Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Septuagesimae, 12. Februar 2006
Predigt zu Jeremia 9, 22-23, verfasst von Heinz Janssen
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„Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut“

Predigttext : Jeremia 9,22-23 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
(22) So spricht GOTT: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums.
(23) Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich erkenne, dass ich GOTT bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit
übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht GOTT.

Gebet (mit Worten von Dietrich Bonhoeffer * 4.02.1906, + 9.04.1945)

Gott, zu Dir rufe ich in der Frühe des Tages.
Hilf mir beten und meine Gedanken sammeln zu Dir;
ich kann es nicht allein.

In mir ist es finster, aber bei Dir ist das Licht;
ich bin einsam, aber Du verlässt mich nicht;
ich bin kleinmütig, aber bei Dir ist die Hilfe;
ich bin unruhig, aber bei Dir ist der Friede;
in mir ist Bitterkeit, aber bei Dir ist die Geduld;
ich verstehe Deine Wege nicht, aber Du weißt den Weg für mich.

Vater im Himmel,
Lob und Dank sei Dir für die Ruhe der Nacht,
Lob und Dank sei Dir für den neuen Tag.
Lob und Dank sei Dir für alle Deine Güte und Treue in meinem vergangenen Leben.
Du hast mir viel Gutes erwiesen,
lass mich nun auch das Schwere aus Deiner Hand hinnehmen.
Du wirst mir nicht mehr auflegen, als ich tragen kann.
Du lässt Deinen Kindern alle Dinge zum Besten dienen.

Predigt

Liebe Gemeinde!
Von Weisheit, Stärke und Reichtum ist in unserem Predigttext aus dem Jeremiabuch die Rede. Weisheit, Stärke und Reichtum – wer möchte nicht etwas davon haben! Weisheit – im Sinne von Lebensweisheit – zu erlangen, ist bis heute ein hohes Ziel des Menschen geblieben; wer könnte von sich behaupten, dass er es erreicht hätte. Stärke – ich meine nicht die Ellenbogenstärke – wünsche ich mir besonders in Bedrängnissen, eine Kraft, die mich stützt und mir hilft, durchzuhalten. Bei Reichtum denke ich nicht allein an die materiellen Dinge, an Geld und Grundbesitz, wovon ich jedem Menschen soviel wünsche, dass er sein Leben in Würde gestalten kann; sondern ich meine einen Reichtum, der mich befähigt, mit anderen Menschen zusammenzuleben, mit ihnen zu kommunizieren, auf sie zu hören und von ihnen zu lernen – um unseres Menschseins und um Gottes willen. Hören wir nocheinmal(Jeremia 9,22):

So spricht GOTT:

Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit,
ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke,
ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums.

Der Prophet Jeremia meldet sich damit zu Wort, er tritt, wie das „So spricht GOTT“ betont, als Sprecher Gottes auf, als Gottes Bote, der seinem Volk etwas sagen muss. Dabei scheint der Prophet hier weniger zurechtweisende Töne anzuschlagen als solche, die den Weg weisen: die den Menschen vor dem wenig gemeinschaftsfördernden Selbstruhm, dem Eigenlob, bewahren und ihn auf eine andere Lebenseinstellung einstimmen wollen.

Dem Dreiklang menschlicher Möglichkeiten - Weisheit, Stärke, Reichtum - stellt der Prophet den Dreiklang der Barmherzigkeit, des Rechts und der Gerechtigkeit Gottes gegenüber (Jeremia 9,23):

Sondern

wer sich rühmen will,
der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich erkenne,
dass ich GOTT bin,
der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit
übt auf Erden;
denn solches gefällt mir,
spricht GOTT.

