Göttinger Predigten im Internet
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Neujahrstag, 1. Januar 2006
Predigt über Josua 1, 5b (Jahreslosung 2006), verfasst von Friedrich Weber
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Josua 1,5b - „Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen.“

Auf dem Weg vom alten in das neue Jahr haben wir eben noch Dietrich Bonhoeffers „von guten Mächten wunderbar geborgen“ gesungen und gebetet und schon hat das neue Jahr begonnen und mit ihm ein neuerlicher Versuch, zwischen Anspruch und Realität, Widerstand und Ergebung zu leben.
2006.
In Deutschland findet die Fußballweltmeisterschaft statt und es jähren sich die Geburtstage von Billy Wilder und Siegmund Freud, von Mozart, Onassis und eben auch Dietrich Bonhoeffer. Wir werden an den Super-Gau in Tschernobyl vor 20 Jahren denken und sicher auch an den Aufstand in Ungarn 1956. Wir werden jeder und jede Schritt für Schritt durch das neue Jahr gehen unter den Augen Gottes, der zu uns spricht:

„Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen.“

So heißt die Jahreslosung. Sie steht bei Josua (Kap 1,5b) am Anfang des Buches, am Ende der Wüstenwanderung. Vor den Menschen liegt das verheißene Land, ob es tatsächlich verheißungsvoll ist, muss sich noch zeigen, ob dort „gut sein ist“, jemals Heimat werden kann, ist von heute aus schwer einzuschätzen – aber sicher ist: dort geht es hin, die Richtung ist alternativlos. Es gilt also, sich einzustellen und zu gestalten Eine Situation, die der am Anfang eines neuen Jahres nicht so unähnlich ist.

Wir stehen, wie damals die Israeliten, vor dem Neuen und wissen nicht genau, was die Zukunft bringt, ob wir heil an Leib und Seele durch dieses Jahr kommen werden, ob die Wunden des vergangenen Jahres vernarben... Sicher, manche Pläne und Termine gibt es schon, aber vieles ist offen, muss erst noch geschafft werden: Junge Leute werden ihre Abschlüsse machen, werden sie auch ihr Auskommen finden? Andere werden ihr Arbeitsleben beenden – sicher nicht immer gern und freiwillig – wovon werden sie leben, womit die Tage füllen? Landwirte werden die Saat ausbringen und hoffen, dass der Ertrag reicht, um den Betrieb durchzubringen, Schulkinder werden - mal hüpfend mal schleppend ihre Tage durchstehen, und mancher Altgewordene wird warten, warten, das ein vertrauter Mensch ins Zimmer tritt, warten, dass der Tag vergeht, warten, endlich sterben zu können...

Keiner kann am Rhythmus der Zeit, des Lebensweges vorbei, Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Reiche und Arme gehen weiter in ein neues Stück Lebenszeit hinein. Genauso war es damals auch. Auf den Weg in das Land der Freiheit machten sich alle. Erwachsene und Kinder, Begabte und solche, denen vieles schwer fällt, Starke und Gebrechliche, fröhliche Optimisten, Traurige, Bittergewordene und Verzagte, Verliebte und Einsame– für alle gilt, der Weg liegt vor dir und du wirst es schaffen, geh endlich los!!! Denn:

„Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen.“

Ein Wort, ein Versprechen auf Zukunft hin: „... Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Das ist wohltuend und sehr beruhigen zu wissen. Der segnende Gott rechnet uns Gelingen und Versagen des letzten Jahres nicht vor und lässt sich nicht von guten Vorsätzen für das Neue bestechen. Er ist mit uns – bedingungslos – aus reiner Gnade. „Ich will dich nicht verlassen“ – das ist das Netz, in das ich mich getrost fallen lassen kann. Und: „Ich werde nicht von dir weichen...“

Klingt das nicht auch wie: ob du es willst oder nicht, ich bleibe an deiner Seite, denn ich habe etwas mit dir vor. Der Weg ist nicht beliebig, ich möchte, dass du dahin gehst, wohin ich dich schicke, „denn ich will mit dir sein, so wie ich das mit Mose gewesen bin.“

Meint diese Jahreslosung also eine Art Wanderleitung, so wie es die Wolken- und die Feuersäule in der Wüste gewesen waren?

