Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

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Heiliges Christfest II, 26. Dezember 2005
Predigt über Offenbarung des Johannes 7, 9-12, verfasst von Jürgen Ziemer
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Erinnern Sie sich noch an den zweiten Feiertag im vorigen Jahr? Da platzte mitten in unsere gemütlichen Weihnachtsstuben hinein die Nachricht vom Tsunami in Südostasien. Tage, Wochen, ja Monate danach hielten uns die erschütternden Nachrichten von dieser verheerenden Naturkatastrophe in Atem. Und längst sind die Wunden von damals nicht geheilt. Ich entsinne mich, dass ich zu Weihnachten selbst das Ausmaß des Unglücks nicht annähernd begriffen hatte, - obwohl die Meldungen doch nur wenig Zweifel ließen. Zu unglaublich erschien die Katastrophe, zu stark waren die Gegensätze zwischen dort und hier. Das alles war schnell einfach nicht zu fassen. Manchem von Ihnen wird es vielleicht ähnlich gegangen sein.

Dabei gehört die Wahrnehmung schreiender Gegensätze von Anfang an dazu. In der Weihnachtsgeschichte finden wir sie unmittelbar nebeneinander: die äußerste Dürftigkeit des Stalls und der Glanz der himmlischen Heerscharen, der Mord-König Herodes und die Weisen aus Morgenland. Wir finden die Gegensätze in der Weihnachtskunst: die Dunkelheit der Geburtsszene, auf die der Lichtstrahl von oben fällt. Wir begegnen ihnen aber auch heute auf den Straßen, wo neben der Weihnachtsseligkeit der Kinder auch die Gesichter der Armut täglich unseren Blick fesseln. Weihnachten ist ja nicht außer der Welt und so müssen wir zwangsläufig darauf gefasst sein, dass das schöne Bild konterkariert wird durch die hässlichen Attacken aus der Wirklichkeit.

Weihnachten ist ein Fest der Gegensätze. Das haben vielleicht auch manche von Ihnen so empfunden, als sie den Predigttext hörten, diese Verse aus der Offenbarung des Johannes. Wir hätten uns weniger gewundert, solche Worte beispielsweise am Ewigkeitssonntag zu vernehmen, aber heute zu Weihnachten? Die himmlische Vision aus der Offenbarung erinnert an einen weiteren Gegensatz zu diesem Fest: den Gegensatz der Zeiten. Vertraut ist uns die Orientierung auf die Vergangenheit: Christus wurde geboren zu historischer Stunde vor 2000 Jahren in der Kleinstadt Bethlehem, nahe Jerusalem. Jedes Jahr zieht der politisch umkämpfte Ort als heilige Stätte der Erinnerung die Aufmerksamkeit der Christen aller Welt auf sich. Und auch das gehört zur Vergangenheitsorientierung, dass wir unsere Jahre als Jahre nach Christi Geburt zählen.

Der Predigttext weist uns demgegenüber in die ganz entgegengesetzte Zeitrichtung, in die Zukunft. Mit einem Mal ist da der Himmel offen und wir können einen Blick tun in die Ewigkeit. „Heut schließt er wieder auf die Tür“ heißt es in unserem schönen Weihnachtschoral. Da weitet sich der Horizont, da kommt ein Stück Zukunft hinein in die Gegenwart, so wie der Glanz des Ewigen in den Weihnachtsbildern auf die Krippe fällt. Natürlich übersteigt, was wir da zu hören und sehen bekommen unsere Sinne und Vernunft.

Es ist ein Text aus geistlicher Eingebung heraus. An die Stelle der historischen Erzählung tritt die prophetische Vision, die uns mit ihren Bildern und Symbolen zu erreichen sucht.
Schauen wir genau hin!

