Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Septuagesimae, 12. Februar 2006
Predigt zu Jeremia 9, 22-23, verfasst von Ulrich Braun
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Weisheit, Rat, Verstand und Zucht

"So spricht der Herr: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der Herr."

Liebe Gemeinde!

Texte wie dieser verführen zu kurzen Schlüssen. Wenn man sich weder seiner Weisheit, noch seiner Stärke rühmen soll, und seines Reichtums schon gleich gar nicht, dann müssen das wohl recht verachtenswerte Güter sein – könnte man denken. Und so hat sich über die Zeiten aus den solchermaßen samt Kindergehalt ausgeschütteten Bädern eine Unterströmung der Religion entwickelt, über die hier ein offenes Wort gewagt sein will.

Gemeint ist die Verachtung von Weisheit und Stärke und die ausgeprägte Schmähung des Reichtums. Von einer gesunden Zurückhaltung gegenüber allen flüchtigen, begrenzten, eben vergänglichen Gütern wird freilich noch zu reden sein. Aber zunächst soll es um einen anti-intellektuellen Affekt gehen, der sich als Kurzschluss aus Texten wie diesem über die Zeiten ergeben hat.

Dazu ein Beispiel: Vor etwa einem Jahr habe ich die Trauerfeier für einen Professor der Astrophysik besucht. Er war zuletzt in einem Wohnstift gepflegt worden, hatte seine Frau lange überlebt und war nun kinderlos und ohne nahe Verwandte verstorben. Da er sehr alt geworden war, gab es in der Trauergemeinde niemanden aus seiner Generation. Wie es schien, waren diejenigen, die gekommen waren, allesamt Vertreter von Einrichtungen, Vereinen und der Universität.

Ich selbst war mit einer Theologie-Studentin, die in unserer Gemeinde ein Praktikum machte, einigermaßen wahllos in die Trauerfeier geraten, kannte also den Verstorbenen auch nicht. Dem Pfarrer, der die Trauerfeier hielt, ging es nicht anders. Er war überdies als Superintendent im Ruhestand nur Vertreter des zuständigen Gemeindepfarrers.

Die Mühsal, unter diesen Umständen überhaupt zuverlässige Nachrichten über das Leben des Verblichenen zu gewinnen, ließ er am Anfang seiner Trauerrede durchblicken. Dann aber hatte er sein Thema gefunden: die mutmaßliche Gelehrsamkeit des Mannes einerseits und deren letztendliche Nutzlosigkeit andererseits. Was könne man nicht alles über den Kosmos erforschen, fragte der Prediger. Die Betonung der Sätze ließ indes keinen Zweifel darüber zu, was von solchen Erkenntnissen zu halten ist.

Stattdessen malten Psalmverse das Bild alternativer und unvergänglicher Weisheit. Davon war die Rede, dass es Erkenntnis gebe, die zu hoch und zu wunderbar sei, sie zu begreifen (Psalm 139, 6), die aber gleichwohl die wahre Weisheit sei und auf irgendeine Weise auch zur Verfügung stünde.

Wie diese Weisheit und Erkenntnis nun genau zur Verfügung steht? Nun, da muss mir etwas von der Trauerrede entgangen sein. Vielleicht hatte ich schon angefangen, mich zu fragen, ob denn der Verstorbene aus seiner Gelehrsamkeit irgendwelche überzogenen Ansprüche abgeleitet hatte. Anhaltspunkte dafür gab es für den Prediger wohl nicht. Außer eben einem prinzipiellen Vorbehalt gegen ein Wissenssystem, das seiner Methodik gemäß von der Frage nach Gott absieht.

Dass die moderne Wissenschaft von dieser Frage absieht, heißt nun keineswegs, dass sie sich gegen die Religion richtet oder auch nur richten könnte. Sie stellt die Frage eben nicht. Also wird sie auch nicht beanspruchen, sie zu beantworten.

In Konflikt geraten beide, Wissenschaft und Religion dann und immer dann, wenn an dieser relativ scharfen methodischen Demarkationslinie Grenzscharmützel ausbrechen. Wie zum Beispiel in der Debatte um Evolutionstheorie versus intelligent design. Dort wird von solchen, die die Evolutionstheorie als Angriff auf die Religion empfinden, die Annahme in Stellung gebracht, hinter der Entwicklung der Arten, des Lebens insgesamt und überhaupt des ganzen Universums müsse ein ordnender und lenkender Verstand, kurz: der Schöpfer, stehen.

Als wissenschaftliche Hypothese ist die Annahme durchaus interessant. Es ließe sich damit überlegen, ob es eine Richtung, ein Prinzip und möglicherweise ein Ziel der Entwicklung des Lebens gibt. Ob man bei der Arbeit mit einer solchen Hypothese tatsächlich beim jüdisch-christlichen Schöpfergott landen würde, bliebe abzuwarten. Dort, wo man von Anfang an nur den Gedanken an den Schöpfergott zulässt, wird man sich allerdings vom Anspruch der Wissenschaftlichkeit dieser Hypothese verabschieden müssen.