Denn Gott bietet uns nicht nur Schutz „unter dem Schatten seiner Flügel“ – er ist auch sehr anspruchsvoll, eben so wie er das mit Mose war. Der hatte ja keineswegs zum Pharao gewollt, er hatte Ausflüchte gesucht und Komplexe vorgeschoben, mit jedem denkbaren Argument versucht, sich Gottes Auftrag zu entziehen. Und man kann sich ja auch wundern:

Dieser Mose war nicht direkt ein Führungskader, vorbestraft, und ein Fremder, ein Ausländer noch dazu. Er kam recht und schlecht durch, irgendwo am Rande der Wüste mit Kind und Kegel, seinen Tieren und seiner Frau – und ziemlich abhängig von seinem Schwiegervater. Nicht direkt ideale Ausgangsbedingungen, um ein ganzes Volk zu führen. Aber Gott wollte genau ihn, keinen anderen. Denn dieser unser Gott bewertet unserer Brauchbarkeit nicht nach den Kriterien der postmodernen globalen Industriegesellschaft, bei ihm gilt anderes – wen wir für verkracht und chancenlos halten, der muss es in Gottes Augen lange nicht sein. (Das ist gut so – aber es enthebt uns keineswegs der Verpflichtung, selbst dafür zu sorgen, dass in unserer Gesellschaft alle einen Platz haben, an dem sie leben und nicht nur vegetieren können!)

Moses Vorwände und Zaghaftigkeit jedenfalls, vielleicht auch seine Bequemlichkeit – immerhin hatte er sich ja gerade ganz gut eingerichtet und vermutlich keinen Bedarf auf die Unbehaustheit einer Wüstenwanderung - hat Gott nicht gelten lassen. Er brauchte Moses langen Atem und seine Zähigkeit, seine Kraft, seinen Mut und er ist ihm nicht von der Seite gewichen – schützend und fordernd zugleich.

Uns sieht es ähnlich, erst mal den Zuspruch und Segen zu hören, entsprechend freundlich klingt die Übersetzung der Guten Nachricht: „Niemals werde ich dir meine Hilfe entziehen, nie dich im Stich lassen“ – aber das ist eben vielleicht doch nicht so voraussetzungslos, wie es klingt. Es ist eine Verheißung, das ja, aber eine, die uns ganz und gar in Anspruch nimmt.

Dietrich Bonhoeffer, dessen 100. Geburtstag wir dieses Jahr feiern, hat in einer Predigt in der Londoner Gemeinde Sydenham am 21. Januar 1934 gesagt:

Gott,
du hast es mit mir angefangen.
Du hast mir nachgestellt,
hast mich nicht loslassen wollen,
bist immer wieder hier und dort
plötzlich in den Weg getreten,
hast mich verlockt und betört,
hast mir mein Herz gefügt
und willig gemacht,
hast zu mir geredet
von deiner Sehnsucht
und ewigen Liebe,
von deiner Treue und Stärke;
als ich Kraft suchte,
stärktest du mich,
als ich Halt suchte,
hieltest du mich,
als ich Vergebung suchte,
vergabst du mir die Schuld.
Ich hatte nicht gewollt,
aber du überwandest meinen Willen,
meinen Widerstand, mein Herz.
Herr,
du hast mich überredet,
und ich habe mich überreden lassen.
Du bist mir zu stark geworden
Und hast gewonnen. (1)

Ist das eine Bilanz der Gottesbeziehung, ein Gebet am Ende seines Lebens, als kaum noch Hoffnung bestand, dass das alles anders ausgehen und sich die Gefängnistüren jemals wieder öffnen würden? Ein Text aus der Zeit, als es nur noch darauf ankam, „dankbar und ohne Zittern den schweren Kelch, den bittern aus seiner guten und geliebten Hand anzunehmen“?