Zuerst sehen wir: „eine große Schar, aus allen Nationen und Stämmen, die standen vor dem Thron“ und waren „angetan mit weißen Kleidern“. Es ist eine riesenhafte Versammlung von Betern, sie haben „Palmzweige in den Händen“, das Symbol der Überwinder. Wer sind diese? Wenige Verse später wird das Bild deutlicher: Es sind die, die „aus der großen Trübsal“ kommen (Vers 14). Weihnachten wird hier also geschaut als die große festliche Versammlung für alle, die gelitten haben. Da muss wohl zuerst an die Märtyrer des Glaubens gedacht werden. Der Diakon Stephanus, dessen Gedenktag wir heute begehen, war der erste Blutzeuge des Christentums; bei der Beschreibung seiner Steinigung heißt es in der Apostelgeschichte: „er sah den Himmel offen“ (Apg. 7, 56); das klingt als würde er diese Vision der Offenbarung voraus ahnen. Und es gibt eine unendliche Schar von Zeugen, die ihm folgten bis in unsere Tage. Es sind freilich nur wenige, derer wir in unserer Kirche gedenken, und wir tun es viel zu selten. Wer kennt einzelne Märtyrer des Stalinismus noch mit Namen? Die Sängerin Marion von Klot, 22 jährig, 1919 im Gefängnis von Riga erschossen, ebenso wie Pastor Eugen Scheuermann, der zuvor erleben musste, wie auch einer seiner Söhne von Bolschewisten ermordet wurde? Oder die Blutzeugen aus der Ära des Nationalsozialismus? Ich nennen als Beispiele: Hermann Stöhr, Staatswissenschaftler, Mitarbeiter in der Ökumene und bei der Inneren Mission, 1940 wegen Kriegsdienstverweigerung hingerichtet; Max Honig, Kaufmann, aktives Glied der Bekennenden Kirche, Mitarbeiter im „Büro Grüber“ zur Hilfe für Evangelische jüdischer Herkunft, mit seiner Frau Ruth ins Warschauer Ghetto deportiert, wo beide 1942 umkamen. Man dürfte gar nicht aufhören, wenn man einmal angefangen hat. Es sind unzählige Namen, die wir hier nennen müssten, aber auch das ist wahr: die Namen der meisten kennen wir nicht. Vor Gott aber sind sie alle unvergessen. So lautet Botschaft dieses Textes aus der Offenbarung des Johannes. Wir sollten nicht übersehen, dass es auch in unseren Tagen Menschen gibt, die wegen ihres christlichen Glaubens verfolgt werden – in Ländern wie Nordkorea und Saudi-Arabien, von wo nur wenige Nachrichten darüber an die Öffentlichkeit dringen. Und es sind vielleicht mit der Schar in den „weißen Kleidern“ nicht nur die Märtyrer des christlichen Glaubens gemeint, sondern die Märtyrer der Menschlichkeit und Freiheit, die Legionen aus den KZs und Gulags des 20. Jahrhunderts wie anderer. Sie alle, die „aus der Trübsal kommen“ sind, so die weihnachtliche Vision, werden vor dem Thron Gottes versammelt sein.

Das ist eine tröstliche und ermutigende Botschaft: Vor Gott ist kein Opfer vergessen, und es gibt eine Hoffnung auf Gerechtigkeit, auf den Sieg der Besiegten.

Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf ein zweites Detail der himmlischen Szenerie: das Lamm. Beide gehören nebeneinander: der Thron, also Gott selbst, und das Lamm. Mit den Worten „Siehe, das ist Gottes Lamm“, hatte Johannes der Täufer auf Jesus gedeutet. Sein Weg in der Zeit war der Weg eines Opfers. Nun sitzt er am Thron Gottes, oder „zur Rechten Gottes“, wie es im Glaubensbekenntnis heißt. Vielleicht haben wir das schon viel zu oft gesprochen und gehört, als dass es in uns noch Erstaunen hervorrufen könnte. Aber ist das denn selbstverständlich, was hier verkündigt wird? Es geht um ein Lebensmuster, ein Herrschaftskonzept, das den in unserer Welt geltenden Regeln glatt zuwiderläuft. Es ist das Muster des Machtverzichts und der Niedrigkeit, das in Erscheinung tritt in jener Nacht, da Christus geboren wurde. Da wurde die Krippe zum Hoheitssymbol, wie später das Kreuz zum Herrschaftsthron wurde. Heinrich Böll charakterisiert in seinem Roman „Billard um halb zehn“ die einander entgegen gesetzten Muster in Gesellschaft und Politik als das „Sakrament des Lammes“ und das „Sakrament des Büffels“. Das versteht man wohl sofort. Auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts gilt: Es ist schwer gegen die Macht der Ideologien, des Geldes und der Waffen anzukommen. Der einzigartige Lebensweg des „Lammes“, der in Bethlehem begann, war eine Alternative. Er war nicht erfolgreich im Sinne der Macht, er endete in Schmach und Schande. Aber Gott hat ihn ins Recht gesetzt. Der Weg des Lammes ist der Weg, der in die ferne Zukunft weist. Macht uns das nachdenklich oder gar froh? Was uns durch den Blick in den offenen Himmel gezeigt wird, lässt sich nicht ohne weiteres auf die Erde herunter holen, aber es erschüttert doch die Gewissheiten des irdischen Umgangs mit der Macht; es ermutigt persönlich und vielleicht auch politisch zu alternativen Wegen. Und es könnte uns aufmerksamer machen für die Spuren einer Herrschaft des Lammes, also für die leisen Töne der Liebe, der Güte, der Demut, der Barmherzigkeit.

