Göttinger Predigten im Internet
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Altjahresabend, 31. Dezember 2005
Predigt über 2. Mose 13, 20-22, verfasst von Ulrich Metzger
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


1. Das Volk Israel, liebe Gemeinde, befindet sich auf einem langen, anstrengenden Weg. Die Wanderung, die es vor sich hat, wird 40 Jahre dauern. Es ist zwar der Weg von Knechtschaft in die Freiheit, aus der Fremde in die Heimat. Aber dieser Weg ist schwer, er führt durch die Wüste, er führt durch Gefahren, durch Entbehrung und Not.

Um diesen Weg zu bewältigen und die Übergänge und ständigen Veränderungen zu meistern, braucht das Volk Israel eine große innere Kraft. Denn wenn ihm diese Kraft fehlt, wird es sich zurücksehnen an die Fleischtöpfe Ägyptens und wird das bekannte Unglück dem unbekannten Glück wieder vorziehen. Dann wird es zurückschrecken vor den Gefahren und seine Schritte werden lahm und ziellos sein.

2. Diese innere Kraft, liebe Gemeinde, braucht jeder Mensch, wenn sich auf einen Weg begibt oder über eine Schwelle tritt. Hört dazu folgende Geschichte, die der Journalist und Schriftsteller Axel Hacke in einer seiner Kolumnen „Das Beste aus meinem Leben“ im Magazin der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht hat:

„Das ist schon ein paar Wochen her, dass Anne in die Schule gekommen ist. Sie haben eine wunderschöne Feier gemacht mit Schülern, Lehrern und Eltern als Publikum vor einer Bühne, auf der die Lehrerin stand und die neuen Schüler einzeln mit Namen rief. Jedes Kind musste auf die Bühne kommen. Nie, haben wir gedacht, geht Anne alleine an den ganzen Leuten vorbei, nie geht sie allein auf die Bühne, und nie gibt sie allein der Lehrerin die Hand.

Und was geschah, als die Lehrerin „Anne Hacke“ rief? Anne stand auf, ging allein an den ganzen Lehrern vorbei, allein auf die Bühne, und allein gab sie der Lehrerin die Hand. Einmal hat sie sich umgeschaut unterwegs. Und ich saß da, und mir zitterte die Unterlippe, aber geheult habe ich erst nachts, als ich aufwachte und wieder daran denken musste. Steht das Kind auf und geht allein weg von uns, dachte ich – das ist schön und schwer zugleich.“

Über die Schwelle zu treten, liebe Gemeinde, ist schön und schwer zugleich. In der Geschichte treten zwei Menschen über die Schwelle: Zum einen die Tochter Anne, die ihr Leben als kleines Kind hinter sich lässt und den ersten Schritt in ein selbständiges, selbstbewusstes und selbst bestimmtes Leben unternimmt.

Der andere, der über die Schwelle tritt, ist der Vater. Er muss mit ansehen, wie sein Kind aus der elterlichen Obhut entschwindet und beginnt, seine eigenen Wege zu gehen. Für beide ist dieses Gehen über die Schwelle schön und schwer zugleich. Schwer ist es, das gewohnte zu verlassen und die Sicherheiten aufzugeben, die eingespielten Rollen abzustreifen und sich auf neue Verhältnisse einzustellen. Aber genau dieses ist auch schön, denn es eröffnet den Weg in die Freiheit.

Um das Schöne und das Schwere zusammen bewältigen zu können, braucht man eine große innere Kraft. Man braucht Mut und Hoffnung, Zutrauen ins Leben, man braucht Freiheit und Gelassenheit, um sich nicht an das Alte festzuklammern, sondern das Neue zuzulassen.

Der Vater hat – Stunden später – in der Nacht geheult. Aber noch die Tränen, die er vergoss, waren Zeichen der inneren Kraft, die er aufbrachte, um die neue Freiheit, die neue Stärke und die Selbständigkeit seiner Tochter zuzulassen und zu begrüßen.

3. Liebe Gemeinde, in wenigen Stunden treten auch wir über eine Schwelle. Es ist die Schwelle zum neuen Jahr, jeder an sich unbedeutende Augenblick, in dem ein Sekundenzähler um ein paar Millimeter vorrückt. Und doch ist diese Schwelle, die wir ins neue Jahr überschreiten, für uns von Bedeutung. Denn jede Sekunde erinnert uns an die tiefgreifenden Veränderungen, die wir im vergangenen Jahr zu bewältigen hatten. Und sie ist ein Zeichen für alle die neuen Schritte und schwierigen Übergänge, denen wir auch im Blick auf das neue Jahr gegenüber stehen.

Was mag alles kommen? Die Schulzeit wird zu Ende gehen, Kinder werden aus dem Haus ausziehen, manche werden eine neue Arbeitsstelle antreten, Beziehungen werden in die Brüche gehen, Menschen werden neue Liebe und neues Glück erfahren, manche werden erleben, wie sie sich von einem geliebten Menschen verabschieden müssen. Andere erfahren das Glück der Geburt eines Kindes. Und jenseits aller dramatischen Veränderungen, die im Leben eines Menschen einkehren können, wird es jene kleinen Veränderungen geben, mit denen wir ständig rechnen und auf die wir uns einstellen müssen.

