Göttinger Predigten im Internet
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Heiliges Christfest II, 26. Dezember 2005
Predigt über Offenbarung des Johannes 7, 9-17, verfasst von Reinhold Mokrosch
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Weihnachtsgemeinde!

I.

Vorgestern am Heiligen Abend haben wir aus der Weihnachtsgeschichte den Chor der Engel über dem Hirtenfeld singen hören:
"Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden
bei den Menschen seines Wohlgefallens"

Heute, zwei Tage später, hören wir hier in der gleichen Kirche und von der gleichen Kanzel wieder von einem Chor der Engel , diesmal aber nicht über einem Hirtenfeld, sondern in einem Himmlischen Thronsaal. Dieser Engelchor singt jubelnd:
"Preis und Herrlichkeit und Weisheit und Dank
und Ehre und Macht und Stärke
unserem Gott in allen Ewigkeiten. Amen!"

Es ist eine völlig andere und doch eine ähnliche Situation dieser beiden Engelchöre. Ich lese die Erzählung über den Engelchor heute am 2. Weihnachtstag aus der Johannes-Offenbarung, Kap. 7,1-17       (Textverlesung)
Spüren Sie, dass diese Situation im Himmlischen Thronsaal gänzlich anders und doch ähnlich wie auf dem Hirtenfeld war?

II.

Der Autor der Johannes-Offenbarung heißt ja bekanntlich Johannes und ist ein in Kleinasien angesehener Gemeindeführer oder gar Bischof gewesen. Er hatte die grauenhaften Christenverfolgungen unter Kaiser Diokletian um ca 90/95 n. Chr. miterlebt. Christen, die sich weigerten, das Standbild des Kaisers anzubeten, weil sie den Kaiser in Rom nicht als Repräsentanten von Göttern anerkannten, wurden denunziert, abgeführt, erneut zur Anbetung gezwungen und - wenn sie sich wieder weigerten - enthauptet. Dazu kamen die alltäglichen Unterdrückungen: Christen wurde die Schulbildung und der Staatsdienst verweigert, sie hatten kein Versammlungsrecht, sie wurden observiert, sie konnten nicht heiraten, ihnen wurde die Freundschaft aufgekündigt usw.

Das Leben der sieben Gemeinden in Kleinansien, an die Johannes seine Offenbarung als Sendschreiben schickte, sah also grausam aus. Von "Friede auf Erden" war nichts zu spüren. Die Weihnachtsbotschaft musste für sie wie Hohn, Lug und Trug gewirkt haben. Gerade weil sie sich zur Weihnachtsbotschaft bekannt hatten und an sie glaubten, mussten sie leiden.

       Die Vision des Visionärs Johannes fällt plastisch genug aus: Er sieht auferstandene Menschenmassen um Gottes Thron stehen, in weiße Kleider, Symbole der Reinheit, gewandet, und Palmenzweige, Symbole des Sieges, in den Händen tragen. Sie singen und jubilieren:
"Das Heil ist bei dem, der auf dem Thron sitzt,
unserem Gott und dem Lamm" dh. Christus!

Und im chorischen Wechsel zu diesen auferstandenen Christen und Märtyrern singen nun die bereits genannten Engel im Chor:
"Preis und Herrlichkeit und Weisheit und Dank
und Ehre und Macht und Stärke
unserem Gott in allen Ewigkeiten. Amen!"

Stellen wir uns diese Vision plastisch vor: Versetzen wir uns in einen Tempel, 30 mal so groß wie diese Kirche. Hier unten stehen und singen die auferstandenen Christen und Märtyrer; dort oben, z.B. auf der Empore, stehen und singen Engel; beide Gruppen singen jeweils im Wechsel.

