Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

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3. Sonntag nach Epiphanias, 22. Januar 2006
Predigt zu 2. Kön. 5, (1-8) 9-15 (16-18) 19a, verfasst von Walter Meyer-Roscher
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Dieser Mann hat es geschafft. Er ist ganz oben. Er wird geachtet, respektiert, gefürchtet. Er hat Einfluss und er hat Macht. Seine Karriere ist beispiellos. „Ein trefflicher Mann“, übersetzt Luther, „und wert gehalten…, ein gewaltiger Mann“ im Herrschaftsbereich seines Königs. Er setzt sich durch und er glaubt an sich – so könnte man in der Beschreibung vom Feldhauptmann Naaman wohl fortfahren.

Aber da befällt ihn plötzlich diese Hautkrankheit, die alles Erreichte wieder in Frage stellt. Mit der Krankheit kommt die Angst, sein Glaube an die eigene Macht und die eigenen Kräfte könnte sich als Irrglaube erweisen; sein Glaube, das Leben sei für einen Mann wie ihn in allen Situationen machbar, könnte trügen; sein Glaube, gelingendes Leben hinge allein vom eigenen Willen und vom eigenen Können ab, könnte zerfallen wie seine Gesundheit. Dann würde er nichts mehr gelten und nichts mehr wert sein. Eine schreckliche Vorstellung!

Wir besiegen heute Krankheiten wie den Aussatz, medizinischer Fortschritt kann Heilung oder zumindest Linderung von Erkrankungen der Haut bewirken. Aber eine Medizin gegen die Angst, plötzlich nicht mehr mithalten zu können im Konkurrenzkampf des Lebens, nicht mehr als vollwertig angesehen zu werden in einer auf Leistung bedachten Gesellschaft, Respekt und Einfluss zu verlieren, eine solche Medizin können wir nicht erfinden.

Darum sind wir so darauf bedacht, nach außen hin nur ja kein Anzeichen von Krankheit und Schwäche zu zeigen, möglichst lange Stärke und Selbstbewusstsein zu demonstrieren, den Anschein von Unersetzlichkeit aufrecht zu erhalten. Aber die schleichende Angst bleibt.

„Danke, mir geht’s gut“, ist ein Gedicht überschrieben, das diese schleichende Angst aufnimmt.

„Danke, mir geht’s gut! Wir tragen unsere Wunden innen.
Angeschossen – wir alle.
Mitten im Frieden, mitten im Herzen der Schmerz.
Danke, mir geht’s gut! Wir leben den Alltag mit offenen Wunden,
Begegnen einander mit offenen Wunden.
Lachen und lieben mit offenen Wunden.
Danke, mir geht’s gut!
Wir tragen unsere Wunden innen aus Angst vor der Wahrheit.“

Niemand kann sein Leben allein auf dem Fundament eigener Kraft, eigenen Könnens und eigenen Willens aufbauen. Niemand kann lebenslang und ausschließlich sein Vertrauen auf Leistung, Anerkennung und Einfluss setzen. Es gibt Situationen im Leben jedes Menschen, in denen die Gesetze und Regeln, nach denen unser Leben und das Zusammenleben in der Gesellschaft sonst funktionieren, plötzlich nicht mehr greifen. Unsere Kompetenz und unser Können werden brüchig, unser Selbstbewusstsein trägt nicht mehr. Da sind wir allein und müssen umdenken, unser Leben neu begreifen und auch unser Angewiesensein auf andere Menschen neu verstehen. Diese Wahrheit kann verwunden, und diese Wunden tragen wir innen.

Der „treffliche Mann“ in unserer Geschichte will es zunächst nicht wahr haben. Noch glaubt er, dass mit guten Beziehungen zu den Mächtigen und mit sehr viel Geld nach wie vor alles machbar ist. Noch meint er, den fremden Propheten kraft seines Reichtums und seines Einflusses für sich benutzen zu können. Aber der reagiert nicht so, wie er soll. Das Konzept des selbstsicheren Mannes, weiterhin aus eigener Kraft die Kontrolle über sein Leben zu behalten, scheitert noch vor der Haustür des Propheten. Naaman bleiben nur Wut und Aggression, Frustration und Verzweiflung. Die Wahrheit hat ihn eingeholt und ent-täuscht.