Weisheit und Barmherzigkeit

Mit einem „weisen“ Menschen verbinden wir, dass er sehr viel Wissen und Lebenserfahrung hat. Wissen und Lebenserfahrung bestimmen sein Handeln. In Verbindung mit der Barmherzigkeit, der Barmherzigkeit Gottes, wird dieses Handeln den Menschen, einer Gesellschaft, einem Volk, Gutes bringen. Barmherzigkeit im Sinn von liebender Zuwendung und Gemeinschaftssinn lenken das Wissen in die richtige Bahn. "Wissen ist Macht" – wir kennen diesen Ausspruch. Zum persönlichen Vorteil, egoistisch genutzt, zu Machtspielen missbraucht, kann kein Wissen zur Weisheit führen, die das Leben wenigstens ein Stück weit erkundet und sich seinem Geheimnis naht. Das biblisch-hebräische Wort für Weisheit, chokma, hat etwas mit der Kenntnis des Lebens, mit Lebenserfahrung und Lebensbewältigung zu tun. Der auf solche Weisheit bedachte Mensch weiß noch etwas Entscheidendes: Ohne Gottes Anteil nehmende Zuwendung wäre sein Handeln hohl und leer – er würde einem Baum ohne Wurzeln gleichen oder einem Fluss ohne Quelle. „Bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht“, weiß der betende Mensch des 36.Psalms. Bei Gott finden wir, was uns im Leben Halt gibt und trägt, in der Verbindung und Beziehung zu Ihm beginnt alle wahre Menschenweisheit - „Der Weisheit Anfang ist die Furcht GOTTES“, heißt es im Buch der Sprüche Salomos (Prov 9,10. Für uns ist heute im umfassenden Sinn die Bibel Quelle der Weisheit, aus der wir bei der Suche nach Orientierung, Hilfe und Trost immer wieder schöpfen.

Stärke und Recht

Folgen wir weiter dem Dreiklang des Gotteswortes. Welche Stärke brauche ich, jetzt in meiner Lebenssituation? Wo will ich mich selbst für andere stark machen? Es geht hier nicht um militärische Macht oder um Gewalt auf dem Schulhof, und es geht nicht nach dem Motto "Der Stärkere siegt". Der Prophet weist auf eine Stärke hin, die mit dem Gott zu tun hat, der will, dass wir auf das Recht des anderen Menschen bedacht sind, für ihn eintreten, wenn er benachteiligt wird, ihn in Schutz nehmen, wenn andere über ihn herfallen. So entsprechen wir dem Willen Gottes, so „üben“ wir uns in seinem Recht, das unser Miteinander fördern und das Gegeneinander überwinden will, mit Gott „allen Recht schaffen, die Unrecht leiden“ (Psalm 103,6) – es gibt heute viele auch organisierte Möglichkeiten mitzuwirken (Beispiele…), so sind wir „Familia Dei“, Gottes große Völkerfamilie.

Wir brauchen auch Charakterstärke, um den vielfältigen negativen Versuchungen im täglichen Leben zu widerstehen, um sich gegen das Böse für das Gute zu entscheiden. Entscheiden wir uns für das Recht Gottes und jagen wir nicht dem Rechthabenwollen um jeden Preis nach und der Durchsetzung des Rechtes mit aller Gewalt, so ist jeder Tag der Beginn der Welt, wie sie Gott gewollt hat und wie sie ihm „gefällt“ (Jeremia 9,23). Ihm soll unser Halleluja gelten - „Laudate, omnes gentes, laudate Dominum“, „Lobsingt, ihr Völker alle, lobsingt und preist den Herrn“!

Reichtum und Gerechtigkeit

Zum dritten Ton im Dreiklang: Mit einer Lebenseinstellung, die sich an Gott hält, müssen wir nicht arm, mittellos, sein; materieller Reichtum wird von Jeremia nicht pauschal verurteilt.Rechtmäßig muss der Reichtum erworben sein, nicht ergaunert und gestohlen. Er darf als Frucht meiner Arbeit oder der Arbeit meiner Vorfahren mir selbst Freude bereiten. Aber genieße ich diesen Reichtum nur selbst und verpflichtet er mich nicht, damit auch anderen zu helfen, hat der Geiz schon Einzug gehalten, und die Freude verwandelt sich in Furcht um den Besitz. Reichtum in Verbindung mit der Gerechtigkeit Gottes, einer Lebensethik, die sich für das Wohl einer Gemeinschaft und eines Ganzen mitverantwortlich weiß, vervielfachen dagegen die Freude. Zu schenken, wo Not ist, abzugeben, zu teilen, wenn um Hilfe gerufen wird - dies bereichert das menschliche Herz, und es kommt zum größten Reichtum, den uns Gott geschenkt hat. Nicht um den „guten Menschen“ geht es, sondern um den Menschen, der sich von Gottes Gutsein berühren und in seinem Handeln bestimmen lässt.