    Johannes, der Visionär, sieht sich selbst oben auf der Empore stehen. Er wird von einem der älteren Engel gefragt, was das hier unten für Menschenmassen seien. Und Johannes, nicht der Engel, gibt die Antwort: Alle hätten auf Erden Trübsal, Bedrängnis und Leid erlitten. Jetzt aber hätten sie alles bestanden und würden als Auferstandene bei Gott im Frieden leben. Sie würden nicht mehr hungern, nicht mehr dürsten und nicht mehr leiden. "Gott wischt ihnen alle Tränen von ihren Augen ab." Ja, Christus führe sie zu einer wunderbaren Lebenswasserquelle, die niemals versiege. Und ihre Kleider, so erklärt der Visionär Johannes dem Engel weiter, wurden und würden gewaschen - bitte merken Sie jetzt auf: - vom Blut Christi!   Christi Blut, so war die Vorstellung, reinigt die Menschen.. Das irdische Leid sei vorbei. Die himmlische Freude sei angebrochen.  Das erklärt Johannes dem fragenden Engel.

III.

    Was für eine Vision! Widerspricht sie nicht vollkommen der Engelbotschaft in der Weihnachtsgeschichte? Dort verhießen die Engel doch "Friede auf Erden" und nicht "Friede im Himmel". Musste diese Zusage nicht grotesk, ja zynisch wirken, wenn ein paar Zeilen später in der Bibel steht, dass alle Kinder in Bethlehem ermordet wurden? Und heute, 48 Stunden nach der Christmette, erfahren wir, dass tausende an Märtyrern sterben mussten, weil Jesus geboren war!?

    Noch schlimmer war es heute vor genau einem Jahr: In der Christmette 2004 hatten wir gehört "Friede auf Erden" und 48 Stunden später am 2. Weihnachtstag hörten wir die Schreie der Tsunamie-Opfer in Süd-Ost-Asien. Was für ein "Friede auf Erden" ist das, der durch den Kindermord in Bethlehem, durch die Märtyrer der ersten Christenverfolgungen und die Opfer des Tsunamie konterkariert wird? Gibt es doch nur einen "Frieden im Himmel"? Sollen wir ernstlich in den Chor der Engel auf dem Hirtenfeld und/oder in den Chor der Engel im Himmlischen Thronsaal einstimmen? Für meine Person antworte ich darauf folgendermaßen: Für mein persönliches Leben kann ich das, nicht aber für das weltweite Leid.

    Ich weiß nicht, liebe Weihnachtschristen, ob Sie auch so argumentieren würden: Für mich persönlich nehme ich Gottes Botschaft "Friede auf Erden" von Herzen gern und dankbar an. Ja, ich habe mit Gott Frieden im Leben reichlich erlebt, trotz Leid. Aber weltweit gesehen zweifel ich an dieser Botschaft. Können Sie meine Gefühle nachempfinden?

    Für diesen Fall möchte ich mit Ihnen einen Perspektivenwechsel vornehmen: Ich möchte von der Makro-Sicht der ganzen Welt zu der Mikro-Sicht meiner kleinen Welt übergehen. Und für meine kleine Welt bekenne ich: Ja, ich habe viel Leid erlitten; aber es hat immer wieder Engel gegeben, die mir geholfen haben. Ich weiß nicht, warum Gott mich oft nicht vor   Leid bewahrt hat, aber ich weiß, dass er mich oft im Leid bewahrt hat. Und ich weiß, dass er mich als Friedensstifter haben will. Ich soll nicht rätseln über den Unfrieden und das Leid in der Welt, sondern ich soll in meinem Bereich Frieden stiften und Leid mindern. Es könnte sein, dass diejenigen, die z.B. vom Tsunami vor einem Jahr getroffen waren, das für sich genauso sehen. Ich entdecke entschieden mehr Frieden, wenn ich die Mikro- und nicht die Makro-Brille aufsetze.

    So geht es mir auch mit Engeln. Ich schätze keine großen Engelchöre. Massenhafte Engel am Tannenbaum oder auf dem Kaminsims oder auf der Kommode bedrücken mich. Ich sags ehrlich: Auch die Engelmassen im Himmlischen Thronsaal (und auch auf dem Hirtenfeld) machen mir keine Freude. Für mich ist ein einzelner Engel, der mir begegnet, wichtiger. Zu Maria kam ein einzelner Engel. 

IV.  