Ja, so weit kann es kommen – bis zur Enttäuschung, dass die Lebens- und Gestaltungsmöglichkeiten zurückgehen, die Angst, vielleicht auch die Wut und die Verzweiflung wachsen. Was aber hilft dann noch?

Wenn wir auf die Erzählung aus alter Zeit von einem kranken Feldhauptmann und einem eigenwilligen Propheten des Alten Testaments hören, dann beginnt sich die Situation zu wandeln, als der mächtige Naaman sich aus dem Panzer seiner Selbstsicherheit löst, auf andere Menschen hört und sich von ihnen helfen lässt.

Die kleinen Leute, die sonst nichts gelten, geben den Anstoß, bringen unsere Geschichte weiter und lassen Hilfe möglich werden, Das beginnt ja schon mit dem Rat der jungen hebräischen Sklavin im Haus Naamans daheim. Wir können uns ihr Schicksal vorstellen: ein entführtes Kriegsopfer mit allen Verwundungen und Traumatisierungen, die solch ein Schicksal mit sich bringen kann. Ihren Glauben aber hat sie sich bewahrt und damit eine andere Lebenseinstellung als die der selbstsicheren Macher, die frustriert und verzweifelt aufgeben, wenn sie am Ende sind.

Erst ist es diese junge Frau und später sind es Naamans Diener, die das verzweifelte Ende verhindern. Gegen alle Regeln, die bisher sein Leben und sein Verhältnis zu anderen Menschen bestimmten, lässt sich der gewaltige Mann auf ihren Rat und auf ein scheinbar sinnloses Experiment ein. Er steigt – wie vom Propheten befohlen – in das Wasser des Jordans, dem man eigentlich keine Heilkraft zutrauen kann. Wider alles Erwarten, wider alle Regeln menschlicher Heilkunst, wider alle Gesetze, nach denen das Leben verläuft, wird er geheilt.

Aber diese wunderbare Heilung ist noch nicht das Ziel der uralten Erzählung. Am Ende erkennt der erst so selbstsichere und dann so verzweifelte Mann: Nun weiß ich, dass der Glaube an alle unsere Götter ein Irrglaube ist. Nun weiß ich, dass es keinen Gott gibt außer dem, den der Prophet bezeugt.

Dem Eintauchen in die Tiefe des fremden Flusses vergleichbar hat er bei seinem Abstieg von der Oberfläche seiner alltäglichen Geschäftigkeit eine neue Lebenseinstellung gefunden – durch das Vertrauen auf Gott, den er als seinen Schöpfer und Herrn erkennt. Er kann, wie der Prophet es ihm wünscht, „mit Frieden“ seinen weiteren Weg gehen.

Das also gibt diese Erzählung über Jahrtausende weiter: Leben ist mehr als heile Haut. Leben heißt, über dem Wissen um die eigenen Kräfte und Fähigkeiten, über der Kenntnis aller Regeln und Gesetze einer modernen Gesellschaft, über unserer alltäglichen Geschäftigkeit nicht den Glauben an Gott zu vergessen. Leben heißt, im Vertrauen auf diesen Gott, seine Zusagen und seine Gebote, den eigenen Weg zu gehen, sich dabei auch von anderen helfen zu lassen und sich anderen zuzuwenden. Leben hat mit dem Frieden zu tun, den der Prophet des Alten Testaments dem davon ziehenden Naaman mitgegeben hat.

Wenn ein Mensch im Frieden mit sich selbst und mit anderen zu leben lernt, beginnen seine inneren Wunden zu heilen. Die bisher das Leben bestimmende und Angst machende Wahrheit wird brüchig, ebenso wie die Wertvorstellungen, die bisher allein gültig waren, ihre ausschließliche Geltung verlieren. Selbstvertrauen und Stärke, Leistung und Können, Verdienst und Anerkennung sind nicht mehr Götter, die Anbetung und Opfer fordern. Das Vertrauen auf Gott, unseren Schöpfer und Herrn, und die Wertschätzung, die wir von ihm erfahren, zählen mehr und lassen innere Wunden heilen. Seine Gebote helfen uns, Lebensentscheidungen und Verpflichtungen in einem neuen Licht zu sehen und öffnen uns die Augen für die Menschen neben uns. Dann wird uns der Wunsch des Propheten begleiten: „Zieh mit Frieden!“ Amen

Walter Meyer-Roscher
Landessuperintendent i.R.
Hildesheim
meyro-hi@arcor.de


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