Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Spenden Sie dem Förderverein Göttinger Predigten im Internet e.V.
für die Fortführung seiner Arbeit!

Altjahresabend, 31. Dezember 2005
Predigt über 2. Mose 13, 20-22, verfasst von Andreas Vonach
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Wieder liegt ein Jahr hinter uns, aber auch ein neues vor uns. Die vergangenen 365 Tage waren für uns alle eine Wanderung, die uns auf unserem Lebensweg ein bestimmtes Stück näher zu unserem Ziel gebracht hat. Viele Steine galt es dabei aus dem Weg zu räumen, manche zu überklettern, andere gar zu umgehen; doch manches Stück wurden wir auch von anderen mitgenommen, geführt oder getragen, das eine oder andere Mal mussten wir selbst jemanden tragen; teilweise wanderten wir in Gemeinschaft, manchmal allein, oft in Gedanken versunken, gelegentlich auch gedankenlos. Vor einem Jahr wussten wir bei aller Zeit- und Lebensplanung noch nicht genau, wo wir heute stehen werden; heute ist uns noch nicht im Detail klar, wie sich das kommende Jahr unserer Lebenswanderung entwickeln wird und wo genau wir in einem Jahr angekommen sein werden. Das ist auch gut so, denn gerade die nicht planbaren Elemente machen das Leben spannend, interessant und auch reizvoll; andererseits erzeugen sie natürlich auch gewisse Ängste, Befürchtungen, Unsicherheiten und manchmal auch Resignation und grundsätzliche Anfragen an das menschliche Leben als solches.

So war ganz global gesehen das vergangene Jahr beispielsweise ein „Jahr der Naturkatastrophen“; über das Jahr verteilt wurden die verschiedensten Regionen der Welt von Naturereignissen verschiedener Qualität aber auch unterschiedlichen Ausmaßes getroffen. Gleichzeitig hat dies aber auch zu einer Flut an Hilfs- und Spendenbereitschaft geführt, die wieder hoffnungsvoll und zuversichtlich stimmen kann. Und diese Naturkatastrophen haben zu noch etwas geführt, nämlich zu einem globaleren und ernsthafteren Nachdenken darüber, wie die Menschheit mit der Natur, mit der ihr anvertrauten Schöpfung, umgeht und in der Zukunft umzugehen gedenkt.

In der Exoduslesung begegnet uns ein Volk – jedoch nicht irgendein Volk, sondern das erwählte Gottesvolk Israel – auf der Flucht. Unter der Führung des Mose fliehen sie von Ägypten nach Kanaan, aus erlittener Unterdrückung in eine erhoffte Freiheit, aus einer bedrückenden Vergangenheit in eine als beglückend vorgestellte Zukunft. Sie sind auf ihrem langen und beschwerlichen Weg noch nicht allzu weit gekommen. Sie lagern an einem Ort „am Rande der Wüste“. Beide genannten Ortsangaben sind nicht mit Sicherheit lokalisierbar und dürften innerhalb der Exoduserzählung auch eine ganz andere, nämlich symbolische, Funktion haben. In „Sukkot“ ist wohl eine volksetymologische Anbindung des jüdischen Laubhüttenfestes (hebräisch „Sukkot“) an das Exodusgeschehen ausgedrückt; in Lev 23,43 wird dieses Fest, bei dem jüdische Familien eine Woche lang die wesentlichen Zeiten des Tagesablaufes in einer Laubhütte verbringen, nämlich als jährlich wiederkehrendes Gedenken an das Wohnen in solchen Hütten beim Auszug aus Ägypten erklärt. „Etam“ kommt als Ortslage außer in Exodus und Numeri nirgends vor. Wichtiger scheint hier das, was theologisch dazugesagt wird. Nochmals: es liegt am Rande der Wüste, in nur geringer Entfernung vom fruchtbaren Nildelta also. Und hier beginnt jene Führung Gottes, die bald im „Schilfmeerwunder“ gipfeln wird. Das Volk befindet sich demnach östlich des Nildeltas im Gebiet der Bitterseen. Doch nochmals, nicht der genaue Ort ist das entscheidende an dieser Stelle, sondern die besondere Führung und Begleitung Gottes, die nun einsetzt.