 Von einem ähnlichen Erlebnis mit einem Einzelengel (nicht mit Engelchören) zur Weihnacht erzählt Walter Benjamin:

"Ein Weihnachtsengel
Mit den Tannenbäumen begann es. Eines Morgens, als wir zur Schule gingen, hafteten an den Straßenecken die grünen Siegel, die die Stadt wie ein großes Weihnachtspaket an hundert Ecken und Kanten zu sichern schien. Dann barst sie eines schönen Tages, - und Spielzeug, Nüsse, Stroh und Blumenschmuck quollen aus ihrem Innern: der Weihnachtsmarkt.   Mit ihnen quoll noch etwas anderes hervor: die Armut. Wie Äpfel und Nüsse mit ein wenig Schaumgold neben dem Marzipan sich auf dem Weihnachtsteller zeigen durften, so auch die armen Leute mit Lametta und bunten Kerzen in den reichen Vierteln. Die Reichen schickten ihre Kinder vor, um den Armen wollene Socken abzukaufen oder Almosen auszuteilen.

    Inzwischen stand bereits auf der Veranda der Baum, den meine Mutter insgeheim gekauft und über die Hintertreppe in die Wohnung hatte bringen lassen...In den Höfen begannen die Leierkasten die letzte Frist mit Chorälen zu dehnen. Endlich war sie dennoch verstrichen und einer jener Tage wieder da, an deren frühesten ich mich hier erinnere.

   In meinem Zimmer wartete ich, bis es sechs werden wollte...Es war schon dunkel, trotzdem entzündete ich nicht die Lampe, um den Blick nicht von den Fenstern überm Hof zu wenden, hinter denen nun die ersten Krezen zu sehen waren. Es war von allen Augenblicken, die das Dasein des Weihnachtsbaumes hat, der bänglichste, in dem er Nadeln und Geäst dem Dunkel opfert, um nichts zu sein als ein unnahbares und doch nahes Sternbild im trüben Fenster einer Hinterwohnung. Und wie ein solches Sternbild hin und wieder eins der verlassnen Fenster begnadete, indessen viele weiter dunkel blieben und andere, noch trauriger, im Gaslicht der frühen Abende verkümmerten, schien mir, dass diese weihnachtlichen Fenster die Einsamkeit, das Alter und das Darben, - all das, wovon die armen Leute schwiegen - in sich fassten...

    Kaum aber hatte ich schweren Herzens...mich von dem Fenster abgewandt, so spürte ich eine fremde Gegenwart im Raum. Es war nichts als ein Wind, so dass die Worte, die sich auf meinen Lippen bildeten, wie Falten waren, die ein träges Segel plötzlich vor einer frischen Brise wirft: "Alle Jahre wieder / kommt das Christuskind / auf die Erde nieder / wo wir Menschen sind"; mit diesen Worten hatte sich der Engel, der in ihnen begonnen hatte, sich zu bilden, auch verflüchtigt. Nicht mehr lange blieb ich im leeren Zimmer. Man rief mich in das gegenüber liegende, in dem der Baum nun in die Glorie eingegangen war, welche ihn mir entfremdete, bis er, des Untersatzes beraubt, im Schnee verschüttet oder im Regen glänzend, das Fest da beendete, wo es ein Leierkasten begonnen hatte." (Aus: W.B.: Berliner Kindheit um 1900, Frankfurt 1987, 64f)

Eine Engelserfahrung am Heiligen Abend! Wie ein Windhauch, still und ohne Hallelujachöre.  Ein Engel in der Einsamkeit. Er kommt und er verflüchtigt sich. Er bringt Frieden und lässt mich wieder allein. Warum? Ich weiß es nicht. Aber ich bin gewiss, dass er immer da sein wird, wenn ich in Not bin. Ich erlebe mit ihm Frieden auf Erden, nicht nur im Himmel. Dafür danke ich.

Ich wünsche Ihnen Engelserfahrungen, liebe Weihnachten feiernde Christen.

Gottes Friede, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.  

Prof. Dr. Reinhold Mokrosch
Institut für Ev. Theologie an der
Universität Osnabrück  
Leiter der Forschungsstelle für
Werterziehung in Religion und Gesellschaft
49069 Osnabrück
Tel: 0541/969-4284  Fax  - 4772
rmokrosc@uni-osnabrueck.de


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