Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

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1. Sonntag nach Epiphanias, 8. Januar 2006
Predigt über Markus 10, 13-16, verfasst von Elisabeth Birgitte Siemen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Text der dänischen Perikopenordnung)

„Lasset die Kinder zu mir kommen,“ sagte Jesus an jenem Tage, als die Mütter mit ihren Kindern zu ihm kamen und die Jünger sie wegjagen wollten. Und im Laufe der Jahre bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass diese Worte zu den besten und wichtigsten im Neuen Testament gehören. Denn diese Worte – in ihrer ganzen und vollen Bedeutung entfaltet und gehört – sie erzählen uns, wer Jesus ist. Und sie erzählen uns, wie Gott ist. Und sie erzählen uns, wer wir selbst sind, nämlich Kinder Gottes.

Einer der großen dänischen Romane aus dem letzten Jahrhundert ist Martin Andersen Nexös „Ditte Menschenkind”. Der Roman handelt von dem Mädchen Ditte, das in seiner gesamten Kindheit und Jugend immer nur im Stich gelassen wird. Ihre Familie ist bettelarm und wird von der Umgebung schief angesehen. Sie hat eine Mutter, auf die sie sich nicht verlassen kann. Sie kommt als Dienstmädchen auf einen Hof, wo der Sohn sie schwängert und die Bäuerin sie hinausschmeißt. Und zum Schluß stirbt sie und hinterlässt eine Schar von Kindern – sie stirbt jung, verbraucht und arm – aber die Liebe hat keinen Schaden gelitten.

In der Einleitung zu dem Roman findet sich ein unglaublich schöner Abschnitt, an den ich oft denken muss, wenn ich einem Neugeborenen begegne. Er lautet so:
„Jede Sekunde wird eine Menschenseele in der Welt geboren. Ein neues Licht wird angezündet, ein Stern, der vielleicht ungewöhnlich schön leuchten wird, der jedenfalls sein eigenes, nie gesehenes Spektrum besitzt. Kein Mensch ist die Wiederholung von anderen oder wird jemals selbst wiederholt werden, jedes neue Wesen ähnelt den Kometen, die nur ein Mal i aller Ewigkeit die Bahn der Erde berühren und eine kurze Zeit ihren leuchtenden Weg über sie hin ziehen.“

Ja, so schön kann man es sagen, wenn man denn Dichter ist. Nun zweifle ich, dass Martin Andersen Nexö ein besonders gutes Verhältnis zur Kirche gehabt hat – ich möchte meinen, dass er eher die Kirche und die Pastoren als einen Teil des Systems betrachtete, das die kleinen Leute in Unterdrückung und Armut niederhielt – und dennoch gibt es für mich eine enge Verbindung zwischen den Worten hier und dem Wort Jesu von heute. Die Worte erzählten, dass der kleine Mensch, Ditte Menschenkind, der auf der Bühne des Lebens herumgetrieben wurde und dessen Leben voller Unglück war – dass auch dieses Leben einen einzigartigen Wert besaß. Wie ein Licht, das angezündet wird, wie ein Stern, der am Himmel leuchtet.

Das klingt zusammen mit den Worten aus dem 8. Psalm, die wir zu Anfang des Gottesdienstes gehört haben:

„Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk,
den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:
was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst,
und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?
Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott,
mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.“

Und auf diesem Hintergrund sollen wir das Wort Jesu hören als das, was jedem einzelnen kleinen Menschen Wert verleiht – und Würde.

Es mag sein, dass dein Leben voller Unglück ist.
Es mag sein, dass andere dich für nichts achten.
Es mag sein, dass nichts sich so enwickelt hat, wie du gehofft oder erwartet hast.

Aber in seinen Augen hast du Wert. Du hast auch einen Platz in der Welt. Du hast auch einen Platz bei ihm. In seinen Augen und gemessen mit seinem Maßstab gibt es niemanden, der zu klein wäre. Dies höre ich als den Kern in Jesu Botschaft. Dies höre ich, wenn Jesus sagt: „Lasset die Kinder zu mir kommen,“ – und wenn er die Einwände der Jünger beiseite schiebt und die Kinder umarmt und segnet.

Dies war es, was Jesus an Menschen tat. Er segnete sie, und er wies auf ihren unendlichen Wert hin. Dies tut er an uns. Dort wo Menschen andere wegschieben würden, weil sie zu klein oder zu dumm oder verkehrt seien – dort nahm Jesus sie zu sich und berührte und segnete sie.

Ich erwähnte vorhin, dass Jesu Wort von den Kindern uns erzählt, wer Jesus ist und wie Gott ist.
Das lässt sich nicht voneinander trennen. Wenn Jesus die Kinder annimmt, zeigt er, dass Gott wie derjenige ist, der annimmt.
Er zeigt, dass Gott anders misst, als wir glaubten.
Die Juden und die Schriftgelehrten hatten einen andere Art und Weise zu messen, ganz wie wir auch.