Ab dem Moment – so will diese Erzählung uns sagen – in dem das Volk das fruchtbare und von guten Wegen durchzogene Gebiet verlässt, übernimmt Gott selbst die Führung dieser Menschen durch die karge und weglose Wüste. Weder Mose noch Aaron kennen den genauen Weg; sie müssen sich auf Gottes Führung und Lenkung verlassen. Diese Wanderung ist wie gesagt eigentlich eine Flucht. Daher muss das Volk seinen Weg während der kommenden Tage bei Tag und bei Nacht fortsetzen, um nicht von den Verfolgern eingeholt zu werden. Bei Tageslicht werden sie von Gott in Form von einer Wolkensäule geführt, die vor ihnen herzieht. Die altorientalische Mythologie kennt zahlreiche Beispiele für Götter, die als „Wolkenreiter“ auftreten und sich auf diese Weise auch fortbewegen. Dieses Motiv ist hier insofern aufgenommen, als deutlich gesagt wird, dass Gott selbst in dieser Wolke präsent ist. Die Wolke wird nicht nur von Gott gesandt, sondern er selbst ist in dieser Wolke anwesend. Dadurch wird für uns nochmals deutlich, dass letztlich er selbst der Anführer und Wegweiser seines wandernden, flüchtenden, Gottesvolkes ist. Mose ist nur sein menschliches Werkzeug, dem die spezielle Führung Gottes vorgeschaltet ist und der auch selbst zuallererst auf diesen göttlichen Beistand angewiesen ist, hat doch letztlich er menschlich gesehen die Verantwortung für das Volk und für diese Wüstenwanderung. In der Nacht weist Gott dem Volk den Weg in Form einer Feuersäule. Zum einen dient das Feuer natürlich der Erhellung der dunklen Nacht, die ein sicheres Weiterziehen überhaupt erst möglich macht. Zum anderen ist „Feuer“ aber auch ein häufiges Medium für Theophanien nicht nur im Exodusbuch, sondern auch in zahlreichen anderen alttestamentlichen Schriften. Das heißt, dass auch mit der Feuersäule die direkte Präsenz, das direkte Voranziehen Gottes selbst ausgesagt wird.

Dieses Mitsein Gottes mit seinem Volk wird dann auch nochmals bekräftigt: „Weder wich die Wolkensäule vor dem Volk bei Tag noch die Feuersäule bei Nacht“. Das Gottesvolk kann sich der ständigen Führung und Begleitung durch Gott sicher sein und so seinen Weg selbst durch die gefährliche Wüste im Vertrauen auf ihn fortsetzen. Diese spezielle Art seines Mitseins wird sich dann ja auch im Schilfmeerwunder bewahrheiten, wodurch sich auch das in diesen Gott gesetzte Vertrauen endgültig als gerechtfertigt erweist.

Dabei ist es ja nicht so, dass Gott sein Volk nur in Ausnahmesituationen, in der Wüste sozusagen, begleiten würde, sondern dieser Gegenwart Gottes kann es sich eigentlich immer und überall sicher sein. Doch die Begleitung, die hier zur Sprache kommt, ist ein ganz besonderes Mitsein Gottes in einer Situation, die auch alles andere als alltäglich ist. Gottes Schutz und Beistand ist genau im Exodusgeschehen in besonderer Weise spürbar, in einer Zeit also, die auch dem Volk selbst außerordentlich viel abverlangt und in der Situationen der Ausweglosigkeit und Gefühle der Resignation vermehrt auftreten.

Was dem Exodusvolk hier exemplarisch zuteil wurde, gilt – und das ist das Bleibende an dieser Episode der Geschichte Israels mit seinem Gott – für uns alle und zu jeder Zeit. Wenn wir ein Jahr unserer Lebenswanderung hinter uns lassen und ein neues beginnen, dann wissen wir zwar nicht genau, was dieses uns bringen wird; einer Zusage aber dürfen wir uns gewiss sein: Gott wird die an ihn Glaubenden und auf ihn Vertrauenden auch in diesen kommenden Tagen persönlich begleiten. Wie das Volk Israel auf seiner Wüstenwanderung wird er auch uns nicht nur irgendeinen Wegweiser schicken, sondern er selbst wird dieser Wegweiser sein. Er wird Tag und Nacht über unsere Wege wachen und bei uns sein, wenn uns dies auch nicht in jedem Augenblick unmittelbar einsichtig und bewusst sein mag.

Im Vertrauen auf diesen Gott, der sich im Verlauf der (Heils-)Geschichte schon unzählige Male bewährt hat, dürfen wir also zuversichtlich das vergangene Jahr hinter uns lassen und das kommende mutig beschreiten. Und wir dürfen uns noch einer Sache sicher sein: Wenn das Leben es erfordert, können auch wir uns getrost an den Rand der Wüste wagen; denn dort wird Gottes Führung und Begleitung noch intensiver als sonst und er zeigt sich uns noch deutlicher und klarer als sonst als Wegweiser.

In diesem Sinne dürfen wir voll Vertrauen auf den Gott Israels, auf den Gott des Exodus, der letztlich unser aller Gott ist, dieses neue Jahr beginnen und das vergangene voll Dankbarkeit für das Mitsein des Exodusgottes getrost hinter uns lassen. Die paar Verse aus der Exoduserzählung sind für uns eine Bestärkung und Ermutigung, unseren Lebensweg diesem Gott anzuvertrauen, uns in seine Hände fallen zu lassen und auch angesichts unwirtlicherer und unwegsamerer Wegetappen uns auf seine Führung und Leitung ganz zu verlassen; dann wartet am Ende einer anstrengenden Wanderung auch auf uns ein Schilfmeerwunder.

Univ.-Prof. Dr. Andreas Vonach
(Universität Innsbruck)
Andreas.Vonach@uibk.ac.at

 


(zurück zum Seitenanfang)