„Selig sind, die reines Herzens sind“ heißt es in der Bergpredigt: sie sind in der Spur des Lammes, und das bedeutet auch: „sie werden Gott schauen“ (Mt 5, 8).

Und ein drittes Moment fällt in Ohr und Auge bei dieser visionären Zukunftsschau in der Offenbarung des Johannes: der große Lobgesang der himmlischen Heerscharen: „Amen, Lob, Preis und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserem Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“ Da überschlagen sich die Worte der Anbetung und Verehrung geradezu; man möchte sich das gewaltige Finale einer Sinfonie von Beethoven oder Bruckner dazu vorstellen. Das Lob übersteigt jede Aussagekraft. Natürlich erinnert dieser Lobgesang an das Gloria in excelsis der Christnacht „Ehre sei Gott in der Höhe!“ und schlägt so die Brücke zur Vergangenheit der Christgeburt. Aber wer genau hinhört nimmt auch die Ähnlichkeit mit den Lobgesängen in unseren Gottesdiensten wahr. Ich denke an das Tedeum, am besten bekannt in der Choralfassung „Großer Gott, wir loben dich“ oder das „Heilig, heilig, heilig“ aus der Abendmahlsliturgie, das wir anstimmen, um uns mit den Stimmen der „himmlischen Heerscharen“ zu „vereinigen“, wie es in der Liturgie wörtlich heißt. Das bedeutet, wenn wir Gottesdienst feiern, dann nehmen wir immer schon ein Stück der Zukunft Gottes vorweg, von der unser Text spricht. Besonders ausgeprägt ist dieser Glaube bei unseren orthodoxen Schwestern und Brüdern, die ihre „Heilige Liturgie“ geradezu als Abbild des himmlischen Gottesdienstes verstehen, ja als ein geistliches Ereignis, in dem die irdische Gemeinde zusammen mit den himmlischen Hierarchien, den Aposteln und Märtyrern und Engeln das Gotteslob singt.

Aber ist das nicht doch etwas übertrieben, wenn wir einmal die Realitäten anschauen? Unsere Gottesdienste sind wahrlich nicht nur festliche Kathedralveranstaltungen mit einer großen Gemeinde und wunderbarer Musik. Wie soll in einer kleinen Gemeinde, vielleicht im Kalten und bei dünner Harmoniumbegleitung der Gedanke an das himmlische „Amen, Lob und Ehre“ aufkommen?

Diese Frage führt uns wieder an den Anfang zurück: Weihnachten als das Fest der Gegensätze. Auch der scheinbar so armselige Gottesdienst im Kleinen hat mit den Hymnen der „Engel am Thron Gottes“ zu tun ebenso wie Stall und Krippe mit dem Gloria auf dem Felde. Genau darin liegt die Verheißung Gottes, die uns an diesem 2.Feiertag mit dem biblischen Wort aus der Offenbarung erreichen will.

Weihnachten lehrt uns immer wieder die Gegensätze zuzulassen: also einerseits bei all unserem Tun und Erleben in der Gegenwart schon die Zukunftsperspektive des Glaubens einzunehmen: wir stehen vor Gottes Thron. Aber andererseits die irdischen Verhältnisse nicht zu verleugnen, sondern sie genau wahrzunehmen: die Dürftigkeit unseres Glaubens und unseres Gebets, das Elend der Armen und die Schreie der Unterdrückten, die offenen Wunden unserer Welt. Weihnachten kann nicht gefeiert werden ohne die Aufmerksamkeit für alles Irdische. Deshalb kann es keinen Gottesdienst zu diesem Fest geben, an dem nicht neben dem Gloria auch das Kyrie, neben dem Dank die Klage laut wird: Herr erbarme dich! Nur wo wir dem Kyrie und der Klage Raum geben, wird auch der Lobgesang glaubwürdig klingen. Dann fängt es an, heute und hier schon „himmlisch“ zu werden.

Amen.

(Die Namensangaben im zweiten Teil sind entnommen: Björn Mensing/ Heinrich Rathke (Hg.): Widerstehen. Wirkungsgeschichte und aktuelle Bedeutung christlicher Märtyrer, Leipzig 2002. – Zu aktuellen Verfolgungen von Christen vgl. die Internetseite des christlichen Hilfswerks Open Doors: www.opendoors-de.org)

Prof. Dr. Jürgen Ziemer
Bernhard-Göring-Str. 14
04107 Leipzig
Mail: ziemer@rz.uni-leipzig.de


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