Auf der anderen Seite, nämlich der Seite der Naturwissenschaft, gibt es solche Grenzverletzungen freilich ebenso. Nicht wenige haben Darwins Vorstellung von der Entwicklung der Arten für einen Angriff oder gar eine Widerlegung der Religion gehalten. Darwin selbst war eine solche Vorstellung übrigens ganz fremd.

Als eine Widerlegung des Schöpfungsglaubens kann die Vorstellung nur dann genommen werden, wenn man zugleich den Anspruch an die biblischen Schöpfungsberichte hätte, ein naturwissenschaftlich zutreffendes Bild zu vermitteln – wohlgemerkt eines, dass dem Wissensstand unserer Tage entspricht.

Nun, Kurzschlüsse lauern offenbar überall und unterlaufen vermutlich einem jeden von uns hier und da. Und damit zurück zum Ausgangspunkt. Wir wollten ja nicht von einem speziellen Konflikt mit speziellen kulturhistorischen – und da zumeist amerikanischen – Wurzeln sprechen, sondern von einer Unterströmung der Religion, zu deren Illustration die Trauerrede für einen verblichenen Astrophysiker hatte herhalten müssen.

Eine Szene zu diesem Thema bietet auch Daniel Kehlmann in seinem Roman „Die Vermessung der Welt“. Das Buch handelt von Karl Friedrich Gauß, dem Göttinger Mathematiker, und Alexander von Humboldt, dem weitgereisten Forscher und Entdecker. Darin treffen wir Gauß als Schüler in einem Internat an, wo sich folgendes Gespräch ergibt:

Beim Mittagessen fragte ihn der Pastor, wie es in der Schule gehe.
Leidlich antwortete er.
Der Pastor fragte, ob ihm das Lernen schwer falle.
Er zog die Nase hoch und schüttelte den Kopf.
Hüte dich, sagte der Pastor.
Gauß sah überrascht auf.
Der Pastor blickte ihn streng an. Stolz sei eine Todsünde!
Gauß nickte.
Das solle er nie vergessen, sagte der Pastor. Sein Leben lang nicht. Wie klug man auch sei, man habe demütig zu bleiben.
Warum?
Der Pastor bat um Verzeihung. Er habe wohl falsch verstanden.
Nichts, sagte Gauß, gar nichts.
Doch, sagte der Pastor, er wolle das hören.
Er meine es rein theologisch, sagte Gauß. Gott habe einen geschaffen, wie man sei, dann aber solle man sich ständig bei ihm dafür entschuldigen. Logisch sei das nicht.
(Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005)

Logisch ist das auch nicht, aber vielleicht Ausdruck jener Unterströmung, über die wir eingangs sprachen. Wissen, eigene Stärke und gar Reichtum gelten darin als verdächtig. Ob sie in diesen Verdacht auch durch eigene Schuld geraten sind, kann hier dahingestellt bleiben. Ganz von der Hand zu weisen ist der Gedanke nicht. Stärke und Reichtum machen gewiss leicht übermütig. Aber wirkliche Weisheit wird auch immer um die Grenzen des Machbaren wissen und wissen wollen.

Anderer Ort als bei Gauß, auch andere Zeit. Eine hämatologisch-onkologische Station einer Universitätsklinik. Auf den Stationen hier liegen nahezu ausschließlich Menschen mit lebensbedrohlichen Erkrankungen. Viele von ihnen würden, wären sie auf gleiche Weise vor zehn oder gar zwanzig Jahren erkrankt, schon nicht mehr am Leben. Das Wissen über die Funktionsweise der Zellen, die aus dem Knochenmark kommen, die Blutbildung und in gewisser Weise auch das Immunsystem steuern hat sich in diesen Jahren um ein Vielfaches vermehrt.

Etliche von denen, die hier liegen können heute geheilt werden. Für viele kann man immerhin noch einige Zeit gewinnen. Und für manche ist der Zeitpunkt gekommen, da man medizinisch nahezu nichts mehr für sie tun kann.

Den rechten Zeitpunkt dafür zu finden, sich als Arzt aus einer aggressiven Therapie zurück zu ziehen, sich und gegebenenfalls auch dem Patienten gegenüber einzugestehen, dass man mit seiner Weisheit am Ende ist, ist nicht leicht. Aber es ist unter den Ärzten nicht einer, der das nicht wüsste, dass dieser Moment kommt, im Klinikalltag und eines Tages auch einmal für jeden von uns.

Was sagt das über die medizinische Kunst? Dass sie Grenzen hat, ganz ohne Zweifel. Aber was bedeutet das für die Betrachtung dieser Kunst und Wissenschaft? Doch wohl nicht, dass sie verächtlich wäre, sondern eben begrenzt. Und das gilt wohl für so ziemlich alles, was wir zustande bringen können. Irgendwann ist es zuende. Wie stark und gesund wir uns auch jetzt fühlen mögen: es kann damit so schnell vorbei sein, und irgendwann wird es auch vorbei sein.

Mit dem Reichtum verhält es sich nicht anders. Es können Situationen eintreten, da ein Vermögen schneller dahinschmilzt, als man es glauben möchte. Oder es treten Situationen ein, in denen einem ein vorhandenes Vermögen nichts mehr nützt. Auf hämatologisch-onkologischen Stationen können alle drei Niedergänge ineinander fließen.