Aber dieser Text ist kein Testament, sondern zehn Jahre älter. Er stammt aus einer sehr aktiven Zeit, in der Gottes Anspruch an Dietrich Bonhoeffer greifbarer und deutlicher wurde, in der es Bonhoeffer nicht mehr genügte, zu wissen, wer man ist und wo man steht (und das ist schon viel mehr, als mancher von sich selber sagen kann), sondern in der es auch darauf ankam, auf Gottes Wort zu hören und Nachfolge nicht nur zu definieren, sondern auch zu leben. 1934, die Barmer Synode hat noch nicht getagt, die Bekennende Kirche hat sich noch nicht konstituiert Der Maulkorberlass gilt bereits, die Nationalsozialisten sind an der Macht und ihre Gangart ist deutlich erkennbar. Aber den richtigen Weg in dieser Zeit zu finden ist schwer, und „die Bonhoeffers gehören nicht zu denen, denen die Nazis die Entscheidung abnehmen. Sie sind keine Linken und keine Juden. Sie werden nicht entlassen, ausgebürgert, verhaftet. Sie werden nicht verfemt, sondern hofiert.“ (2) Dietrich Bonhoeffer versucht es, wie mancher in der Bibel, den Gottes unliebsamer Ruf ereilte, Jona oder Elia – er setzt sich ab, zieht sich zurück nach London, in die Auslandsgemeinden, aber es ist, wie es der Psalmist besingt: „nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer“ so ist Gott da.

Das muss Bonhoeffer empfunden haben als er schrieb: „Gott, Du, hast es mit mir angefangen, Du hast mir nachgestellt, hast mich nicht loslassen wollen“ und sind das nicht dieselben Worte wie in der Jahreslosung: „Du bist mir nicht von der Seite gewichen...“

Gott nimmt uns in Anspruch.
Das ist wohl manchmal eine bedrohliche und beängstigende Erfahrung, aber ist es nicht auch genau das, wonach wir uns sehnen: dass endlich einer sagt, ich brauch dich, ohne dich geht es nicht, du bist nicht einfach ersetzbar durch jemanden der jünger ist und schneller oder durch einen Computer, der das mit viel weniger Fehlern und Ausfällen kann, was du bisher getan hast.

„Du hast mir mein Herz gefügt und mich willig gemacht, ich hatte nicht gewollt aber du überwandest meinen Willen“ sagt Dietrich Bonhoeffer. Deutlicher kann man nicht sagen, wie schwer wir uns damit tun, Gottes Willen zu folgen, seine Wege zu gehen. Und doch: es ist nicht die Sprache eines Menschen, dessen Willen gebrochen worden ist, dessen Freiheit vernichtet, dessen Seele verstümmelt ist. Hier spricht einer, der erfahren hat – in seinem Ringen – dass er gestärkt wurde, als er Kraft brauchte, dass er gehalten wurde und geliebt, dass ihm vergeben ist, wo er schuldig wurde. So wuchs Dietrich Bonhoeffer die Stärke und der Mut zu, den er brauchte für seinen Weg. Auch Josua und die vielen, vielen ohne Namen, die mit ihm waren hat Gott zugerüstet für den Aufbruch in das neue Land.
Und heute sagt er es zu uns: „Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen.“

Nehmen Sie die Worte mit in den kommenden Wochen und Monaten, sie tun gut, wenn wir uns allein und verloren fühlen, sie spornen an, wenn wir mutlos sind, sie richten auf, wenn uns keiner etwas zutraut.

„Von Guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar, so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr.“

Geborgen unterwegs sein.
Dazu helfe uns Gott im neuen Jahr.

Amen

(1) DBW 13, 348f., Predigt am 3.So.n.Epiphanias 1934.

(2) Wind, R., Dem Rad in die Speichen fallen, 72.

Landesbischof Dr. Friedrich Weber, Braunschweig
landesbischof@luth-braunschweig.de


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