Klugheit und Gotteserkenntnis

Ein Mensch, der sich auf den Dreiklang der Barmherzigkeit, des Rechts und der Gerechtigkeit Gottes einstimmen und davon (rational und emotional) bestimmen lässt, ist, wie Jeremia hervorhebt, „klug“, das heißt (im Sinne des entsprechenden hebräischen Wortes): Dieser Mensch zeigt Einsicht in das Handeln Gottes, es leuchtet ihm ein, und er erlebt es wie ein Licht auf seinem Lebensweg. Er erkennt und anerkennt Gott, dass Gott da ist, für uns da ist, wie es der israelitisch-jüdische Gottesname zum Ausdruck bringen will (2.Mose 3,14). Dieser Gottesname steht für "Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit" (Jeremia 9,23). Finden wir zu solcher Erkenntnis, kann und darf unsere dankbare und die liebende Zuwendung Gottes erwidernde Antwort im täglichen Leben nicht ausbleiben. „Selig seid ihr, wenn ihr lieben lernt – Selig seid ihr, wenn ihr Lasten merkt – Selig seid ihr, wenn ihr Unrecht spürt“ (EG 667, Anhang Baden, Elsass und Lothringen). Und wenn uns Hartherzigkeit und Ungerechtigkeit niederschlägt und hilflos macht? - Kyrie eleison.

Wissen um Gott ist hier mehr als das Wissen, von dem man zu sagen pflegt, es sei Macht. Wissen um Gott bezieht den anderen Menschen, ja die ganze Schöpfung ein. Es wächst und weitet sich in der konkreten Erfahrung in der Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, wie wir mit Konflikten umgehen, wie wir auf andere Menschen zugehen, die in schwierigen Lebenssituationen sind, kurz: ob wir es wagen, den Weg des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe zu gehen...

Alles zielt auf die Entfaltung des Lebens, zu einem umfassend guten Leben, in dem wir gerade in bedrängenden Lebenserfahrungen gehalten und getragen sind. Darauf zu achten bedeutet „Klugheit“, von welcher der Prophet Jeremia im Namen Gottes spricht, eine Einsicht, die sich von dem Vertrauen inspirieren lässt, dass Gottes Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit sich durchsetzen und letztlich stärker sind als alle Angst machenden und zerstörerischen Kräfte, die Menschen leider immer wieder erfahren. Dem setzt Gott etwas entgegen: Eine Erfahrung, um die der Prophet Jeremia und später der Apostel Paulus wussten: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“, spricht Gott (2.Korinther 12,9), das heißt, Gottes Kraft erreicht ihre Vollendung dort, wo wir - angesichts von Hartherzigkeit, Rechtsbeugung und mangelndem Unrechtsbewusstsein, aber auch angesichts von vielfältigen Leiderfahrungen - Ohnmacht empfinden und menschlich an eine Grenze stoßen. Solcher Schwachheit können wir uns sogar „rühmen“, wie Paulus noch bekräftigt (2.Korinther 11,30) und in direktem Rückbezug auf unsere Jeremiaworte der Gemeinde zuruft: „Wer sich aber rühmt, der rühme sich des Herrn“ (1.Korinther 1,31; 2.Kor. 10,17).

Für solche Einsichten bedarf es der „Übung“ (Jeremia 9,23), der "Schulung", ein Forum dafür will die Kirche sein, ich denke z.B. an die Kinder- und Jugendarbeit, die in die Konfirmation mündet - hier geht es um die Einübung von Gemeinschaftssinn und damit verwoben um die Frage nach dem Sinn unseres Lebens, wer Gott für uns ist, um das Aussprechen von Fragen und Klagen, auch Zweifeln, die uns kommen.

Gottes Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit sind gute und heilsame Kräfte.
Heute, am Sonntag Septuagesimae, 70 Tage vor Ostern, beginnt im Kirchenjahr die Zeit, in der wir in unseren Gottesdiensten, Andachten und kirchenmusikalischen Veranstaltungen den Weg Jesu von Nazareth besonders bedenken, diesem durch die tiefsten Tiefen menschlichen Lebens führenden Weg nach-denken, dabei unsere eigene Lebensgeschichte nicht außen vor lassen, sondern sie in das Bedenken der Passion Jesu mit hineinnehmen. Machen wir uns mit Jesus auf den Weg, vielleicht nocheinmal ganz neu, auch wenn ich auf so manchem meiner Wege Gottes Wege nicht verstehe. „Ich verstehe Deine Wege nicht, aber Du weißt den Weg für mich“, betete Dietrich Bonhoeffer in einem Morgengebet. Als christliche Gemeinde glauben, vertrauen, zu dürfen, dass in Jesus von Nazareth, dem gekreuzigten und auferstandenen Christus, dem kein Leid fremd war, (wie der Apostel Paulus einmal schreibt) – „alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen liegen“ (Kolosser 2,3) und Gott in ihn sogar „zur Weisheit und zur Gerechtigkeit“ in Person gemacht hat (1.Korinther 1,30) – welch ein Reichtum – „Geheimnis des Glaubens“! Das Botenwort des Propheten Jeremia von Anatot sucht nach über 2600 Jahren seit seiner Ausrufung und Niederschrift auch heute noch seine Boten. Und wir können jetzt vielleicht das Gebet des Propheten Jeremia besser verstehen, wenn er Gott bittet: „Heile du mich, Herr, so werde ich heil, hilf du mir, so ist mir geholfen; denn du bist mein Ruhm“ (Jeremia 17,14).