Die Juden und die Schriftgelehrten maßen die Menschen daran, ob sie den Forderungen des Gesetzes entsprachen und die Regeln des Sabbats und der Reinheit einhielten, nicht gerade der Reinlichkeit, sondern die Regeln der Reinheit, die sie zu Gottes besonderem Volk machten und von anderen unterschieden – von den Unreinen. Den Jüngern war diese Art des Messens sicherlich auch bekannt. Wir wissen nicht, was sie sich gedacht haben, als die Mütter mit ihren Kindern auftauchten. Vielleicht haben sie gedacht, dass die Kinder störten und dass es Zeitverschwendung sei, weil die Kinder ja sowieso nichts verstünden.

Wir kennen auch die andere Art des Messens. Wir wissen sehr wohl, was in der Gesellschaft und in der Kirche Ansehen verleiht. Wir wissen genau, wie ordentliche Menschen ihr Leben zu leben haben. Und es macht keinen Spaß, außerhalb der Norm zu stehen.

Aber Jesus sagte: „Lasset die Kinder zu mir kommen.“ Und wenn wir uns anschauen, wen er sonst noch so um sich versammelte, dann sind das nicht nur die kleinen entzückenden Babys – dann sind es vielmehr alle diejenigen, die die Kleinen geworden sind – die Kranken, die Zöllner, die sündigen Frauen, die Fremden – Menschen, die jeweils den Ansprüchen nicht genügten, Menschen, die hinter den Erwartungen zurückblieben. Und er begnügte sich nicht damit, sie zu dulden und in einer Ecke stehen zu lassen, während er für die Anderen predigte. Nein, er berührte sie, er umarmte sie, er legte seine Hände auf sie und segnete sie. Und er sagte sogar, dass derjenige, der nicht wie ein Kind werde, gar nicht in das Reich Gottes komme.

Jesus maß anders. Er maß nicht mit Gesetz und Ordnung und Normen und all dem sonstigen, dem Menschen nicht gerecht werden können und was uns peinigt und bedrängt. Jesus sprengte alle Bande. Er breitete das Leben aus für die Menschen. Er gab ihnen Platz, wo sie sein konnten. Er gab ihnen Raum, so dass sie frei atmen und leben konnten.

Das bedeutete nicht, dass nun alle die Anständigen und Ordentlichen – die Schriftgelehrten und Jünger und all die anderen guten Menschen – hingehen und sich im Dreck wälzen sollten, wenn sie zu ihm gehören wollten – sondern das bedeutete, dass sie alle gleich waren. Vor Gott leben wir nicht von dem, was wir selbst tun können, wir leben davon, dass Gott uns annimmt. Wir leben davon, dass er uns seine Kinder nennt. Wir leben davon, anzunehmen. Wie das kleine Kind annehmen kann.

Deshalb sagt Jesu Wort von den Kindern uns heute, wer wir selbst sind. Denn sein Wort handelt auch von uns.

Ich weiß nicht, wem wir am meisten gleichen. Ob wir den Schriftgelehrten oder den Jüngern oder Anderen gleichen, die wussten, was Gesetz und Ordnung heißt und wie ein ordentliches Leben zu führen sei. Oder ob wir denen am meisten gleichen, die dem allen nicht richtig entsprechen konnten.

Aber das, was wir heute hören, ist dies, dass Jesus die Großen duckte und die Kleinen erhob.

Und daran sollen wir denken auf unserer Wanderung durch’s Leben – dass wir, wenn wir einen Menschen mit Verachtung ansehen, der das Leben nicht recht meistert und um den wir am liebsten einen großen Bogen machen möchten – dass wir dann das Wort von heute festhalten und uns an den Meister erinnern sollen, der die Kleinen berührte und segnete – und wenn es unser eigenes Leben ist, das so geworden ist, dass wir nicht zu ihm stehen können, dann erinnert das Wort uns daran, dass hier – im Hause Gottes, hier wo wir Jesu Wort über die Kinder hören – dass hier auch Platz ist für jemanden wie mich.

Hier erhalten wir die Würde, die wir uns nicht selbst geben können. Und nein, das ist kein leichter Weg, auf den man sich begibt, denn es ist ein Weg, der sich auf so vielerlei Weise im Widerspruch befindet zu all dem, was wir sonst erleben und für wahr halten.

Aber es gibt – im Grund – keinen anderen Weg, der gangbar wäre.

Das Evangelium des heutigen Tages handelt nicht von Taufe. Aber das Evangelium von heute handelt davon, was die Taufe bedeutet. Sie bedeutet nämlich den Weg zum Leben und zur Wahrheit. Die Wahrheit über uns selbst, als diejenigen, die wie ein kleines Kind als Schwache, Verlorene, Unwürdige kommen. Zum Leben selbst kommen, das Jesus Christus ist. Und daran darf niemand uns hindern!

Pastorin Elisabeth Birgitte Siemen
Kirsebærbakken 1
DK- 2830 Virum
Tel.: +45 45 85 63 30
e-mail: ebsi@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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