Und was für jeden Einzelnen gilt, gilt auch für jede Stadt, für jede Kirchengemeinde, für das ganze Land: Nichts wird bleiben wie es ist. Ständig sehen wir uns Herausforderungen gegenüber, müssen uns von lieb gewordenem verabschieden. Müssen uns auf veränderte politische und ökonomische Rahmenbedingungen einstellen, müssen althergebrachte Denkmuster über Bord werfen.

Werden wir im Kleinen und im Großen, im Privaten und Politischen die innere Kraft aufbringen, diese Veränderungen zu bewältigen? Woher wird diese Kraft kommen?

4. Schauen wir, liebe Gemeinde, noch einmal in unseren Text aus dem 2. Mose. In dieser uralten biblischen Geschichte findet sich eine Metapher, ein Bild für jene innere Kraft, die Menschen brauchen, um auch lange und beschwerliche Wanderungen auf sich nehmen zu können. Dieses Bild, das die Bibel zeichnet, ist Wolkensäule und Feuerschein.

Wolkensäule und Feuerschein sind Bilder für die göttlichen Geist, der Menschen befähigt, die schwierigen und beschwerlichen Wege ihres Lebens kraftvoll bewältigen zu können.

Sie sind Bilder dafür, dass Menschen innere Orientierung bewahren und auch in der Hitze der Wüste und in der Finsternis der Nacht nicht daran zweifeln, dass sie auf einem guten Wege sind.

Die Wolke steht für Leichtigkeit und Durchlässigkeit, für Gelassenheit und innere Freiheit. '*
Das Feuer steht für Liebe, Wärme und Klarheit.

Gelassene Leichtigkeit und Freiheit auf der einen Seite und Wärme und Licht auf der anderen Seite sind Gaben der göttlichen Gegenwart, die zu Kräften unseres inneren Lebens werden.

Lasst uns in unserem biblischen Text und auf seinen Kontext blicken, um zu verstehen, unter welchen Bedingungen wir die göttliche Gegenwart spüren können und wohin Wolkensäule und Feuerschein uns tatsächlich führen:

4.1 Das Geschenk der Wolken und der Feuersäule erhielten die Israeliten, als sie inne hielten und lagerten. Unverzichtbar und lebensdienlich sind die Pausen, die Unterbrechungen des Weges. Gerade dann, wenn wir viel zu bewältigen haben, gerade dann, wenn wir lange Wegstrecken vor Augen sehen, müssen wir inne halten. Gerade dann müssen wir uns unterbrechen lassen in unserem alltäglichen Rennen und Laufen. Gerade dann müssen wir uns auf unsere inneren Kräfte besinnen und auf ihre Quellen. Genau dies tun wir jetzt und hier, in dem wir nicht gedankenlos über die Quelle stolpern, sondern uns die Freiheit gönnen zu erkennen, dass wir das wesentliche unseres Lebens nicht erarbeiten können, sondern geschenkt bekommen.

4.2 Der Augenblick, da Wolkensäule und Feuerschein auftauchen, ist ein Ort am Rande der Wüste. 40 Jahre Wüste stehen dem Volk Israel bevor. Wandern in der Wüste ist kein Honigschlecken, denn das Land da Milch und Honig fließt, steht erst ferne am Horizont. Es ist gut und eine Hilfe für die Wege des Lebens, wenn wir akzeptieren, dass sie auch wüstenähnliche Abschnitte aufweisen werden. Abschnitte der Entbehrung, der Mühe, der Einsamkeit, der Fremdheit. Es sind nicht die leichten Wege, in die Gott hineinführt. Er führt uns durch tiefe Täler und Momente der Angst hindurch. Aber er führt uns mit Gewissheit durch sie hindurch hin zur grünen Aue und zum frischen Wasser. Die Wüste, die Krise, die Entbehrung ist eine Zeit der Läuterung und der Reifung. Sie durchschritten zu haben, ist schwer und schön zugleich.

Noch ein Drittes lehrt uns unser Text: Feuersäule und Wolkenschein führen das Volk Israel zum Berg Sinai hin. Dort empfängt es das Gesetz. Ein Gesetz, das sein Leben in soziale Bahnen lenkt, das sie lehrt auf andere Menschen zu achten, sie zu respektieren und an sie mitzudenken.

Der Weg in die Freiheit ist niemals ein Egotrip. Er führt uns hinein in die soziale Verantwortung und in die Einfühlsamkeit mit allen Menschen.

5. In Kürze werden wir, liebe Gemeinde, die Schwelle des neuen Jahres überschreiten. Seien wir gewiss, dass die göttliche Gegenwart jetzt und alle Tage unseres Lebens und in der Stunde unseres Todes bei uns sein wird.

Sie wird bei uns sein mit der gelassenen Leichtigkeit einer Wolke, in der wir Abschied nehmen vom Alten. Die göttliche Gegenwart wird bei uns sein mit dem klaren hellen und wärmenden Feuer, durch das wir lernen, die neuen Wege zu lieben.

Gehen wir voller Zuversicht über die Schwelle des neuen Jahres. Die Wege, die bevor stehen, werden vielleicht schwer sein, aber sie sind schön zugleich.

Amen.

Studentenpfarrer
Ulrich Metzger
Ev. Studentenpfarramt Ulm
Münsterplatz 21
89073 Ulm

Telefon: 0731/33316
Fax: 0731/6 89 64
email: esg-ulm@gmx.de
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