Amen.

Anhang zum Predigttext

Zur literarischen Form und Abgrenzung der Perikope

Jer 9,22f. liegt formal ein Botenspruch vor, dieser wird durch die Botenspruchformel („So spricht/hat gesprochen GOTT“) eingeleitet und durch die Offenbarungsformel („spricht/hat gesprochen GOTT“) ausgeleitet. Damit ist der Inhalt als Gotteswort autorisiert und legitimiert. Durch die beiden literarischen Formeln ist Jer 9,22f. gegenüber dem vorangehenden und folgenden Zusammenhang deutlich abgegrenzt. Inhaltliche Verbindungslinien führen auf verschiedene Zusammenhänge im Jeremiabuch, hingewiesen sei auf Jer 9,11; 8,8f.; 4,22b; 22,16:

„Wer ist nun weise, daß er dies verstünde, und zu wem spricht des HERRN Mund, daß er verkündete, warum das Land verdirbt und öde wird wie eine Wüste, die niemand durchwandert?“

„Wie könnt ihr sagen: »Wir sind weise und haben das Gesetz des HERRN bei uns«?
Ist's doch lauter Lüge, was die Schreiber daraus machen. Die Weisen müssen zuschanden, erschreckt und gefangen werden; denn was können sie Weises lehren, wenn sie des HERRN Wort verwerfen?“

Kritische Worte zur Weisheit des Volkes, das sie im durch und durch pervertierten Sinn praktiziert:
„Weise sind sie genug, Übles zu tun, aber rechttun wollen sie nicht lernen“.

Vorbildlich wird König Josias „Weisheit“ genannt, weil er dem Elenden und Armen zum Recht half und damit wahre Gotteserkenntnis gezeigt und praktiziert hat: „Er half dem Elenden und Armen zum Recht, und es ging ihm gut“.

Zur Intention der Perikope

Jeremia soll als Bote GOTTES mit seinem Volk eine Auseinandersetzung um „Weisheit“, „Stärke“ und „Reichtum“ führen, Werte, die damals wie heute im gesellschaftlichen Leben eine große Rolle spielen: will doch einer mehr sein und mehr haben als der andere und sich brüsten mit seinem Wissen/Können, seiner Macht und seinem materiellen Gütern – „Dünkel und Selbstsicherheit“ (W. Rudolph, S.69) sind die Folgen einer solchen Lebenshaltung.

Vor Gott haben aber Weisheit, Stärke und Reichtum andere Kennzeichnungen: Ein „weiser“ Mensch (hebr. chakam, vgl. das Nomen chokma, V.22) zeigt Einsicht in Gottes Wege und Handeln (so die Bedeutung des hebr. Verbes skl hif., das Martin Luther mit „klug sein“ übersetzt), er erkennt und liebt Gott (so die die Liebe zu Gott einschließende Bedeutung des hebr. Verbes jd`, das gewöhnlich mit „wissen, (er-)kennen“ übersetzt wird). Sicher ist es kein Zufall, dass auf die drei Nomina in V.22 „Weisheit, Stärke, Reichtum“ in V.23 nocheinmal drei folgen: „Barmherzigkeit, Recht, Gerechtigkeit“, sie interpretieren, was „Weisheit, Stärke, Reichtum“ vor Gott sind und bedeuten. Der Weisheit (hebr. chochma) stellt der Prophet die von Gott gewirkte „Barmherzigkeit“ gegenüber (das hebr. Nomen chäsäd bedeutet die innige Verbundenheit/Solidarität/Gemeinschaft Gottes mit den Menschen), der „Stärke“ das „Recht“ (hebr. mischpat = Rechtsentscheid, der dem anderen Menschen gerecht wird, ihm zu seinem Recht verhilft), dem „Reichtum“ die „Gerechtigkeit“ (heb. zedaka = Rechtverhalten, Gerechtwerden); bei allen drei Kennzeichnungen in V.23 handelt es sich um Beziehungsaussagen zwischen Gott und Mensch.