Wer sein Selbstbild allein aus Weisheit, Kraft und Reichtum gewinnt, dem bleibt dann freilich nichts mehr. So gesehen ist es ein Gebot der Klugheit, allem Endlichen mit diesem Bewusstsein zu begegnen – eben dass es endlich ist nicht, dass Weisheit, Kraft oder Wohlstand verächtlich zu machen sind. Schon gar nicht, dass ihr jeweiliges Gegenteil als irgendwie erstrebenswert zu gelten hätte: geistige und körperliche Schwachheit sind Mängel, die zu bedauern und – wo durch eigenes Verschulden entstanden – sogar zu tadeln sind. Und Armut ist ein höchst unerfreulicher Zustand, der als purer Mangel natürlich noch keine Gottesnähe herstellt.

Diesem Kurzschluss hat der Prophet Jeremia vor gut zweieinhalb Jahrtausenden wohl kaum das Wort reden wollen. Mitten im großen – oder sich mindestens andeutenden –Zusammenbruch des Weltsystems im vorderen Orient und des Staates Juda im Besonderen stand deutlich genug vor Augen wie unerfreulich das alles ist. Macht und Einfluss sind schnell dahin, Vermögenswerte in ungeahntem Ausmaß können mir nichts, dir nichts zerstört sein. Im allgemeinen Chaos ist man mit seiner Weisheit bald am Ende.

Nichts lag jedoch ferner als Armut, Machtlosigkeit oder gar Dumpfheit plötzlich für erstrebenswerte Güter zu halten. Stattdessen geht es um die Seelenkräfte, denen auch in einer solchen Situation der Zustrom nicht gekappt ist. Und da macht Jeremia in der bedrängenden Erfahrung, dass es größere Mächte gibt als mich, darauf aufmerksam, dass eine wiederum noch größere Macht auf meiner Seite sein kann – oder gar in mir selbst entdeckt sein will: Gott zu kennen.

Und wie der Schöpfer aus dem Chaos eine Welt erschaffen hat, so sollen die, die Jeremias Rede erreicht, diese Schöpferkraft in sich entdecken können. Dem Chaos des Zusammenbruchs ein Stück Lebensgarten abtrotzen. So wie es unsere Eltern und Großeltern nach dem Krieg getan haben.

Nach dem 13. Februar 1945, vor einundsechzig Jahren also, haben Dresdnerinnen und Dresdner versucht, die ihren wiederzufinden. Und wenn sie einen gefunden hatten, der noch lebte, dann suchte man sich in dem, was noch stand, ein Fleckchen zum wohnen. Gärten wurden zwischen den Trümmergrundstücken angelegt, wo man das Nötigste im Frühjahr zu pflanzen begann, damit man für sich und die Seinen zu essen hatte.

Wer konnte hatte eine Ziege oder ein Schwein hinterm Haus. Bald wurden um die Ruine der Frauenkirche herum und auf dem enttrümmerten Neumarkt Schafe geweidet. Und gleichzeitig begannen andere, die Ruine der Frauenkirche zu sichern. Wenigstens die Reste wollten sie vor dem Verschwinden bewahren und haben damit einen der Grundsteine dafür gelegt, dass die Kirche nun wieder hat aufgebaut werden können.

Mit Wissen und Klugheit, zäher Stärke und nicht zuletzt unter Einsatz ihrer Vermögen haben alte und neue Dresdner und Menschen in aller Welt am Ende den Wiederaufbau der zerstörten Frauenkirche bewerkstelligt. In ihren Mauern ist sozusagen die Erfahrung gespeichert, dass Zusammenbruch, Schwäche und Armut keine Endstation bedeuten. Wer so darnieder ist, der muss es nicht auf immer bleiben. Wer aber Kraft und Vermögen hat, der kann die beglückende Erfahrung machen, es damit dem Schöpfer nachzutun und dem Chaos Gärten des Lebens abzutrotzen. Klugheit und Wissen kann man zu dem Unternehmen gar nicht genug aufbieten.

Das ist doch wohl auch der Hauptwärmestrom der jüdisch-christlichen Religion: dass der Schöpfer seinen Geschöpfen dieses Vermögen vermacht hat, klug zu werden, Einfluss zu gewinnen und Welt zu gestalten. Und wo es gelingt, einander nicht aus den Augen zu verlieren und recht und Gerechtigkeit als ebensolche Aufgaben der Gestaltung zu begreifen, da ist auch an dem Wohlstand, der daraus entsteht nichts auszusetzen. Es kann vielmehr beglückend sein, ihn auch wiederum einzusetzen. Für die Dresdner Frauenkirche haben es viele getan. An diesem Bild der Weisheit, der Stärke und des Reichtums hätte vielleicht auch Jeremia seine Freude gehabt.

Amen

Ulrich Braun, Pastor
derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Projekt Medizin- und Bioethik am Universitätsklinikum in Dresden
Ulrich.Braun@uniklinikum-dresden.de


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