie ihm nach dem Munde zu reden um des lieben Friedens willen, sondern dass man zu sagen wagt, was man meint. Das bedeutet noch immer, dass man ihn liebt. Die Wahrheit zu sagen wagen um seinetwillen. Nicht um deinetwillen, sondern um seinetwillen. Und um der Wahrheit willen. Es sollte so sein, dass man offen und ohne Furcht vor Feindschaft und Trennung reden kann. – Dass das ganz und gar nicht immer so ist, steht auf einem anderen Blatt.

Selbstverständlich streift uns der Gedanke, ob man nicht lieber schweigen sollte. Entweder um seiner selbst willen oder um des Anderen willen. Aber um seiner selbst willen – das wäre ja aus Feigheit. Wenn es um des Anderen willen geschieht, hat man zu unterscheiden, ob man schweigen sollte, weil es lieblos wäre zu reden, oder ob man schweigen will, weil man zu weichlich ist, ihn zu kritisieren, wie erforderlich die Kritik auch sein mag. – Auch in unserer Zeit gibt es sicherlich Diskussionen über die reich gedeckten Weihnachtstafeln hin. Sie mögen vielleicht nicht so direkt politisch sein wie die, die ich seinerzeit erlebte. Vielleicht betreffen sie auch eher persönliche Dinge. Oder religiöse Fragen, wie sie in den letzten Jahren hervorgetreten sind. Aber gemeinsam für alle Uneinigkeit ist, dass man für das einzustehen hat, was man als das Gute ansieht. Und dass man die Konflikte und Probleme zu ertragen hat, die das mit sich bringt. Wir dürfen nicht das Recht des Guten unterdrücken, um Leiden und Unruhe zu vermeiden. Wenn wir es nicht wagen, die Sache des Guten zu vertreten, wird das Böse Macht bekommen, und Leiden und Schmerz werden schlimmer. Das haben wir in der Weltgeschichte so oft erlebt. Wenn alle in den 30’ern und 40’ern gegen die Judenverfolgungen protestiert hätten, wären sie dann zu der so umfassenden Katastrophe geworden? Und so hat jede Zeit ihr Böses, das nach der Macht greift, wenn niemand Einspruch zu erheben wagt. Wie die offenherzige Rede ihren Preis in Form von Unfrieden fordert, so hat das Schweigen seinen Preis in Form von Versagen. Aus Mitschuld am Bösen, das groß und allmächtig wird. Zu reden oder zu schweigen – oft ist das eine schmerzhafte Wahl, die wir jeder für sich zu treffen haben. Martyrium ist bei uns nicht mit großer Lebensgefahr verbunden, wohl aber zieht es Unfrieden und gebrochene Freundschaften nach sich. Vielleicht verlorene Jobs und andere verlorene Zukunfstsmöglichkeiten. Das Dasein ist kein neutraler Raum, in dem wir uns fernhalten können von dem, was geschieht. Wir müssen uns zu dem Guten bekennen oder dem Bösen freies Spiel gewähren. Manchmal können wir vielleicht nicht zwischen dem Einen und dem Anderen unterscheiden, aber wir haben die Pflicht, es zu versuchen. „Denn wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“ – Das ist ein Paradox, und doch ist es Wahrheit. Das Leben, das zu leben wir bestimmt sind, ist nicht ein Leben für uns selbst und um unseretwillen. Ein Leben, wo wir von dem schweigen, was böse ist, um unsere eigene Haut zu retten und um in Frieden leben zu können. Der Märtyrer ist ein Mensch, der das Leben zurückgibt, dass er für nichts bekommen hat. Und er tut es nur, indem er sich dem hingibt, was Gott verlangt, Liebe zu deinem Nächsten. Das heißt, das Leben und das Glück des Nächsten ist die Aufgabe deines Lebens, auch wenn es dich dieses Leben kostet in Gestalt aller möglichen Dinge, weil du der Macht widersprichst. – Aber es ist und bleibt nur schwer verständlich, dass dein Leben nicht dazu bestimmt ist, um deiner selbst willen gelebt zu werden, und dass die Anderen nicht dazu dasind, die Erfüllung deines Lebens und deiner Wünsche zu sein. Warum werden wir in die Welt gesetzt, wenn nicht darum, dass wir so viel persönliches Glück erreichen wie möglich? Ist das nicht ein ganz natürlicher Gedanke? Nein, sagt Christus, wir werden in die Welt gesetzt, um uns dem Leben hinzugeben, das Gott geschaffen und bestimmt hat, und das ist das gemeinsame Leben, das Leben der Anderen. Deshalb: wer dieses Leben mehr liebt als sich selbst, verliert nicht sich selbst. Stattdessen gewinnt er dieses Leben und dadurch das Leben, das Gott ihm von Anfang an gegeben hat.

Es ist eine Torheit der Welt, die immer am meisten gewünscht hat, ihr eigenes Glück auf Kosten Anderer zu fördern. Aber es ist eine Weisheit tieferer Art für den, der danach fragt, was Gott mit meinem Leben gewollt hat – über ein Dasein in Geborgenheit und Überfluss und in selbstgenügsamem Genuss von der Geburt bis zum Tod hinaus.

Bemerkenswerterweise kann diese liebe Weihnachtszeit manchen Menschen wunderlich leer vorkommen. Unter der Oberfläche all des Weihnachtsschmuckes und des Festessens und dessen, was sonst noch so Sitte ist. Hat man vielleicht vergessen, was Weihnachten eigentlich bedeutet? Dass der Wille Gottes erkennbar wurde auf Erden, und dass wir nicht darüber im Zweifel sein können, was er will? Wenn wir uns das klar machen würden, wie kann man da das Dasein als leer empfinden? Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, verlier dein Leben für den Willen Gottes – und es wird lauter Fülde und Seligkeit herrschen.

Amen

Pastor Kirsten Bøggild
Thunøgade 16
DK-8000 Århus C
Tel. +45 86124760
E-mail: kboe@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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