An Gottes Handeln soll der Mensch/das Volk erkennen, was es heißt, „weise“ zu leben, „Stärke“ zu zeigen und zur „Bereicherung“ beizutragen; es geht zutiefst darum, einander gerecht zu werden, dann kommt das Gott-Erkennen/Lieben zum Gott wohlgefälligen Ziel („solches gefällt mir“, V.23 vgl. Lukas 2,14). Auf die Beantwortung der Gottesfrage kommt alles an, und alles hängt davon ab, ob der Mensch dem Menschen ein Wolf bleibt („homo homini lupus“) oder ihm zum Menschen, der Gottes Willen entspricht, wird („homo homini Deus“), kurz: ob der Mensch „wesentlich“ (Angelus Silesius) wird. Dann hat der Mensch wirklichen Grund, „sich zu rühmen“, weil er damit keinen anderen als Gott rühmt, der in ihm „das Wollen und Vollbringen“ (Philipper 2,13) wirkt. Was Martin Luther mit „sich rühmen“ übersetzt, ist im Hebräischen hll (II) hitp., wir kennen das Wort aus unserer Liturgie, wenn wir mit dem hebräischen Wort HALLELUJA zum Lobpreis Gottes, zum „Rühmen“ seiner großen Taten aufrufen – „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ (EG 179, vgl. die Hallel-Psalmen).

Zur Hermeneutik (Alttestamentlicher Text und christliche Predigt)

Von dieser Sicht in Jer 9,22-23 wird verständlich, was zB in Prov 9,10 zusammengefasst bzw. auf den Punkt gebracht ist: „Der Weisheit Anfang ist die Furcht GOTTES“. Wie stark die Anthropologie und Theologie der prophetischen Aussagen aus Jer 9,22-23 weiterwirkten und keineswegs „alttestamentlich“ im Sinne von „alt/vergangen“ blieben, sondern auch die Formulierung des christlichen Kerygmas prägten, zeigt die direkte Bezugnahme auf die Perikope durch den Apostel Paulus in seiner umfassenden Reflexion über die Weisheit in 1.Korinther 1,18-3,23 (hier 1,31 = 2.Kor 10,17 mit verkürztem Zitat aus Jer 9,23): „Wer sich rühmt, der rühme sich des KYRIOS“ (= JHWH/GOTT), und GOTT ist es, so betont der Apostel, der „Christus Jesus…uns…zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung“ „gemacht“ hat (1.Kor. 1,30).

Zur Bedeutung des Predigttextes im Kirchenjahr

Am Sonntag Septuagesimae, 70 Tage vor Ostern, beginnt im Kirchenjahr die Zeit, in der wir in unseren Gottesdiensten, Andachten und kirchenmusikalischen Veranstaltungen den Weg Jesu von Nazareth besonders bedenken, diesem durch die tiefsten Tiefen menschlichen Lebens führenden Weg nach-denken, dabei unsere eigene Lebensgeschichte nicht außen vor lassen, sondern sie in die Meditation der Passion Jesu mit hineinnehmen. Machen wir uns mit Jesus auf den Weg, vielleicht nocheinmal ganz neu (darin sehe ich die Chance, die mir die gute Ordnung des Kirchenjahres gibt), auch wenn ich auf so manchem meiner Wege Gottes Wege nicht verstehe. „Ich verstehe Deine Wege nicht, aber Du weißt den Weg für mich“, betete Dietrich Bonhoeffer in seinem Morgengebet für Mitgefangene (1943, in: „Widerstand und Ergebung“). Als christliche Gemeinde glauben, vertrauen, zu dürfen, dass in Jesus von Nazareth, dem gekreuzigten und auferstandenen Christus, dem kein Leid fremd war, „alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen liegen“ (Kolosser 2,3) – welch ein Reichtum – „Geheimnis des Glaubens“! Das Botenwort des Propheten Jeremia von Anatot sucht nach über 2600 Jahren seit seiner Ausrufung und Niederschrift auch heute noch seine Boten.

Literatur : W. Rudolph, Jeremia, HAT 12, 1968, z.St.; A. Weiser, Das Buch Jeremia, ATD 20/21, 1977, z.St.; G. Fischer, Jeremia 1-25, HThKAT, 2005, z.St.; D. Bonhoeffer, Morgengebet, in: Widerstand und Ergebung.

Lieder : „Du hast uns, Herr, gerufen“ (EG 168,1-3), „Laudate, omnes gentes“ (EG 181.6), „Gott liebt diese Welt“ (EG 409), „Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut“ (EG 662, Anhang Baden, Elsass und Lothringen), „Du hast uns, Herr, gerufen“ (EG 168,4-6):

Heinz Janssen
Pfarrer an der Providenz-Kirche in Heidelberg (Altstadt/City)
providenz@aol.com


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